Ich hatte Angst vor der Hölle

Ich habe in den 90er Jahren in einer christlichen Versandbuchhandlung in Wuppertal gearbeitet und dabei den Begriff „christliche Nächstenliebe“ in einer ganz neuen Dimension kennen gelernt.

Rolf Urspruch

Vor dem Treffen mit Rolf Urspruch habe ich mich ein wenig gefürchtet. Nach seiner ersten Mail an mich war klar, da würde einer erzählen, wie zerstörerisch Arbeit für Menschen sein kann. Und, das war mein erstes Gefühl, da war noch etwas, das darüber hinaus ging.

Wir treffen uns am Hans-Dietrich-Genscher-Platz am Bahnhof Barmen, Rolf Urspruch ist pünktlich, ein eher scheuer, zurückhaltender Mensch, der aber umso entschlossener wirkt. Er rollt das R und vielleicht ist er mir deshalb gleich sympathisch.

Keine 1.700 DM habe er verdient, als er Anfang der 1990er Jahre in der christlichen Versandbuchhandlung Verlag und Schriftenmission eine Vollzeitstelle antrat. Das wären heute nicht einmal sechs Euro die Stunde.
Ich hatte damals keine Ahnung, sagt Rolf Urspruch, dass das Ausbeutung ist, über Gehalt hat man einfach nicht gesprochen, auch unter den Kollegen nicht.

Wir spazieren Richtung Barmer Anlagen, die ehemalige Trasse der Barmer Bergbahn entlang. Früher, erzählt Rolf Urspruch, sind die Familien am Wochenende und an Feiertagen mit der Bahn zum Toellerturm hoch. Da war immer was los. 1959 wurde sie leider wegen Unwirtschaftlichkeit geschlossen.

Die Sache in der christlichen Versandbuchhandlung fing gleich mit einem großen Hindernis an. Ein Teil meiner Tätigkeit bestand darin, Büchersendungen zu kontrollieren und dazu musste ich natürlich sitzen. Es gab aber keinen Stuhl zum Schreibtisch. Als mein Chef morgens reinkam, fragte ich ihn, ob er mir nicht einen Stuhl besorgen will. Aber das hat er abgelehnt: Sie bekommen keinen Stuhl. Und da hat meine Kollegin Martina mir etwas Gutes getan und aus ihrem Elternhaus einen Drehstuhl geholt.

Ich war sehr ängstlich damals

Dieser Stuhl, sagt Rolf Urspruch, während wir tapfer den Berg hochlaufen, war dann hart umkämpft. Komischerweise nur mein Stuhl, nie der Stuhl der Kolleginnen. Seitdem er da stand, wurde er von unseren Kunden mitgenutzt. Das waren Leute aus anderen Gemeinden, die Kommissionsware zurückbrachten und neue Bücher aussuchten. Die waren offensichtlich der Meinung, dass ich keine Berechtigung hatte, auf diesem Stuhl zu sitzen, da standen also ständig dreckige Bücherkartons darauf oder Mäntel oder Jacken lagen auf der Lehne, kaum war ich nur mal kurz weg. Manche setzten sich auch einfach und standen nicht mehr auf, selbst wenn ich direkt daneben stand. Und ich habe mich nicht getraut, denjenigen zu bitten, aufzustehen. Ich hatte Angst, der bleibt sitzen, der weigert sich und was mache ich dann? Das ist dann ja noch demütigender.

Auf den Aufnahmen höre ich, dass wir immer noch bergauf gehen. Ich sage nichts. Die Verletzung von damals ist bis heute in Rolf Urspruchs Stimme zu hören.

Seit ich sechs Jahre alt bin, zumindest kann ich mich solange zurück erinnern, war ich schwer depressiv. Bis vor zwei Jahren. Ich hatte Angstzustände, Angst vor Menschen, Angst vorm Leben, Angst vor der Hölle. Also sehr stark von meiner christlichen Erziehung beeinflusst. Und deshalb konnte ich auch nicht soweit denken, dass ich vielleicht zu wenig Gehalt bekam.

Ich war sehr ängstlich damals, sagt Rolf Urspruch, ich habe nur die Kartons genommen und in eine Ecke gestellt, wo sie niemanden störten. Und wenn ich dann wieder aufstand und an meinen Platz kam, stand wieder alles voll.
Einmal, erzählt er, war ein Ehepaar aus Leverkusen da, schon etwas älter, wieder stand der Karton auf meinem Platz, wieder stelle ich den Karton an eine andere Stelle, und da sagte der Mann zu mir, du kannst froh sein, dass du hier arbeiten darfst.

Der Vorwurf lautete auf Hurerei

Hier war mal ein Planetarium, sagt Rolf Urspruch. Es wurde im Krieg beim Fliegerangriff auf Barmen zerstört und leider nicht wieder aufgebaut. Bekannte von ihm, erzählt er, die damals Kinder waren, hätten sich in die Wupper geschmissen, um den Flammen zu entgehen, und dort in den Fluten haben sie sich kennengelernt und später geheiratet.

Seinem Arbeitgeber, der Stadtmission, gehörte auch ein Altenheim in der Nähe von Siegen, der Leiter hatte eine Mitarbeiterin, die mit ihrem Freund ohne Trauschein zusammenlebte.
Und das wurde ihr ständig vorgeworfen, der Vorwurf lautete auf Hurerei. Er muss die ziemlich terrorisiert werden. Wenn diese Menschen bei anderen Sünde feststellen, können sie wirklich zudringlich werden, sagt Rolf Urspruch, und er sagt es so, dass man die Zudringlichkeit förmlich spüren kann.
Was hat Sie denn an der Stelle interessiert, warum wollten Sie dort arbeiten, frage ich.
Ich war froh, dass ich etwas gekriegt hatte, ich wollte unbedingt eine Stelle haben. Vom Arbeitsamt wurde mir eine Ausbildung zum Bürokaufmann vorgeschlagen, in einem Ausbildungszentrum, aber mir ging es psychisch ganz schlecht und ich wusste, das halte ich nicht durch. Und zur selben Zeit hatte ich auch meine Freundin kennengelernt, die in Wuppertal lebte und mit der ich dann 27 Jahre lang zusammen war. So gesehen war es die richtige Entscheidung, ebenfalls nach Wuppertal zu ziehen.

Bei Gott entschuldigen für jeden Mist

Als Kind hatte ich das Pech, ich musste in die Sonntagsschule der Brüdergemeinde gehen, und da ging es viel um die Hölle. Ich hatte unheimlich viel Angst vor der Hölle, mein ganzes Leben lang, ich war mir sicher, dass ich in die Hölle kommen würde und habe angefangen, religiöse Zwänge zu entwickeln. Zum Beispiel, ich muss mich dauernd bei Gott entschuldigen, wegen jedem Mist. Wenn mir der Deckel vom Mülleimer runterknallte, musste ich mich bei Gott entschuldigen. Und wenn ich heil über die Straße gekommen bin, musste ich mich sofort bei Gott bedanken.

An Wuppertal liebt er die Industriearchitektur und vor allem liebt er die Schwebebahn. Besonders im Stadtteil Vohwinkel, das bis heute von der Konstruktion der überirdischen Bahngleise dominiert wird. Er selbst kommt vom Dorf, in der Nähe von Marburg in Hessen, die Gegend ist ländlich und auch stark religiös geprägt, viele Freikirchen gibt es dort, ähnlich wie im Bergischen Land.

Rolf Urspruch vor der Schwebebahn in Wuppertal

Allerdings hatte ich auch Angst vor Menschen, vor allem vor Männern. Und das wussten die in meiner Arbeitsstelle. Zum Beispiel mein Chef, der war ein erfahrener Mann mit viel Menschenkenntnis, als Missionsinspekteur bereiste er die ganze Welt und guckte sich die Arbeit der Missionare an; er war zuständig, wenn es Konflikte gab. Der konnte Menschen gut einschätzen und er hat sofort gesehen, dass ich mich nicht wehren konnte. Schon beim Bewerbungsgespräch hat er gemerkt, wie konfliktscheu und ängstlich ich war, sonst hätte er mir nie diesen schlecht bezahlten Job hingeknallt.

Die Sache mit der Schokolade

Was waren denn Ihre Aufgaben?
Wareneingang und Warenkontrolle und einfache Werbetätigkeit, Zettel falten und Sachen tackern, das war es in der Hauptsache.
Konnten Sie denn von dem Gehalt leben?
Ich hatte keine Gehaltsvorstellungen, aber ich habe schon bald gemerkt, ich komme nicht richtig aus mit dem Geld. Die Kollegen konnten sich ein Auto leisten und jedes Jahr in den Urlaub fahren. Ich dagegen bin immer zu meinen Eltern nach Hessen gefahren und mein Vater hat mir 100 Mark gegeben, damit ich die Fahrtkosten bezahlen konnte. Ich habe aber daraus geschlossen, dass ich eben nicht so gut mit Geld umgehen kann wie die anderen.

Eine andere Sache, sagt Rolf Urspruch, war die Sache mit der Schokolade. Auf meinem Platz stand immer eine Schale mit Schokolade. Die Leute mussten über meinen Kopf hinweggreifen, über meine Schulter hinweg, um an die Schokolade zu kommen. Dass ich da saß, war ihnen egal, fast so, als wäre ich gar nicht da.
Heute würde man das Mikroaggressionen nennen, denke ich, eine Aggression, die als solche nachzuweisen gar nicht so einfach ist, weil sie so harmlos daher kommt. Aus vielen kleinen Mikroaggressionen entsteht ein Dauerbeschuss, dem das Opfer kontinuierlich ausgesetzt ist.
Ich habe dann angefangen, selbst Schokolade zu essen. Ich war also ziemlich beleibt. Und auf einmal hing da eine Karte an unserer Pinnwand, auf der war eine ziemlich beleibte Person abgebildet. Man ist, was man isst, stand da drauf.
Damit war ich natürlich gemeint, sagt Rolf Urspruch. Er lacht. Das war ziemlich gemein.
Waren die froh, dass sie ein Opfer hatten in Ihnen?, frage ich.
Ja, meint er, das kann schon sein.

Haben Sie Angst vor Hunden?

Wir kommen an einem Kriegerdenkmal vorbei, hier liegen die Helden aus dem ersten Weltkrieg begraben, erklärt uns ein Schild, und Rolf Urspruch erzählt von Gerda, der Sekretärin des Chefs, die sehr tüchtig war und sehr viele Überstunden machte. Sie war allerdings ein bisschen labil. Sie war von meinem Chef abhängig, der hieß Becker, und meine Kollegin Martina sagte, wenn die mal einen neuen Chef kriegt, das kann die nicht. Die kann nur mit dem Becker zusammenarbeiten. Und das, sagt Rolf Urspruch, hat der Becker ausgenutzt. Er hat sie oft bis aufs Blut geärgert, solange, bis die Gerda ausgerastet ist. Und der Becker saß dann da und hat das richtig genossen.
Wie hat er das denn gemacht?
Ach, der war sehr kreativ, der wusste, wie man Menschen verletzen kann. Aber die Gerda nannte ihn immer liebevoll das Beckerle, das sagt ja viel aus. Als der Chef dann die Position aufgegeben und nur noch in der Missionsgesellschaft in Neukirchen gearbeitet hat, ist die Gerda ihm hinterhergezogen.
Er ist früh gestorben, sagt Rolf Urpruch, und was aus der Gerda geworden ist, weiß ich nicht.

Blick von den Barmer Anlage auf die Stadt Wuppertal

Wir sind nun oben angekommen auf dem Barmer Berg und schauen hoch zum Toellerturm, bevor wir zurück zum Bahnhof gehen. Ein Hund steht vor uns und schaut uns boshaft an.
Haben Sie Angst vor Hunden?, fragt Rolf Urspruch, vor manchen schon, sage ich, ich mag jedenfalls nicht, wenn sie mich beißen. Gerade die kleinen schnappen ja gerne mal.
Genau, sagt Rolf Urspruch, die Wadenbeißer, das sind die schlimmsten. Der Hund geht zum Glück zu seinem Frauchen zurück, sie nimmt ihn an die Leine.

Rolf Urspruch hat sich viele kleine Begebenheiten aus einem Arbeitsleben gemerkt, manche davon sogar aufgeschrieben. Meine Kolleginnen und mein Chef waren Mitglieder der Evangelischen Gesellschaft für Deutschland, Radevormwald. Ich gehörte nicht dazu, sagt er, weil ich von einer anderen Landesgemeinde kam. Und wer nicht dazugehört, läuft Gefahr, gemobbt zu werden.

Die nehmen mich nicht für voll

Wir unterhalten uns über die Frage, warum man es trotz schlechter Behandlung nicht schafft zu gehen. Ich denke an die Geschichte mit Gerda; vielleicht, weil man irgendwann kein Selbstwertgefühl mehr hat, schlage ich vor, weil man denkt, man kann es allein gar nicht schaffen? Ja, vielleicht stimmt das sogar, sagt Rolf Urspruch. Ich kam zu dem Schluss, das läuft überall so ab, ich kann mich nicht wehren und werde zum Spielball der anderen. Die nehmen mich einfach nicht für voll.

Nach neun Jahren schafft er es schlussendlich doch zu kündigen, aber ich war am Boden, sagt er.
Kurz danach hat der Laden übrigens pleite gemacht, erzählt Rolf Urspruch. Die hatten ja niemanden mehr, der die stupide Arbeit machte.

Erst als er vor zwei Jahren in das Pflegeheim gezogen ist, in dem er jetzt wohnt, ist plötzlich etwas mit ihm geschehen.
Die sind alle so engagiert da, sagt er. Die lieben dort alte Leute! Und da habe ich plötzlich meine Angst verloren. Er denkt viel über sein Leben nach und warum seine Eltern ihm nichts beigebracht haben. Schade, dass ich keine Kinder habe. Er würde gerne nochmal von vorne anfangen.

Wir trinken noch einen Kaffee, es ist ein warmer Tag im Juni, wir sitzen draußen. Rolf Urspruch möchte, dass ich seinen richtigen Namen veröffentliche. Es musste alles mal gesagt werden. Ein Foto machen wir auch noch. Vor der Konstruktion der schönen Schwebebahn, die ein paar Meter über uns vorbeislidet, Richtung Vohwinkel.

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Spaziergang vom Bahnhof Barmen durch die Barmer Anlagen
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

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