03/2022, eins

Es ist der sechste Tag des Krieges, und mein Stipendium beginnt. Hamm also. Die Stadt mit dem Koppelbahnhof, der Ort für hastige Zigarettenzüge, ein Bein im ICE, eins auf dem Bahnsteig. Unzählige Male saß ich in Zügen, die hier hielten. So weit so wenig originell meine Erstassoziationen. Erwähnenswert erscheint mir jedoch die Leere, die ich mit dem Blick aus dem Zugfenster verbinde. Da ist keine Erinnerung an eine Stadt vor oder hinter diesem Bahnhof. Ich meine, selbst wenn ich an Bielefeld denke, kann ich mir diesen Kinoklotz neben dem Erlebnisbad mit Außenrutsche vorstellen. Aber Hamm? Endlose Rangierweiten oder das diffuse Spiegelbild aus dem ICE-Innern auf den Fensterscheiben, dahinter die durchschnittliche Kombination aus Pflasterstein und Flachdach, Beleuchtung und Dunkelheit. Dann ist da aber auch noch eine schöne Schullesung mit anschließendem Workshop, den ich erinnere. Jawohl, jaja, da ist nämlich eine Stadt, zumindest existierte sie 2016, Schüler und Schülerinnen gibt es dort, Springbrunnen, vermutlich das ein oder andere Goldfischaquarium auch, das weiß ich wohl.

Sonst weiß ich wenig, bis gar nichts über diesen Ort. Und ich gestehe, ich habe mich nicht vorbereitet. Ich konnte nicht, ich wollte nicht, ich bin mir da nicht so sicher, ich weiß nur, und das war ein wirklich beherrschendes Gefühl in den Tagen vor diesem 1. März und auf dem ersten Weg nach Hamm: ich möchte gerade nirgendwo hin. Egal, ob Kleinstadt in Westfalen oder Montevideo oder gewohnte westdeutsche Urban Bubble, weder Fremde noch Ferne noch ein bekanntes „Draußen“ erscheinen mir in diesen Tagen erstrebenswerte Spektren für Erlebnisse. Ich möchte zu Hause sein, dort, wo ich die vergangenen zwei Krisenjahre einigermaßen unbeschadet überstanden habe. Lasst mich, ich sitze hier auf meinem Schaffell, weiß, wo die Lichtschalter im Dunkeln zu ertasten sind, und die einzigen Ausflüge unternehme ich, während ich auf meiner Yogamatte liege und an die Decke starre. Mehr ist nicht drin nach zwei Jahren Pandemie, mitten in der Omikron-Welle und ausgerufener Zeitenwende.

Mir fehlt ein Skillset für das Szenario „Russland droht mit Atomkrieg“. Ich habe viele und große Fragen, und wünsche mir Herfried Münkler wäre mein Opa. Die Sorte Opa, die ihren Enkeln ein Eis kauft, obwohl Mama das verboten hat, und einem dann die Welt neu aufschließt. Aber bei mir reicht es leider nicht zu mehr als dem Entschluss, meinen Instagram Wochenrückblick einzustellen, der mir in den vergangenen Monaten ein wenig Weltkontakt simulierte. Keine wohlstandsgenährte und noch so distinktionsgetriebene Kulturpraxis scheint mir gerade noch vorzeigbar, angemessen, eigentlich fühlt sich gar nichts mehr angemessen an. Schon gar nicht der Luxus eines Stipendiums, das mir die Möglichkeit gibt, mein passioniertes Hobby mit meinem beruflichen Schaffen zu verknüpfen. Und noch viel weniger die Tatsache, dass ich mich darüber beschwere, dafür aus meinem Schutzraum gezerrt zu werden. Skillset für Selbstmitleid — das habe ich. Gelernt, erprobt, perfektioniert. Und natürlich ändere ich damit gar nichts, stoppe keinen Panzer, rette niemanden aus einem brennenden Wohnhaus und puste auch keine Bombe supermanlike aus ihrer Flugbahn ins All. Bitte, danke, wo kann ich hier jetzt konsumieren?

Hamm also. Der Bahnhofsvorplatz erstrahlt in der üblichen westdeutschen Sparkassenästhetik. Hätte dieser Ort einen Gesichtsausdruck, ihm stünde eingeschrieben: Bitte gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen, ich bin doch keine Lavalampa, Sie Hygge-Heini, trimmen Sie gefälligst die Rasenränder in Ihrem Vorgarten, wenn Sie sich wohlfühlen wollen, und bitte machen Sie mich für meine Kaugummiakne nicht verantwortlich, mein Erscheinen ist Opfer der Umstände. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke ganz nach oben, wickle den Schal neu um den Hals, ziehe meine Handschuhe an und steige aufs Fahrrad. Der erste März ist ein rauer und ungemütlich kalter Tag, der Wind hat Schneidetemperatur. Es ist die Zeit im deutschen Jahreszeitenkalender, zu der jede Zilie beim Einatmen der kühlen Luft aus Nordwesten nach Frühling japst.

 

Die Wohnung, die man mir zur Verfügung stellt, liegt nicht direkt in Hamm, sondern im Stadtteil Herringen, auf einem alten Hof. Die Inhaberfamilie vermietet dort mehrere Ferienwohnungen, und eine davon, laut Vermieterin, welche Ehre, die schönste, darf ich die nächsten vier Monate bewohnen. Vom Hauptbahnhof in Hamm sind es fünf Kilometer bis zum Refugium Kortenbruck, der Bus braucht planmäßig 18 Minuten für 11 Stationen. Laut Google-Maps führt der schnellste Weg die meiste Zeit geradeaus über die Wilhelmstraße, die später in die Dortmunder Straße mündet, große, zweispurige Asphaltbahnen mit viel Platz für breite Autos, die an einer erstaunlichen Anzahl von Tankstellen, Autohäusern und einer riesigen Autowaschanlage vorbeiführen. Dann biegt man nach Burger King und Subway links in den Zechenweg ein, passiert Moschee und Krematorium, und ist quasi da.

Aber zunächst gilt es diesen Bahnhofsvorplatz hinter sich zu lassen. Ich orientiere mich an den Gleisen und fahre langsam auf der Rechtsabbiegerspur auf eine rote Ampel zu. Zum Stehen gekommen ordne ich mich weiter rechts ein, stehe jetzt linksseitig auf der Busspur, um anfahrenden Autos Platz zum Überholen zu machen, als hinter mir ein Linienbus anrollt und der Busfahrer beginnt, mich unvermittelt, von hinten anzuschreien. Die Ampel ist rot, so viel verstehe ich, aber ihm passt nicht, dass ich auf der linken Seite seiner Spur vor ihm stehe, während er steht, während wir gemeinsam stehen müssen und darauf warten, dass die Ampel grün wird. Es ist doch rot, erwidere ich, und er schreit mich weiter an, ich solle weg von seiner Spur, das sei hier die Busspur, es versetzt ihn wirklich in große Aufregung, er streckt seinen Arm aus dem Fenster und fuchtelt ganz wild in der Luft herum. All mein geschilderter Widerwillen der letzten Tage schießt mir auf einmal wie ein Stoffwechselabfallprodukt in den Kopf. Drei Minuten da, und schon will ich hinter jedes Vorurteil über provinzielle Engstirnigkeit ein grünes Häkchen setzen.

Auf der Wilhelmstraße werde ich dann noch drei Mal von passierenden Autofahrern angehupt. Hupen, immer ein geeignetes Kommunikationsmittel, wenn man in einer tonnenschweren Stahlmaschine in 50 Zentimeter Entfernung an einem Radfahrer vorbeifährt, um mitzuteilen, eben jener Radfahrer habe auf dem baumwurzeldurchzogenen, vorfahrtsberaubten, glassplittergespickten, pflasterbesteinten, von unaufmerksamen Rechtsabbiegern mit dem Tode bedrohten Fahrradstreifen auf dem Gehweg zu fahren. Ich erschrecke jedes Mal fürchterlich, und rufe ihnen dann mein eingeübtes Mantra für diese Situation hinterher: Dann fahr doch auf der Autobahn, Arschloch! Man merkt, es geht richtig kuschelig los auf den Straßen Westfalens. 

Nach der Schlüsselübergabe und einem ersten Rundgang durch die Wohnung, sitze ich fünfzehn Minuten relativ regungslos auf dem Sofa und mache mich dann auf den Rückweg nach Köln. 

Hamm also.

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