Zwischen den Wänden
1. Juni 2022
Am oberen Rand des Waldes, der mittlerweile schon gar kein richtiger Wald mehr ist, liegt, eingebettet in Sträuchern, Efeu und hohem Gras, ein zweistöckiges Haus mit Keller. In nächster Nähe gibt es keine Nachbarschaft. Das ist gut und traurig zugleich. Gut für die vier Jugendlichen, die sich um das Haus herumschleichen und einen Blick auf das Grundstück riskieren. Traurig für den Neffen und Erben der letzten rechtmäßigen Bewohnerin des Hauses, die nach kurzer und intensiver Krankheit verstarb, nachdem sie die letzten 16 Jahre alleine in dem Haus wohnte und deren ganzes Hab und Gut nun an den Neffen, der mittlerweile im Londoner Stadtteil Newham seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat, übergegangen ist. Die Freude über den Brief von der Nachlassverwalterin war groß, konnte er doch gerade etwas finanzielle Unterstützung gut gebrauchen. Nach zwei, drei Telefonat überwog jedoch die Enttäuschung, als er feststellen musste, dass sich das Haus in einem durchaus unbrauchbaren Zustand für ihn befindet.
Für die vier Jugendlichen hingegen ist die Entdeckung des Hauses ein echter Glücksgriff. Für sie gibt es in der näheren Umgebung keinen geeigneten Ort, deshalb gehen sie in den Abendstunden mit Tetra Paks in ihren Händen ziellos umher. Eigentlich laufen sie nie an dieser Straße entlang, eigentlich meiden sie es Richtung Wald zu gehen, doch wie durch einen Zufall oder eine Eingebung laufen sie an einem mehr oder weniger normalen Tag an der Grundstücksgrenze des Hauses, das in den Besitz des in Newham wohnenden Neffen übergegangen ist, vorbei und bleiben alle vier im selben Moment mit ihren Füßen stehen.
„Woah“, staunt Mika, die eigentlich Goth ist und verhalten mit ihren Reaktionen umgeht, als sie zum ersten Mal vorsichtig durch den Garten streift. Auch Diego, Peri und Johann bewegen sich behutsam und schauen, dass sie keinen allzu großen Lärm produzieren. Sie tapsen durch den verwucherten Garten, schlängeln sich um die Obstbäume herum. Hier und da verrücken sie ein paar Blumentöpfe. Weiter, als bis zum Anfang der steinigen Terrasse, wagen sie sich am ersten Tag nicht. Sie bleiben nur wenige Minuten auf dem Grundstück und widmen sich danach wieder ihren Getränken.
Doch weil es eben so wenig zu tun gibt, kommen sie in den nächsten Tagen wieder zurück zu dem Haus. Sie ziehen sogar die Stühle der Gartengarnitur unter dem Tisch hervor und setzen sich für ein, zwei Filterzigaretten der Marke L&M hin. Diego ist der einzige aus der Runde, der nicht raucht. Während die anderen unbeholfen und schnell an ihren Zigaretten ziehen, macht er sich alleine auf den Weg, das Haus zu umkreisen. Die Haustür ist natürlich verschlossen. Da gibt es nichts dran zu rütteln. Doch eine kleine Treppe aus brüchigem Stein führt hinab zum Kellereingang. Diego entscheidet sich, die Treppe herabzusteigen. Er braucht ein paar Versuche, um die schmale Tür zu öffnen. Letztendlich reicht ein kräftiger Stoß mit der Schulter dagegen.
Aufgeregt läuft er zu den anderen, die mittlerweile schon die dritte oder vierte Filterzigarette im Mund haben. Hektisch ziehen sie den Rauch in ihre noch nicht ausgewachsenen Lungen hinein, ersticken die dunkelgelben Filter auf dem Gartentisch und laufen allesamt die Treppe hinunter und in den Keller.
Es riecht, wie es riechen soll. Nach kaltem Staub, nach 50 Jahren Erbsensuppe mit Heißwürstchen. Die Jugendlichen wollen nicht auffallen, obwohl sie wissen müssten, dass niemand zu dieser Zeit am Haus entlanglaufen wird. Sie schalten nicht die Lichter von ihren Smartphones ein. Allein mit der Helligkeit der Displays müssen sie zurecht kommen, müssen sie versuchen die Oberflächen abzuleuchten. Sie durchströmen jede Etage, jedes Zimmer. Es gibt keinen Storm, kein Deckenlicht. Alles ist unberührt und noch komplett eingerichtet. Sie haben keine Angst, nicht vor einem Haus, trotzdem sind sie mit hohem Pulsschlag auf der Hut und sorgsam unterwegs. Nachdem sie alle Räume durchquert haben, verlassen sie das Haus durch den Keller. Sie müssen erstmal Luft holen und sich eine Zigarette anstecken. Johann holt schnell die blaue L&M-Schachtel aus seiner Jackentasche hervor und verteilt die Zigaretten. Sie tauschen sich darüber aus, was sie gesehen haben. Peri schlägt vor, wieder zurückzukommen, wenn es noch nicht dunkel ist, wenn sie eine Chance auf etwas Tageslicht in den Räumen haben.
In den nächsten Tagen treffen sie sich immer öfter in dem Haus, in ihrem Haus, wie sie es mittlerweile nennen. Manchmal schon am Nachmittag direkt nach der Schule. Sie bringen sich Chips (Geschmacksrichtung Sour Cream & Onion), Energy (2 x 1,5l), Erdnüsse (geröstet und gesalzen) und Pfirsichringe (gezuckert) mit. Die Dose der Erdnüsse können sie später als Aschenbecher benutzen, das ist praktisch und weitsichtig.
Sie öffnen zunächst einmal die Fenster in der oberen Etage. Weg mit dem alten Dunst, weg mit der alten Lady. In einem Unterschrank, in der Küche finden sie Putzutensilien, eingestaubt und verkrustet. Einen Eimer, Lappen, Scheuermilch. Sie verteilen die Räume und Aufgaben fair. Mika übernimmt das Schlafzimmer und das Gäste-WC, Diego die Küche und das Arbeitszimmer, Peri macht den Flur und das Bad und Johann übernimmt das Wohnzimmer und die Terrasse. Es sind zwar noch weitaus mehr Räume vorhanden, aber sie beschließen, dass sie nicht sofort alles in Schuss bringen müssen. Fließendes Wasser gibt es leider nicht, deshalb müssen sie sich notgedrungen an der Regentonne im Garten bedienen. Das ist nicht ideal, für den Anfang aber irgendwie okay. Sie arbeiten zügig und gönnen sich zwischendurch natürlich eine Pause. Johann geht dann rum und verteilt Schokoladenriegel mit Himbeergeschmack und Zigaretten.
Sie kennen die Frau, die vor ihrem Tod in dem Haus wohnte, weder vom Namen noch wissen sie, wie sie aussah, denn es hängen keine Fotos in dem Haus. Keine Familienportraits. Es gibt ein paar Fotoalben im Schrank, deren Seiten vergilbt und verklebt sind. Die Gruppe blättert sie gemeinsam durch, doch sie befinden, dass es ziemlich langweilig aussieht.
Im Wohnzimmer haben sie das Mobiliar neu arrangiert, denn der Fernseher ist nun nicht mehr der zentrale Punkt im Raum. Die zwei Sofas bieten extrem viel Platz und der Sessel besitzt einen Hebel, der ihn nach hinten schnappen lässt. Über mehrere Tage richten sich die vier dort ein, sie entwenden ein paar Kerzen aus dem Supermarkt und Diego treibt einen Gaskocher aus dem Hausstand der Eltern auf. Natürlich trinken sie in dem Haus auch Alkohol. Wodka Feige, Wodka-O, Wodka-E und das, was der Vorratsschrank der alten Dame noch hergibt.
Diego liegt im Sessel, zurückgeklappt und die Beine in der Luft, vollkommen betrunken, fertig von der Putzaktion und auch ein bisschen high, er sagt mehr zu sich selbst als zu den anderen: „Wir brauchen unbedingt Strom. Das wär so geil. Oh mein Gott. Ich würd’s so feiern.“
Er genießt die Sitzposition, den Sessel, er genießt auch ein wenig den Kerzenschein. Auf seinem Phone scrollt er ein wenig unzufrieden herum, er wischt mit seinem Finger nach oben, unten, links, rechts, diagonal. „Ach, Rotz“, sagt er und legt das Phone zwischen die Kerzen auf den Tisch. Der Empfang ist sowieso ein schlechter Witz.
Die vier merken schnell, dass das Haus mehr als nur ein kurzfristiges Abenteuer ist, dass sie die Chance auf einen echten Rückzugsort haben, auf ein Versteck, einen Bunker, einen Schutzraum, eine Höhle, ein Spaßquartier. Mika sagt: „Ich bin so unglaublich froh, dass ihr hier seid. Ich wüsste nicht, was ich ohne euch machen sollte. Bitte geht nicht.“ Dann nimmt sie einen tiefen Schluck aus der Energyflasche. Sie schwören sich, dass sie erstmal niemandem von dem Haus erzählen werden, dass sie, so gut es eben geht, diesen Raum für sich nutzen wollen. Denn wovor sie Angst haben ist, dass es sich rumspricht, so wie sich alles schon immer rumgesprochen hat und sich alles immer rumsprechen wird. So wie es sich durch alle Münder rumgesprochen hat, dass Diego Kajal und Nagellack trägt und so wie es sich rumgesprochen hat, dass Mikas Vater während der Scheidung, das Auto ihrer Mutter ohne deren Wissen verkaufte, sich das Geld einsteckte und über die Berge machte, dass Mika seitdem nur noch zu Fuß unterwegs ist und die Leute mitleidig hinterm Lenkrad hervorschauen, wenn sie Mika auf dem Bürgersteig entlanglaufen sehen.
Sie sind es ganz einfach satt. In der Schule, im Sportunterricht, im Bus, im Supermarkt, in der Regionalbahn, im Wartezimmer der Arztpraxis, in der winzigen Straße des Ortes, die sich Zentrum nennt, auf der Sitzbank, die vor Kurzem aus unerklärlichen Gründen abgeschraubt wurde, auf dem Parkplatz der Tankstelle, wenn sie sich sonntags ein kaltes Getränk besorgen wollen, vor und in der Imbissbude, wenn der Hunger auf Fritten doch so groß ist, dass sie nachgeben müssen.
Sie sagen sich: „Das ist das Schönste, was wir je hatten. Wir sind so unglaublich überglücklich hier in diesem Haus, für diesen Sommer. Wir würden am liebsten hier übernachten und uns nicht mehr fortbewegen. Wir möchten uns mit Decken ins hohe Gras legen und nur in den Himmel schauen, das würde uns genügen.“
Doch es kommt, wie es kommen muss: Johann fährt mit seinen Eltern und seinen Geschwistern an die holländische Küste, Peri hat einen Ferienjob angenommen und ist abends zu erschöpft, um sich um das Haus zu kümmern. Am Wochenende feiern sie zwar noch ein paar kleine Parties zu dritt, doch irgendwie ist es nicht mehr dasselbe. Mika und Diego treffen sich regelmäßig, aber seltener in dem Haus. Diego hat nämlich wen übers Internet kennengelernt und ist meistens unter der Woche und manchmal auch darüber hinaus woanders. Mika freut sich natürlich extrem für ihn. Sie sagt: „Es ist zwar nur schwererträglich für mich, dass du von nun an deine Zeit, an einem anderen Ort mit einer anderen Person verbringst, aber gleichzeitig ist das in Ordnung für mich, denn ich weiß, wie sehr du dich danach gesehnt hast.“ Sie drückt ihn fest an sich und streichelt ihm über den Nacken.
Für ein paar Tage geht Mika noch alleine zum Haus. Sie setzt sich in den Garten, das Wohnzimmer, die Küche, auf die Toilette, in den Keller, ins Arbeitszimmer, in die Abstellkammer. Manchmal hört sie Musik dabei, manchmal malt und schreibt sie mit einem Filzstift etwas an die Wände. Mal kleine Skizzen, mal die hässlichsten Beleidigungen, die ihr einfallen. Dann muss sie selbst etwas lachen.
Später wird sie sich, wenn sie in ihrem Studentinnenzimmer zwischen leeren Glasflaschen und einem Haufen von Malblöcken sitzt, nur schwer an das Haus und die Zeit erinnern. Es ist fast wie weggewischt. Eine kurze Episode. Ein mehr oder weniger abgeschlossener Zustand. Sie hat natürlich das Bedürfnis, sich bei den anderen zu melden, zu fragen, wie es geht, wie es ist, was so los ist, wann sie sich wiedersehen, wo sie denn jetzt alle wohnen. Jedenfalls hat sie sich das schon öfter vorgenommen. Aber es ist, wie es ist. Sie hat zurzeit andere Sachen im Kopf und das ist gut so.