Die Kirche

Vier Jahre. Das ist für mich immer so die Zeit gewesen. Die Zeit, die es braucht, um anzukommen. Vier Jahre, dann bin ich da.
Wir sind da. Das ist der Ortskern.
Wir sind jetzt einmal durch den hinteren Teil.
Da drüben die Kirche.
Könnten dort zurück, dann da hoch und rüber?
Und das war’s dann eigentlich schon.

Normale Fahrräder gibt’s hier auch gar nicht

Das mit den vier Jahren? Das hab ich vor allem gemerkt, als ich mal irgendwo hin zurückgekehrt bin. Wenn man nur kurz da war, kommt man auch in Zukunft nur zu Besuch. Aber wenn man mal vier Jahre an einem Ort gelebt hat: Die Ecken, die Wege, gleich alles wieder da. Ist wie in alte Schuhe schlüpfen. Bequem, irgendwie schön. Vier Jahre also. Die Vier-Jahres-Regel.
Und ich bin ja erst ein Jahr hier.

Hier wohnen superviele Zugezogene. Klassische Vorstadtsiedlung. Die Leute wollen aus der Stadt raus, die wollen sich ihr Häuschen bauen. Und sie bauen. Diese Straße, die könnten wir entlanglaufen bis … Ewig. Das hört nicht auf. Wenn man hier nur mit dem Auto unterwegs ist, denkt man: Du. Lieber. Himmel. 
Haus an Haus an Haus an Haus an Haus. 
Dabei ist das nur eine Reihe, direkt dahinter liegt Feld. Zwischen den Mauern hindurch, dann ist man im Grünen. Wunderschön. Vielleicht fahre ich deshalb nicht so gerne Auto. 

Mit dem Fahrrad zur Arbeit? Nee, kaum machbar. Heißt ja nicht zum Spaß Bergisches Land! Normale Fahrräder gibt’s hier auch gar nicht. Wirklich! Man muss sie zumindest suchen. In den Läden haben sie nur noch E-Bikes. Aus guten Gründen, wenigstens für eine Flachlandschnecke wie mich. Aber letztens musste ich tatsächlich fragen: Sagen Sie, haben Sie auch normale Fahrräder? Ja, sagt der dann. Im ersten Stock.

Ist nicht so. Aber man denkt das halt.

Die Kirche jedenfalls. Die ist wirklich sehr schön. Ist mir gleich aufgefallen. Und sonst sind wir auch herzlich aufgenommen worden. Die Leute hier sehen sich da eher als Rheinländer. Die sind so: Ja, schön, dass du hier bist! Aber auch: Ist ja so schön hier! Also: Klar, dass du hier bist! So sind die. 
Und stimmt schon: Da geht so ein Riss durchs Bergische Land. Letztens sagt mein Nachbar, er war jetzt das erste Mal in Wuppertal. Der ist hier geboren und aufgewachsen und das ist kaum eine halbe Stunde entfernt. Aber, sagt er, warum soll ich da hin? 
Und klar, die Wuppertaler, die ich kenne, die bleiben auch da. Und ich kenne viele, ich hab dort ja gewohnt. Innenstadt, 5 Minuten zum Aldi, 5 Minuten zum Bahnhof. Dafür konnte ich nachts nie mit offenem Fenster schlafen, weil die besoffenen Kids dann den Berg runtergerollt sind. Und jeden Freitag türkische Hochzeit. Ist natürlich anders, natürlich auch schön, aber mit Ruhe war da nichts.
Und hier gehst du um die Ecke.
Und dann bist du im Wald.

Natürlich gibt’s im Wald keinen guten Kaffee. Das ist ja in der Stadt oft so ein Ding. Dass man den einen Laden dort findet, das Café, die Kneipe. Und dann sagt: Deswegen gefällt mir dieses Viertel jetzt am besten. Obwohl, wir haben da jetzt so eine Kneipe vor der Haustür … Die sieht von außen nicht aus, als ob die überhaupt offen wäre. Aber man hört: Da ist immer wer drin! Und irgendwie wirkt die so, dass man sich trotzdem nicht traut, rein zu gehen. Weil man denkt: Das darf nur jemand, der schon 30 Jahre hier lebt. Ist bestimmt nicht so. Aber man denkt das halt.
Wollen wir jetzt eigentlich noch die Kirche angucken?

Und apropos Wald. Und Kaffee, strenggenommen. Als wir noch recht neu waren, bin ich mal Kaffee holen gegangen. Wollte eigentlich nur zum Bäcker an der Kreuzung. Und dachte, da muss ich keinen Umweg machen, ich geh einfach direkt zwischen den Bäumen hindurch. Bin dann versehentlich über den ganzen Hang drüber, hab’s gar nicht gemerkt. Und stand gleich darauf im Nachbardorf. Das ist dann aber richtig Dorf. So mit Milchtankstelle und ein paar Bauernhöfen. Kaffee gab’s da nicht. Na, ist vielleicht auch nur eine Geschichte darüber, wie schlecht mein Orientierungssinn ist.

Hier ist ja schon freies Feld

Jedenfalls: Klar, eine gewisse Schwelle gab es schon. Aber mal ehrlich, wo gibt’s die nicht! Die Menschen schauen eben erstmal. Sind eben auch stolz auf ihr Dorf. Das war sogar neulich erst wieder in der Zeitung. Denn eigentlich sind ja längst alle Dörfer hier zu einem Ort zusammengefasst. Und trotzdem stand auf den Schildern immer nur der Dorfname. Das darf man so gar nicht. Jetzt mussten sie die ganzen Schilder ändern. Und es gibt viele, sag ich mal, die wissen noch, wie’s früher war. Die sind nicht so glücklich damit.
Vielleicht sind die immer in dieser Kneipe.

Weiter in diese Richtung liegt übrigens der große Friedhof. Und weiter oben gibt’s noch einen Begräbniswald. Und dann fangen die Villen an. Oder die großen Häuser. Die jedenfalls, wo es wichtig wird mit dem Blick. Da hat es neulich erst wieder Aufregung gegeben. Weil die Stadt, die wir ja jetzt sind, einen neuen Bebauungsplan verabschiedet hat, und da waren auch ein paar Flächen freigegeben, die manche Leute wohl lieber unbebaut gelassen hätten, und ich sag mal, das hat auch nicht allen gefallen, dass da jetzt vielleicht der Wert ihrer Immobilie gemindert wird. Weil man nicht mehr so weit in die Ferne gucken kann.

Die Leute gehen aber sicher nicht in die Kneipe vor meiner Haustür. Die fahren SUV. Wirklich, davon gibt’s hier viele. Und so sehr auf dem Land sind wir ja nun auch noch nicht. Obwohl: Manchmal sieht man einen SUV vor einem Haus parken und guckt über den Zaun, und dann sind da Hühner! Und letztens kamen mir da vorne Pferde entgegen, ich hab gedacht, die wollen zum Reitstall, aber sie sind dann in den Hauseingang abgebogen. Und das Haus sah wirklich überhaupt nicht aus, als ob da noch ein Pferdestall wäre!
Kommt vielleicht daher, dass es in der Region total üblich war, dass jeder sein Zubrot hatte. Historisch gesehen. Der eine Ziegen, der andere Schafe. Vielleicht ist das so eine Art unterbewusste Fortschreibung der Tradition. Auch wenn man heutzutage Eier bei REWE kaufen kann. Jetzt sind wir aber ein bisschen abgeschweift. Hier ist ja schon freies Feld. Wollen wir wieder zurück zur Kirche?

Pfannkuchen, 5 Euro 50

Es ist halt auch ein Durchfahrtsort. Also, für mich. Ich will da niemandem auf die Füße treten. Und sicherlich war das früher mal anders. Aber jetzt? Morgens um sieben ist mächtig was los, weil alle zur Arbeit oder die Kinder zur Schule fahren. Und abends kommen dann alle wieder. Und dazwischen: Joah.
Ich bin ja selbst in einer Vorstadt groß geworden.
Man hat alles da, was man braucht.
Aber was besonderes hat man nicht.
Vielleicht hab ich das aber auch noch nicht geknackt.
Obwohl, das hier? Das ist einer meiner Lieblingsorte. Wegen dem Imbiss. Ich weiß, ist komisch, ne? Aber als wir damals die Wohnung angeguckt haben, sind wir vorher hier essen gewesen, haben gesagt, wenn wir hier hinziehen, kommen wir öfter. Und das hat gestimmt. Richtig gutes Pad Thai. Und die Frittenbude da vorne, die macht sensationelles Hähnchen. Nur der Döner ist nicht so. Aber zwei gute Schnellimbisse? Mal ehrlich, das gibt’s auch nicht in jedem Szeneviertel, oder?

Ich hab eigentlich immer geträumt davon, mal in so einer ganz großen Stadt zu wohnen. Also, so ganz ganz groß. London vielleicht. War mir aber auch immer zu teuer. Und hier gibt es genau einen Penner, einen. Und alles trifft sich im Karnevalsverein. Klar, der Ort hat einen eigenen Karneval! Angeblich einen sehr guten. Ist allerdings noch nicht so mein Ding. Aber wer weiß?
Wenn man hier länger wohnt?
Vier Jahre vielleicht?
Wer weiß.

So, hier noch die Stufen, dann sind wir endlich an der Kirche. Ich find vor allem den Turm toll. Sieht man den überhaupt gut von hier? Und die Fenster. Ist das noch romanisch? Bin mir nicht sicher. Hab aber schon einen Vortrag drüber gehört. Sollen wir mal drum rum?
Man kann hier auch spenden, für eine neue Orgel. Da ist schon ganz schön was zusammengekommen. Wird aber auch überall gesammelt. Wir hatten neulich ein Gartenfest bei uns in der Siedlung, da stand auch eine Büchse dafür. Da hat mir übrigens ein anderer Nachbar erzählt, dass er mal drin war, in dieser Kneipe! Wie war’s, frag ich. Aber mehr hat er nicht erzählt. 
Die ist wirklich ein Phänomen. Das ganze Jahr steht dasselbe Schild draußen. Immer! Pfannkuchen, 5 Euro 50. Und ich denk jedes Mal, wie ich’s das erste Mal gesehen habe. Da war ich noch neu und dachte, boah, gleich geh ich die Gegend erkunden und mich mit Einheimischen anfreunden und so. Und dann ist man im Umzugssterss und die Wohnung wird nicht fertig und auf der Arbeit ist was los, und irgendwann könnte man nicht mehr reingehen und sagen: Ich bin neu hier! Weil, man müsste sagen: Ich bin schon ein Jahr hier, verdammt.
Jedenfalls hab ich gedacht, bei dem Sommerfest, nach zwei Weißwein: Ich trau mich jetzt rein. Vielleicht ist heute jemand nettes da drin, vielleicht ist heute der Tag! Aber dafür war das Wetter dann doch zu schön. So, jetzt sind wir wieder an der Kirchenpforte. Da kann man übrigens auch einen Blick reinwerfen. Wollen wir?

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