A45 Eindrücke

THE READER IS PRESENT

Ich glaube die Geschichte von Michael Ende „Das Gefängnis der Freiheit“ habe ich noch als Kind in Südwestfalen gelesen. Sie ist mir nie aus dem Kopf gegangen. Der Erzähler befindet sich darin in einem Raum voller Türen, in dem, so heißt es, er die absolute Freiheit besitzt. Dort kann er sich frei entscheiden, durch welche Tür er gehen möchte. Nun scheint es ihm plötzlich unmöglich, eine der Türen frei zu wählen. Erst als der Erzähler erkennt, dass es keinen Unterschied macht, durch welche Tür er geht, da hinter jeder von ihnen ein ihm unbekanntes Schicksal liegt, verschwinden die Türen und er ist frei. Letztlich, so erzählt er, hat nur der die freie Wahl, der genau die Folgen seiner Entscheidung kennt und das ist unmöglich. Und so ist der, der sich dem eigenen Schicksal fügt, ein freier Mensch. Viele der Beiträge hier vermitteln das Gefühl von Freiheit in dieser Region, vermischt mit dem Gedanken an eine ungewisse Zukunft.

 

Die Heimat neu vermessen von Christoph

Ich bin viel auf den Autobahnen der Republik und darüber hinaus unterwegs. Die vollen Straßen und die vielen Baustellen nerven dabei sehr. Aber jedesmal, wenn ich auf die A45 biege – egal wie weit noch von der Heimat Freudenberg entfernt – ob im Norden bei Dortmund („jetzt sind's nur noch 100km, die sitz ich locker ab“), oder im Süden am Seligenstädter Dreieck („astrein, Bahn meistens leer, die 160km schaffe ich mit Vollgas easy in 1 Std.“) ist die Freude groß. A45 = mein ganz persönliches Synonym für 'Heimat'. Egal, ob es mittlerweile mehr als 3 Dutzend Baustellen und Brückenerneuerungen gibt, oder – wie gerade gestern – wieder ein LKW bei Dillenburg umgekippt ist und eine Vollsperrung zur Folge hat: Selbst die Umleitung durch die heimatlichen Berge macht im Allrad-getriebenen Audi noch Spaß. Aber bitte hier und nur hier, auf keiner anderen Autobahn und in keiner anderen Region empfinde ich so. Geht das wohl dem Ulmer auf der A7 oder dem Oberhausener auf der A3 genauso wie mir?

Sicher, denn das gleiche Gefühl stellt sich ein, wenn ich im kleineren Mikrokosmos mit meinem Cannondale MTB im Wildenburger Land vor der Haustüre unterwegs bin. Jeder Weg und jeder Pfad wird erkundet und bindet mich mental immer stärker an dieses schöne Fleckchen Erde, sofern man sich gut fühlt und Land und Leute mag, wo man unterwegs ist. Die Sieger- und Sauerländer (bin selbst einer aus Elspe) sind ja speziell. Wohl dem, der dies weiß und verinnerlicht. Der kann den 'Locals' nicht böse sein, wenn man freundlich nach dem Weg fragt , oder manchmal einen Unbekannten vom Rad aus auch nur freundlich grüßt und als Antwort teils rüde angeblufft wird – wenn überhaupt eine Antwort kommt. Dann fühle ich ich mich wieder zu Hause.

Gedanken zu Postcorona schreibt Anja

A45: Schon beim Erwähnen stehe ich gefühlt im Stau, in einer der vielen, vielen Baustellen, Normalerweise ist das immer so …!!

Aber jetzt zu Coronazeiten erlebe ich die A45 plötzlich wunderbar leer und das Gefühl im Sonnenschein über die unendlich vielen Brücken mit den schönen Landschaften fahren zu dürfen, stimmt mich versöhnlich mit der ganzen Region. Wir können uns glücklich schätzen mit unseren großen Gärten und der schönen Natur. Positiv Abstand voneinander halten, das Leben umarmen 😎, ist hier momentan nicht schwer.

Und plötzlich kommt dann diese Dankbarkeit in mir hoch, dass ich nicht in einer kleinen Stadtwohnung fristen muss und mich frei bewegen kann…

Ich wünsche mir, dass ich dieses Gefühl noch lange in mir tragen darf, auch nach Coronazeiten, hoffentlich …

 

Für Sonja Sternitzke aus Iserlohn spielt auch die Natur und das Gefühl der Freiheit eine große Rolle:

Heimat ist für mich das Wandern, Gehen, Laufen, Atmen in den Wäldern unserer Waldstadt. Gerade in diesen Zeiten entdecke ich bei jedem Spaziergang neue Wege, kleine Fluchten, neue Ausblicke, erlebe intensive Gedanken oder denke auch mühelos an nichts. Beobachte genauer, fühle mich geerdet und bin trotz dieser Krise frei.

Die waldreiche Umgebung berührt mich immer wieder neu und inspiriert …

der laut der amsel berührt spitzen von grün. steigt empor. hinterher fliegt mein herz. keine möglichkeit zu entfliehen

We’ll meet again von Sabine Hinterberger

Bald.
Bald wieder.
Bald wieder werden wir uns treffen können. Wir stellen, den gelben, den blauen, den roten und den grünen Stuhl nebeneinander aufs Meer.
Wir schweigen, nachdem wir uns alle lange in den Arm genommen haben. Eine gefühlte Ewigkeit haben wir uns nicht gesehen. Wir schauen weiter aufs Meer und Roland lässt Scrabbies Hand nicht mehr los, Scrabbie seine Hand auch nicht. Sie sind endlich wieder zusammen.
Scrabbie, Roland, Max und Henni. Wir sind endlich wieder zusammen.
Bald.
Bald wieder.
Bald wieder werden wir uns treffen.
Ich freue mich auf euch und darauf.

Hartmut erzählt von Sportgeschäften und Corona in dieser Zeit,

„Meine Frau und ich, wenige Tage vor dem 60. und wenige Tage nach dem 61.Geburtstag, radelten heute analog (ohne E-Motor-Unterstützung) von Olsberg nach Usseln über sauerländer und upländer Höhen. Das Ziel war ein kleines Sportgeschäft. Meine Frau liebt Sportgeschäfte. In dieser Corona-Zeit haben wir die letzte Chance vor der Maskenpflicht ab Montag genutzt, noch einmal ohne Gesichtsmaske shoppen zu können. Zum Glück waren nicht viele Kunden im Geschäft. Enttäuscht waren wir darüber, dass diese nicht das Bedürfnis hatten, den vorgeschriebenen Mindestabstand einzuhalten und wir darauf angewiesen waren, allein darauf zu achten.“

 

Auch diese Frau macht sich wichtige Gedanken, zu dem was die Region heute ist und uns nun erwartet

Ist die Luft wieder rein?

Eine Freundin, die vor gefühlten Urzeiten das Siegerland verlies, um in einer weltoffenen und quirligen Großstadt zu leben, sagte mehr als einmal: „Wenn ich nachhause fahre, dann habe ich das Gefühl, ich komme unter eine Dunstglocke“. So ganz genau weiß ich den Wortlaut nicht mehr, aber die Dunstglocke beschäftigt mich seitdem. Seitdem umfasst gut und gerne 25 Jahre. Damals rührte diese Äußerung in mir was an, sie traf ins Schwarze – wobei ich nur eine vage Ahnung von der Beschaffenheit, Größe und Hintergrund dieses „Schwarzen“ hatte. Bei mir löste der Begriff Dunstglocke auch direkt eine körperliche Erinnerung aus. Als Kind wurde ich bisweilen von asthmatischen Anfällen geplagt. Den Zustand diese Anfälle empfand ich selbst immer so also hätte jemand eine Glasglocke über mich gestülpt, die mir die Luft zum Atmen nahm und dieses beängstigende Gefühl der Enge erzeugte. Der Geist vergisst und verdrängt, der Körper vergisst niemals. Glocken, egal ob aus Dunst oder Glas, scheinen die Umwelt zusammenzuschnüren und erdrückend wirken zu lassen. Also könnte die Dunstglocke auch einfach für dieVersinnbildlichung heimatlicher Enge stehen, eben dieser Enge, die junge Menschen spüren, wenn sie dem Ort ihrer Kindheit entwachsen sind.

Möglicherweise könnte die Dunstglocke auch sehr konkret sein. Denn die Luft im Siegerland ist nicht so rein wie sie eigentlich sein sollte oder sein müsste bei all dem Grün. Mir persönlich verschlagen bisweilen die bodennahen Ozonwerte den Atem, ich spüre es direkt, wenn die Luft schlecht wird. Aber Gefühle, Gespür und Intuition sind irrelevant – denn alles muss konkret bewiesen und belegt werden, alles muss einen Sinn haben, muss zu irgendetwas nütze und zielgerichtet sein. Gefühle und Intuition sind nicht greifbar, sind Lichtgestalten, darüber nachzudenken und zu philosophieren ist Zeitvergeudung, führt zu nichts, ist zu transzendent. Bloß nicht zu viel Spiritualität und Muse zulassen, das lenkt ab vom eigentlich Tun. Zeit ist schließlich Geld und jeder ist seines Glückes Schmied, wenn du nicht zurecht kommst, dann bist du selbst schuld, es nicht erlaubt, ein nur so „zu sein“.

Ja, die Luft ist manchmal recht miefig und abgestanden in der Heimat, das ist einem Blick auf die interaktive Luftwertekarte des Bundesamtes für Umweltschutz tatsächlich klar zu belegen.

Leider auch wieder so ein sehr pragmatischer und beweisschwangerer Erklärungsansatz für die Dunstglocke. Aber so einfach ist dieser Fall nicht.

Die feinstofflichen Teilchen, aus denen sich die Dunstglocke zusammensetzt, haben sich über Jahrhunderte herausgebildet und sind von verschiedener Beschaffenheit und Natur. Sie setzen sich zusammen aus der spezifischen historischen Entwicklung der Region, aus religiösen Vorstellungen, aus dem eigenen familiären und sozialen Umfeld, aus rein persönlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen. Jeder Region hat eine eigene, eine andere Dunstglocke und entweder man kommt damit mehr oder weniger zurecht oder man bekommt eben keine Luft. Alternativ kann man sich eine unsichtbare Atemschutzmaske anlegen und dabei hinnehmen, dass die Stimme dadurch gedämpft wird.

Zum Glück ist nichts von Dauer und hat nichts Bestand, auch Dunstglocken nicht: Unsere Dunstglocke ist in den letzten Jahrzehnten sicht- und merkbar von etlichen Schadstoffen gereinigt worden. Umfangreiche Umdenkprozesse, Zuzügler und eine neue Generation haben für frischen Wind und damit für frische Luft in der Heimat gesorgt. Viele reflektierte Menschen haben daran mitgearbeitet, die Dunstglocke zu klären. Sie verweht…

Und ich hoffe, dass sich bei uns keine neue Dunstglocke aufbaut, die das Klima hier vergiftet. Die Gefahr ist groß, atmen wir darum tief durch.

 

Schließlich noch die Erinnerung einer Leserin zu der A45, bevor es Mitternacht schlägt und die „Reader ist present“ Zeit schon wieder vorbei ist:

Wenn ich mich recht erinnere, bin ich vor 30 Jahren zum ersten Mal über die A45 gefahren. Das war kurz nachdem mir von der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze (ZVS) ein Studienplatz in Siegen zugewiesen worden war. Zuerst musste ich übrigens nachschauen, wo dieses Siegen überhaupt liegt und wie ich dahin komme. Die Enttäuschung war groß, Siegen hat mein Herz bis heute nicht richtig erobern können. Vielleicht liegen die Mentalitäten von Rheinländern und Westfalen doch zu weit auseinander.

Das Kürzel der ZVS mutierte unter uns (auswärtigen) Studenten schnell zu der Bezeichnung „Zwangsverschickung Siegen“, der zweite Schnack, den wir uns erlaubten hieß folgerichtig „Frage: Was ist das schönste an Siegen? Antwort: Die Autobahn nach Köln“. Und das war A 45 dann auch für mich. Ein Zubringer, der mich notwendig nach Siegen führte, um mein Studium anzutreten. Fluchtweg, wenn die Vorlesungswoche vorbei war und ich mit dem Auto wieder Richtung Heimat davonbrausen konnte. Irgendwann bin ich dann in Siegen hängen geblieben, Mann kennengelernt, Kinder bekommen, Arbeitsplatz …. Heimat ist es mir trotzdem nicht geworden. Heute ärgern mich an der Autobahn hauptsächlich die Baustellen, sie hindern mich daran, schnell an einen Ort zu gelangen, der mir mehr am Herzen liegt.

Also als Zubringer nah Köln, ins Rheinland, Zubringer in den Süden, dort zumeist nach München. Dabei vermeide ich es, über die sehr hohe Talbrücke Eiserfeld zu fahren, das ist mir unheimlich. Lieber ein paar Kilometer über die Landstraße und dann erst drauf. Vermutlich ist diese Autobahn für das Siegerland und Sauerland ein Segen. Anbindung an große Städte wie Frankfurt oder Dortmund und der Anschluss an die A4, meine Fluchtwege eben.

 

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