MOMUMENT Teil VII

SIEBEN
Ich sah auf die Anzeige auf meinem Armband. 2027. Die Zahl wackelte, als ich einen Finger darauf legte, dann swipte ich nach links. 2028, 2029, 2030, 2031, … 2050.

Ich stand immer noch auf der Brücke, aber es gab kein Wasser mehr darunter. Der Teich war soweit ausgetrocknet, dass nur noch ein kleiner Pfuhl übrig geblieben war. Immer noch stand eine Gruppe Hirsche am Ufer, einige von ihnen tranken aus dem brackig wirkenden Wasser. Auch ein paar Heidschnucken waren weiter hinten zwischen den Bäumen zu sehen. Die Kanada Gänse waren verschwunden. Stattdessen sah ich unzählige Kaninchen auf der Wiese. Ihr fast silbern glänzendes Fell schimmerte in der Sonne, nur Leucht-Kaninchen hatten so ein Fell. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, hatten sie sich noch nicht derart ausgebreitet. Ich erinnerte mich noch gut an die Debatte damals. Meine Tante hatte sich wahnsinnig über die Engstirnigkeit der Dülmener geärgert. Die Leucht-Kaninchen verhielten sich im Grunde genau wie ganz normale Wildkaninchen, nur dass sie sich schneller fortpflanzten und im Dunkeln leuchteten. Sie waren völlig harmlos. Trotzdem galten sie einigen als invasive und darum unerwünschte Art, oder sogar als unnatürlich. Dass auch das gemeine Wildkaninchen irgendwann mal aus Spanien hierhergebracht worden war, wurde großzügig übergangen. Der alte Herzog von Croy hatte sich noch dafür eingesetzt, die genmanipulierten Karnickel aus dem Wildpark fernzuhalten.

Diese Debatte um die Leuchtkaninchen im Wildpark war aber nur einer der vielen Ausdrucksformen eines sehr viel größeren Diskurses gewesen, der die gesamten Dreißiger bis Fünfziger Jahre geprägt hatte: der Kampf zwischen Denkmalpflege und -schutz, zwischen Nähe und Distanz, Progress und Konservierung, zwischen zwei Generationen. Typen wie der Herzog standen für ein älteres Verständnis von Naturfürsorge, das auf der dichotomen Trennung zwischen Natur und Kultur basierte. Das zu Schützende, die Natur musste diesem Verständnis nach durch Einhegung vor den kulturellen Zugriffen des Menschen bewahrt und konserviert, teilweise sogar rekonstruiert werden.  Die Natur, womit man für gewöhnlich irgendeinen historischen Zustand meinte, wurde als Opfer kulturellen Handelns, womit man ausschließlich menschliches Handeln meinte, dargestellt.

In dieser Hinsicht war die Debatte um die Leucht-Kaninchen, wie mir nun aufging, vielleicht doch eine besondere gewesen. Denn auch wenn die meisten begrifflich immer noch an der überkommenen Dichotomie festhielten, waren sich doch eigentlich alle und sogar der Herzog darüber im Klaren, dass Kultur und Natur gerade im Park schon lange nicht mehr voneinander zu trennen waren. Vielleicht waren sich die Münsterländer dessen bewusster als andere, weil sie schon seit Jahrhunderten in einer im besonderen Maße kulturell geformten Landschaft lebten und arbeiteten. Und trotzdem glaubten viele der Älteren, diesen bestimmten Zustand, den sie nun gerade als „natürlich“ empfanden, konservieren zu müssen. Kulturell Konstruiertes war zur Natur geworden, wie so oft, wie viel zu viel zu oft.

Aber weshalb glaubten diese Leute überhaupt, die Natur, das Natürliche vor dem Menschen schützen zu müssen? Doch nur weil sie kein anderes Verhältnis zur „Natur“ kannten als das zugreifende, begreifende, das Verhältnis von Subjekt zu Objekt. Wie anmaßend vom Menschen zu glauben, er allein habe die Macht, durch seinen Zugriff die Welt zu formen, er allein sei aktiv, während alles „Natürliche“, genauso wie Technische zur Passivität verdammt sei. Wie anmaßend, zu glauben, er selbst und er allein könne seine Fantasie vom „Urzustand“ Wirklichkeit werden lassen. Impliziert dieser Gedanke doch die völlig selbstherrliche Annahme, dass alle geschehenen Veränderungen seitdem allein vom Menschen herbeigeführt worden sind, bzw. dass der Mensch vollkommen zu fassen vermag, was sich seitdem verändert hat, und darüber hinaus die Macht besitzt, diese Veränderungen gewaltsam, ja wirklich gewaltsam wieder rückgängig zu machen. Was ist denn mit all den Wesen der Natureculture, die sich an die neuen Umstände angepasst haben? Was ist mit ihnen, den Wildkaninchen, den Leuchtkaninchen, den Flamingos, dem Springkraut?

Nie hat der Versuch, etwas wiederherzustellen, tatsächlich das Wiederherzustellende wieder hergestellt. Immer ist etwas Neues dabei entstanden. Wie könnte es auch anders sein, denn jede Restauration ist eine Konstruktion und jede Konstruktion findet in Zusammenwirkung einmaliger prozesshafter Konstellationen menschlicher und nichtmenschlicher Akteure statt. Darum haben alle Restaurationen eigenen Charakter, anzunehmen sie hätte keinen, bedeutet nicht nur eine Geringschatzung der Leistung des Restaurators und eine Geringschatzung der Restauration, sondern auch eine Herabsetzung des Restaurierten. Was die Restauration schafft, ist an einen Prozess zu erinnern, an den ewigen Prozess des Erhaltenes Veränderns, Restaurierens, Gedenkens, aber um irgendetwas tatsächlich wiederherzustellen, dazu müsste man schon die Zeit zurückdrehen und anhalten.

Glücklicherweise hatte spätestens mit der Erfindung der 3-D-Scantechnik und der neuen digitalen Archivierungsmöglichkeiten ein allgemeines Umdenken in Bezug auf den Denkmalschutz bzw. die Denkmalpflege stattgefunden. Sobald es möglich war, das Gegenwärtige fast originalgetreu festzuhalten und zu archivieren, konnte man in der nicht virtuellen Realität wieder den Wandel zuzulassen und fördern. Auch die Politik der von Croys musste sich nach dem für damalige Verhältnisse sehr späten Tod des alten Herzogs verändert haben, denn die Kaninchen schienen sich frei ausgebreitet zu haben.

Ich sah wieder auf die Anzeige an meinem Armband. Erst jetzt erkannte ich, dass unten auf dem Display auch der Monat und die Uhrzeit standen: April, 17:30 Uhr. In der rechten oberen Ecke war eine kleine Sonne abgebildet. Ich tippe auf das Sonnensymbol und eine Mondsichel erschien an seiner Stelle. Wenige Sekunden später war es Nacht.

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