In einer Diktatur ist dein Kopf nie frei
8. April 2022
Sie zieht gerade um. Und freut sich schon auf das Neue, das verrät das Timbre ihrer Stimme. Ihre Stimme ist sopran. Sopran und sehr gelassen.
Wir haben uns in Wuppertal an der Bushaltestelle Werk Öhde getroffen, um nach Beyenburg zu laufen. Straße der Arbeit, lacht sie, hört sich irgendwie harmlos an, aber meistens ist Arbeit ja doch mit Ausbeutung verbunden.
Tausend Sachen hat sie in ihrem Leben gemacht, einen geradlinigen Lebenslauf habe ich nicht vorzuweisen, sagt sie, mit einem Hauch Ironie in der Stimme. Sie hat Linguistik studiert, ist nach Basel gezogen, ist nach Nürnberg gezogen, hat Kinder bekommen, ist Industriekauffrau geworden, hat im Büro gearbeitet. Dann in einem Lager. Genauer genommen im Duft-Lager, wir haben Parfüm verpackt. Ich habe es geliebt da. Wir waren wie eine Familie. Bis das Kreuzband riss. Eigentlich war es ein Arbeitsunfall, aber ich habe nicht registriert, dass da was kaputt ist und bin am nächsten Tag in Urlaub gefahren, da war das Knie schon angeschwollen. Tja, das wars dann mit dem Duftlager.
Und jetzt, ist alles wieder ok? Ja. Naja. 2015 kamen die Flüchtlinge und das Bamf suchte Übersetzer:innen. Die suchen Leute wie dich, hat eine Freundin gesagt.
Rahel übersetzt und dolmetscht aus dem Tigrinya. Und wieder zurück ins Tigrinya, das ist ihre Muttersprache. Eigentlich haben wir in Eritrea neun Sprachen: Tigrinya, Tigre, Afar, Saho, Kunama, Bedscha, Blin, Nara und Arabisch. Seit wir in einer Diktatur leben, lernen die Leute nur noch eine Sprache. Wenn du in einer Diktatur lebst, ist dein Kopf nie frei.
Du fühlst stärker mit
Wo hast du geparkt, kannst du dir das merken, bis wir wieder zurück sind, fragt sie mich. Das ist ein Wesenszug von ihr, sich für andere verantwortlich zu fühlen. Wir haben uns zwei Wochen zuvor im Zug kennengelernt, als sie einem älteren Ehepaar ihren Platz angeboten hat. Das Ehepaar setzte sich und sie stand da im Gang mit ihrem vollen Kaffeebecher in der Hand und der Zug schwankte. Setzen Sie sich doch neben mich, bat ich sie, ein bisschen beschämt, dass nicht ich meinen Platz abgegeben hatte.
Rahel hat weder Führerschein noch Auto. Obwohl ich mir in den letzten Jahren manchmal eins gewünscht hätte, vor allem, als ich in den Ankerzentren gearbeitet habe. In Zirndorf, das ist in Bayern. Da kommt man schlecht mit den Öffentlichen hin. S-Bahn, Bus, noch ein Bus. Sie hat dort für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gearbeitet, mit Menschen, die aus Eritrea geflüchtet sind. Anstrengend. Gerade wenn es deine eigene Muttersprache ist. Schwierig, dich abzugrenzen. Du fühlst stärker mit, aber du urteilst auch härter. Weil du ja alles selbst mitgemacht hast. Zum Beispiel, was Sprache angeht, ich kenne das von meinen Geschwistern und mir, dass man eine neue Sprache superschnell lernt. Und denke dann immer: Mein Gott, ist doch nicht so schwer! Aber ist eben nicht bei allen so. Vor allem dann nicht, wenn man abgeschottet in einem Lager wohnt.
Muss man aus dem richtigen Land kommen?
Wuppertal ist die Stadt mit den meisten Treppen in Deutschland, sagt Rahel. Und wenn man oben ist, wird man belohnt. Die Aussicht ist grandios. Dass es hier sowas überhaupt gibt, passt irgendwie gar nicht zu Wuppertal. Sie lacht. Wir biegen falsch ab und laufen zwei Kilometer durch den Wald, einmal den Berg hoch und nach einer Kehre wieder hinunter und sind froh, dass wir falsch abgebogen sind. Der Frühling hängt in den Ästen, die Sonne scheint, im T-Shirt laufen wir unter der A1 durch auf die andere Seite.
Was die Leute auf der Flucht erleben, ist grauenhaft. Wenn sie sieht, wie groß die Hilfsbereitschaft und wie klein die Hürden für Flüchtlinge sein können – wow! Toll. Aber auch schmerzhaft. Wie soll man das verstehen! Muss man aus dem richtigen Land kommen? Die Eritreer, für die sie gedolmetscht hat, kamen jedenfalls aus dem falschen Land. Am schlimmsten waren die Berichte von der Balkan-Route, aus Ungarn, Serbien, Kroatien, sagt sie, teilweise kaum zu ertragen. Brutale Gewalt, Vergewaltigungen, Schläge, Demütigungen, vor allem gegen Frauen. Wenn du das übersetzt, erlebst du alles selbst mit. Du übersetzt ja nicht nur, du musst mit den Menschen sprechen, ihnen zuhören, Fragen stellen, Worte finden für das, was sie erlebt haben. Man kann vieles nicht 1:1 übersetzen. Oft kam sie nach einem Arbeitstag nach Hause und konnte kaum ein Wort mehr mit ihren Kindern wechseln. Supervision? Gab es nicht. Ist denen doch egal, wie es uns geht, und die Ironie ist aus ihrer Stimme verschwunden.
Die Bank am Randes des Marscheider Waldes winkt uns heran. Wir essen unsere Brötchen, tauschen gekochte Eier und Süßigkeiten aus. Wir rauchen einen Joint. Es ist der Tag, an dem der Sahara-Sand die Sonne verdeckt und den Himmel orange färbt.
Mittlerweile arbeitet Rahel in Solingen und begleitet eritreische Familien. Hilf dir selbst, sonst hilft dir der Sozialarbeiter, sagt sie. Wir lachen. Aber sie meint es ernst: Manche, sagt sie, schaden den Leuten oft mehr als sie ihnen nützen. Vor allem dann, wenn die Lösungen ausschließlich am Schreibtisch erarbeitet werden. Auch außerhalb ihres Jobs ist sie ehrenamtlich im Einsatz; sie zeigt mir ihr Handy, es ist voller Whatsapp-Nachrichten von Leuten, die ihr Dokumente schicken, mit denen sie nicht klar kommen.
Wir überqueren die Wupper und winken einem Angler, der bis zur Hüfte im Wasser steht.
Eines Morgens war die Wupper blau
Mit ihren Eltern und sieben Geschwistern ist sie Anfang der 1980er Jahre nach Deutschland geflüchtet. Sie wohnten in Solingen, wo sie auch jetzt wieder lebt. Die Wupper, sagt sie, war der dreckigste Fluss in Europa. Eines Morgens sind wir aufgewacht und die Wupper war blau! Die Fische sind mit dem Körper nach oben auf der stinkenden Suppe getrieben. Da war mal wieder irgendein Gift von einer Fabrik in den Fluss abgeleitet worden.
Sie war 13, als sie flüchten mussten, in Eritrea tobte der Unabhängigkeitskrieg mit Äthiopien, dem großen Nachbarn. Erst 2018 endete dieser Krieg und der äthiopische Regierungschef erhielt den Friedensnobelpreis. Doch aus dem Frieden entstand in Eritrea keine Demokratie. Die Aggression richtet sich nun gegen Teile der eigenen Bevölkerung. Rahels Eltern, die zurückgegangen waren, mussten ein zweites Mal fliehen, sie leben jetzt in Kenia.
Wir haben keine Lust mehr auf den asphaltierten Weg und laufen querfeldein. Sie geht viel zu Fuß, ist die Anstiege gewöhnt, weniger von München, mehr von Solingen. Eigentlich lustig. Ach, schön ist es hier. Aber wohnen möchte man in solchen Vierteln lieber nicht. Sie braucht das Urbane, die Abwechslung, die kurzen Wege zu Freunden und Kneipen. Wuchtige Bäume liegen quer auf dem Waldboden und versperren uns den Weg und wir müssen uns durchs Dickicht schlagen.
Wir sind schon viel weiter als die geplanten elf Kilometer gelaufen. Weil wir immer wieder vom Weg abgekommen sind. Zurück nehmen wir den Bus. Der erste fährt uns vor der Nase davon. Zum Glück, denn es wäre der falsche gewesen. Der zweite kommt 10 Minuten später. An einer Haltestelle sehen wir das Schild KZ Kemna. Oh. Ich google, während Fahrgäste aus- und einsteigen. Von 1933 bis 1934 war hier, in einer ehemaligen Putzwollfabrik. ein Konzentrationslager für politische Gefangene. Sag ich doch, sagt Rahel, Straße der Arbeit, das klingt irgendwie harmlos.
Weiterführende Links zur Straße der Arbeit
Die Straße der Arbeit, Etappe I von Wuppertal nach Beyenburg
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)