Zeitkapseln – Phönix in 3D
2. September 2017
In dieser kleinen Stadt – kaum zu glauben – seien schon alle gewesen: Römer, Spanier, Holländer, Schweden, Franzosen, Preußen, Briten, Amerikaner… Als Gründer, als Eroberer, als Konkurrenten, als Krieger, als Rachsüchtige. Am Ende lag die Stadt am Boden. Vollkommen flach.
Nach meiner virtuellen Reise in die Geschichte von Jülich reise ich jetzt analog. Um zu forschen.
In Jülich gähnt das Präsens vor leeren Läden, lässt sich von einem Hund durch die Straßen zerren, trinkt Tee in nostalgischen Cafés, schlägt die Zeit mit Ankömmlingen am Bahnhof tot.
Vom Perfekt spricht in Jülich keiner. In der Vergangenheit lag die Stadt im Koma. Sie war fast völlig zerstört. Sie sollte ein Mahnmal werden. Eine Abschreckdame für die Zukunft. Doch sie stand auf und erfand ihr Futur. Nun gehen alle wieder hin: zum Phönix aus der Asche, nach Jülich. Zum Forschen.
Landsmann
Am Rande der Stadt, mitten im Wald, wächst ein Zauberriese, entworfen von den klügsten Köpfen der Welt: „das Forschungszentrum“.
Auf dem Weg dorthin warte ich mit 15 anderen Pendlern auf den Bus. Mein Blick wandert zwischen der im Schatten liegenden Zuckerfabrik und einem hochgewachsenen Mann im blauen Sakko mit dichtem, dunklen Haar, der nervös auf seine Armbanduhr schaut.
Er verstehe es nicht, wo bleibe der Bus, wo sei er schon wieder stecken geblieben, fragt er nervös, als sich unsere Blicke kreuzen. Sein Akzent macht mich neugierig. Ich hake nach: ob er jeden Tag mit dem Bus fahre, frage ich. Ja, er forsche hier seit Monaten mit einem Team internationaler Wissenschaftler, Spitzenmediziner, das „heiße Thema“, das ihn seit acht Jahren um die Welt treibe: „Demenz!“
Seit er seinen Master in Medizin in Skopje abgeschlossen hat, gäbe es für ihn nichts anderes. Ich lächle, finde gut, dass er, der Arzt aus Skopje, mein Landsmann, pardon, mein Ex-Landsmann gegen das Vergessen kämpft.
„Das kann nicht nur der Balkan gut gebrauchen“, sage ich und stelle mich vor:
„Ich komme aus Sarajevo!“
„Dejan“, sagt er und gibt mir die Hand. Er freut sich nicht weniger als ich, das Gespräch in „unserer“ noch gemeinsamen, inzwischen „toten“ Sprache, in Serbokroatisch, fortsetzen zu können. Sechs Jahre lang habe Dejan in Aachen an der Uni Klinik geforscht, jetzt warte auf ihn ein neuer Job in England. Morgen früh fliege er für zwei Tage endlich einmal wieder nach Skopje. Seine „Familienbande“ könne es nicht abwarten.
Als wir nach sieben Minuten aus dem Bus, der wegen Umbauten auf dem Gelände herum kreist, aussteigen, sind wir schon fast Freunde, echte Balkanverwandte.
Futur
An der Pforte werde ich registriert und dann einem jungen Doktoranden aus Erkelenz übergeben, der mir die nächsten zwei Stunden gehört. Sebastian von Helden, mein persönlicher Führer, erforscht in Jülich die durchsichtige Keramik, erfahre ich, als wir auf dem Fahrrad über das riesige Gelände des Jülicher Forschungscampus kurven.
In einem Crashkurs steige ich in die aktuelle Forschung in Werkstoffmechanik ein: transparente Keramik, ein kostbarer Stoff für Sensoren. Der Ultraviolette-Rote-Bereich sei bislang nur Militärdomäne gewesen. Die „teure Ware“ solle er mit dem Team, das sein Professor-Vater Singheißer um sich gesammelt hat, für Zivilzwecke salonfähig machen. Kostengünstig. Neben ihm, dem einzigen Deutschen unter den Doktoranden, seien in der „Crew“ noch ein Japaner, ein Iraner, zwei Chinesen, zwei Brasilianer…
Bei der Zentralbibliothek, die mit einer 340 m2 schrägen Solarplatte als Dach für Forschungszwecke geschmückt worden war und zu einer Art Dauerinstallation wurde, spüre ich Durst.
Das Wetter ist sonnig, nicht zu heiß, ideal für eine Tasse Kaffee am See. Der Doktorand verwirft seine Pläne und folgt mir in das „Seecasino“ des Forschungszentrums, eine Art Kantine. Der Campus ist riesig. Auf 2, 2 km2 seien die Labore zwischen den Bäumen „wie Pilze nach dem Regen gewachsen“, erklärt mir der junge Doktorand, „in alle High-Tech-Richtungen“.
In Jülich rast die Zukunft in den Bereichen Energie, Umwelt, Medizin schneller als ein ICE.
Superstars & Sündenböcke
Begeistert ist der junge Wissenschaftler aus Erkelenz auch vom „SAPHIR„, der Atmosphäresimulationskammer mit reinem Sauerstoff, in dem Spurenelemente wie Silizium im Nano-Bereich untersucht werden. Die Wissenschaftler beobachten dort die chemischen Reaktionen von UV-Licht.
Doch das „aufregendste Thema“ auf dem Gelände der Superhirne sei eine Wunderpflanze, die schnell und überall wachse und dabei Kohlendioxid verschlucke: „die Alge als ultimative Energiealternative zu Kerosin!“ Gelänge es den Wissenschaftlern mit Algen die schmutzigen Standardstoffe Öl und Gas zu ersetzen, könne man mit „einer Klappe zwei Fliegen schlagen“: die Umwelt retten und Jülich endlich als „Heldin“ in der Geschichte verewigen.
In Jülich, dem Mekka des High-Tech, sei auch das Biomolekularzentrum mit der Gehirnerforschung „ganz vorne in der Welt“. Das Gehirn sei ein noch immer „unentdecktes Feld“, voller Rätsel, reize die Medizinforscher überall auf der ganzen Welt.
Das Besondere aber in Jülich sei die interdisziplinäre Gehirn-Forschung, die Biologie, Medizin, Informations- und Computerforschung und die Fortschritte in der Künstlichen Intelligenz vereine und sich „gegenseitig inspirieren lasse“.
Zum Schluss stehen wir vor zwei Rentnern: den beiden übrig gebliebenen Kern-Reaktoren im Ruhestand. „Merlin“, der älteste Bruder, mit dem alles hier in Jülich begann, sei schon lange unter die Erde gebracht worden. Die jüngeren „Dido“ und „Große Heiße Zellen“, der eine in Form einer Mosche, der andere in Form einer Kaffeekanne blicken wie Sündenböcke auf uns. Abgeriegelt mit doppeltem Maschendraht. Ob das die restlichen Strahlungen verhindern wird…
Der junge Doktorand, der mich durch das Gelände führt, weiß auch nicht, wo der Atomabfall der Jahrzehnte langen radioaktiven Forschungen landen solle. Das Zwischenlager mit den dicken Betonmauern, eine Art temporärer Friedhof, sei noch im Betrieb. Die Pioniere der Zukunft von Jülich, einst fortschrittlich, kämen langsam ins Alter, zum alten Eisen…
Am Anfang seiner Forschung in Jülich sei er, der Doktorand aus Erkelenz, „gesundheitlich gecheckt“ worden, so wie jeder anderer, der hier ankomme. Wenn er seine Forschung beendet habe, werde er wieder gecheckt. „Erst Vorsorge- dann Sicherheitsmaßnahme…“
Plusquamperfekt, die Zitadelle…
In Jülich glänzt das Plusquamperfekt gut bewahrt unter der Erde, unsichtbar für die Überirdischen und Normalsterblichen, glorreich wie die imposante Festung mitten in der Stadt: die Zitadelle.
Das Monument der Vergangenheit sei nun die Zukunft für die Rentner aus dem Forschungszentrum, scherzt Wolfgang Barkhoff. Kurz bevor er die Touristenführungen ehrenamtlich in der Zitadelle übernahm, war er Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Aachen Abteilung Jülich und habe lange als Maschinenbauingenieur mit dem Jülicher Forschungszentrum kooperiert. Nun habe er, der gebürtige Hamburger, die Ehre mir die Jülicher Geschichte in den Katakomben zu präsentieren: von den Römern, den Gründern, über die Holländer und Spanier, die im Mittelalter Erzfeinde gewesen seien bis zu den Preußen … Achtzig Jahre lang hätten sich die Holländer und Spanier bekriegt. Auch wegen Jülich. Dann waren da noch die Dänen, Schweden, Franzosen mit ihrem Napoleon, Preußen, Fürsten, Kaiser, Könige.
Doch einer hat sich hier einen besonderen Platzt erkämpft, der Renaissancefürst Wilhelm V., der als „reicher Fürst“ die Zitadelle bauen ließ und sich dafür bis zum Hals verschuldet habe.
Ab hier bleibe ich mit der Jülicher Geschichte alleine. Der Hamburger wurde für eine andere Zitadellen-Aufgabe gerufen. Eine Hochzeit steht an. Er steigt die Treppe hoch, ich schaue genauer hinter die Kulissen.
Die ganze Macht der Feudalherren basiert eigentlich auf sorgfältig geplante und arrangierte Hochzeiten, um sich politisch zu verketten und die Territorien europaweit zu sichern. Mit meiner Analyse gehe ich weiter und traue mich nun zu behaupten, dass die heutige EU-Überlegenheit politisch, wirtschaftlich und kulturell genau auf dieser Hochzeitsklüngelei basiert. Der Jülicher Held Wilhelm V. hat z.B. seine erste Frau, eine adelige Französin aus politischen Gründen geheiratet und kurz danach aus den gleichen Gründen wieder verlassen. Schlecht kalkuliert. Diese Ehe hat der Papst – kaum zu glauben – eigenhändig annulliert, um dann die neue Ehe mit einer Habsburgerin, auch politische motiviert, jungfräulich zu segnen. Das mit „bis uns der Tod scheidet“ scheint bei Katholiken aus dieser Zeit nur für „Normalsterbliche“ gegolten zu haben.
Europa und der Vatikan von damals mit ihren arrangierten Zwangsehen als Vorbilder für die armen und verspäteten Nationen im Nahen Osten heute?
Perfekt
Angefixt von den Hochzeits-Geschichten und frisch gerüstet mit einer Fotokamera steige ich am nächsten Tag wieder in die Katakombe. Diesmal mit Helmuth Gröber, einem „Exoten“, einem geborenen Jülicher. Er, Betriebswirt, habe fast 40 Jahre lang im Forschungszentrum in der Verwaltung gearbeitet. Seit vier Jahren nun ist auch er ehrenamtlicher Zitadellen-Führer. Er liebe diese 500 Jahre „alte Dame“, die prächtig, viereckig mitten in der Stadt von einer glorreichen Geschichte zeuge.
Heute sei Jülich wieder gut auf den Beinen, meint der Patriot. Wissenschaftler aus 56 Nationen der Welt forschen hier für die Zukunft. Die Vergangenheit, Nachkriegszeit, kenne er nur aus den Erzählungen seines Vaters. Engländer und Amerikaner hätten in Jülich gegen Hitler gewütet und Rache ausgeübt. Als sein Vater nach dem Krieg aus der französischen Gefangenschaft nach Jülich zurückkam, habe er den Weg nach Hause nicht mehr finden können. Alles lag in Trümmern. Ja, aus Geschichte solle man lernen. Aber immer mit dem Blick auf die Zukunft.
Chinesen
Nun beglückt die Zitadelle unter und über der Erde die Kunst zweier Chinesen. „China-German-Story“, ein China-Deutschland-Alltagsvergleich als Thema des chinesischen Photografen Steve Zhao: deutsche Ordnung und Korrektheit gegen chinesischen Humor und Improvisation.
Und im Garten der Zitadelle herrschen bis Ende November die riesigen Rostskulpturen von Ren Rong, Künstler aus Peking, der seit dreißig Jahren in Bonn lebt und überall zu Hause sei oder umgekehrt wie es in seinem Katalog steht: „die ganze Welt ist in seinem Schaffen daheim: in seine Eisenskulpturen fließen Symbole östlicher und westlicher Kulturen ein… ein Zeichen der Hoffnung und des Friedens…“ Er zaubert aus dem schweren Rost-Material fein ziselierte, schwebende Traumsymbole so zart wie Brüsseler Spitze.
Präsens
Jülich, dreiunddreißig Tausend Einwohner, eine Provinzstadt. Vier Tage, ein paar Runden in der Fußgängerzone und schon sammelt sich mein Stammtisch um mich herum. Ein dürrer Junge mit schwarzen Käppi und Hängehose, an jeder Seite zwei Mädchen und einer halb ausgetrunkenen Plastikflasche Spezi in der Hand, zwinkert mir zu als ich ihn beim Vorbeigehen zum zweiten Mal genauer anschaue: „Beim dritten Mal geben sie uns einen aus…“ sagt er und bringt die Mädels zum Kichern.
An dem stillen Alltag und den leeren Läden sei das „Internet schuldig“ diagnostiziert eine gesprächige Dame im „Infocenter“. Alle kauften heute virtuell, bei Amazon. Das mache Jülich arm und die Amerikaner reich. Sie täte es ja auch, inzwischen. Leider. Ihr Geld sei knapp und über das Netz sei alles wirklich viel günstiger.
Jülich, jung, alt, mächtig, gebrechlich, lebt parallel. Gleichwertig. In 3 D. Drei Zeiten. Drei Welten. Drei Dimensionen.