Social Distancing statt Schützenfest
13. Juli 2020
Auf der Wiese vor dem Haus wird Schützenfest gefeiert. Nicht wirklich. Nur homöopathisch. Ein den aktuellen Hygienevorschriften angepasstes Schützenfest eben. Wenige befreundete Familien mit Kindern haben sich um einen aufgestellten Grill versammelt. Sie stehen mit Abstand, auf der Wiese wird gespielt. Als ich aus dem Auto steige, weht mir der Geruch von Bier und erhitzten Körpern entgegen. Dabei bin ich mindestens fünf Meter vom Geschehen entfernt, und muss erleichtert an die Viren denken, die jetzt durch feuchte Gräser in den Abend tanzen, sich in den Büschen, den Wolken verlieren, statt sich unter einem dampfenden Bierzelt in der Nacht zusammenzubrauen. Die Kinder wollen wissen, was die grünen Hüte bedeuten und wo die herkommen. Viele der kleinen Jungs tragen sie, die jetzt aufgeregt schreiend übers Gras rennen.
Die werden sie wohl von ihren Vätern haben, antworte ich, weil die tragen sie ja auch zu diesem Fest, das in diesem Jahr nicht wirklich ein Fest ist. Meine Kinder bleiben stehen, schauen, was da passiert, wo Leute in ausgelassener Stimmung zusammenkommen. Singen, rufen, laut lachen. Nur mit schunkeln, schmusen, eng zusammenrücken ist nichts in diesem Jahr. Schützenfest im social distance modus. Ein Ball wird geworfen und wenn der die Flasche mitten auf der Wiese trifft, müssen die einen rennen, um die Flasche wieder aufzustellen, die anderen ihre Bierflasche in einem Zug leeren. Ein schönes Spiel, um schnell betrunken zu werden. Unter anderen Umständen. Für die Kinder wird mit Brause gespielt. Alles mit Distanz. Trotzdem schwirrt eine Konstante Unsicherheit durch die Luft, mischt sich unauffällig unter die vorhandenen Viren und Bakterien, die sonst so normal zwischen Menschen kursieren, eine Begegnung mit Fremden kann im Kontext der Auflagen, in denen soziale Kontakte zwingend nachvollzogen werden müssen, nur zu Distanz gegenüber dem Unbekannten führen. Für die Kinder bleibt ein erster Eindruck vom Schützenfest. Eine schöne Sache, glauben sie, aber sie haben ja lange noch nicht alles gesehen. Das Spiel gefällt ihnen, Mädchen gegen Jungs, es trifft ihren Geschmack, so wie es von zu Hause, aus der Schule, kennen.
„Ohne Mädchen geit es nit!“ ist der Titel eines Artikels von Barbara Stambolis, zu einer Ausstellung über Schützenwelten, die im Geschichtsmuseum Lüdenscheid von Dr. Eckhard Trox kuratiert wurde. Die Schützengesellschaften, sie seit dem 13. Jahrhundert entstanden, hatten zur Aufgabe, die Bevölkerung zu beschützen.
Das Schützenfest ist zwar ein historisch männlicher Raum, von dem Frauen weitgehend von der Handlung ausgeschlossen waren, doch gehörten sie und dies auch an grundlegender Weise, dazu. Die Auffahrt der Königin galt und gilt noch heute als Höhepunkt.
Die Narbe trage ich noch heute. Ein langer asymmetrischer Strich unterhalb des Knies. Ich habe unglaublich laut geschrien, das Fleisch war in zwei Teile geschnitten, die Haut klaffte auseinander und ich kann mich noch sehr genau an die weiß-rote Farbe der verschiedenen Zellschichten erinnern. Jemand hat mich in den DRK-Bus geschleppt.
Bis du heiratest, sieht man nichts mehr davon, prophezeite der Sanitäter. Das Desinfektionsmittel brannte. Aber die Narbe ist heute immer noch da, obwohl ich schon längst Kinder habe. Wir hatten kein Spiel mit spitzen Gegenständen gespielt, mit Flaschen, Scherben, etwas, bei dem ich mich hätte verletzen können, oder uns als Schützen versucht, nichts von alledem. Die Narbe habe ich mir als kleines Kind beim Blumenpflücken für die Königin geholt. Wir wollten der Schützenkönigin einen Blumenstrauß pflücken, sind über die Zäune auf eines der umliegenden Felder geklettert und dabei blieb ich im Stacheldraht hängen geblieben. Der Draht hatte sich mir tief ins Fleisch geschnitten.
Beim Wandern entdeckte ich Tage später einen Baum, durch den Draht gewachsen ist. Wir Mädchen waren als Kinder von den wilden Spielen ausgeschlossen. Wir hatten unser eigenes Handlungsfeld auf dem Schützenfest, das Blumenpflücken für die Königin zum Beispiel, während die Jungs mit ihren grünen Mützen auf dem Platz sich darin probten, den Vogel abzuschießen. Heute haben sich die Spielräume gelockert, ein wenig wie die Coronabestimmungen, mittlerweile gibt es auch Frauen unter den Schützen, nicht überall und in allen Vereinen, aber in Südwestfalen zum Glück immer mehr, 2019 schoss eine Frau den Vogel ab. In diesem Jahr hat es kein Schützenfest und keine KönigInnen gegeben. Bleibt zu hoffen, dass es, wenn die Schützenfeste wieder aufgenommen werden können, weiterhin mehr soziale Mischung gibt und nicht die Angst vor Kontakt, dazu führen muss, dass Menschen sich in Zukunft mehr gegenseitig aus- und abgrenzen. Die Hoffnung, so sagt man doch, bleibt.