Bahntrasse mit blauem Himmel

Parkdeck

Sie stehen am Bahnsteig – die Kids. Gleis 1, Gleis 2 – das ist doch eigentlich egal. Sie stehen an der Treppe, am defekten Lift, vor der Unterführung, in der es aufdringlich nach Urin riecht. Sie hören Goa, Hardtekk, Psy – das ist immerhin nicht egal. Der Gurt der mittelschweren JBL-Box, die sie letztes Jahr auf Ebay-Kleinanzeigen gekauft haben, hängt lässig über der Schulter. Hauptsache der Akku hält noch mindestens drei Stunden. Das wäre äußerst wichtig. 

Es ist warm, sehr warm, wärmer als in den letzten Jahren. Und obwohl es so warm ist, reden sie ununterbrochen vom Ballern und meinen damit die 30/70-Cannabis-Tabakmischung, die sie durch ihre Hände rotieren lassen. Die Wirkung ist zwar nicht besonders intensiv, aber wenigstens etwas spürbar und da an was anderes ist nicht so leicht zu kommen ist, weil der örtliche Dealer zurzeit mit einigen Lieferengpässen zu kämpfen hat, geben sich die Kids schon irgendwie zufrieden damit. Und weil der Zug hier regelmäßig ausfällt, verlassen sie den schmalen Bahnsteig wieder. 

„Ich nehm noch einen Letzten“, sagt einer und wirft dann den Stummel auf den Boden. Pizza oder Pommes ist die Entscheidung, vor der sie stehen, aber eigentlich ist es für beides zu warm an diesem Tag. Sie zucken mit den Schultern, also gut, erstmal ein schattiges Plätzchen suchen. Auf dem Parkplatz vor ALDI oder noch besser in dem unbenutzten Parkhaus mit vier Etagen. Dort ist es verhältnismäßig kühl, dort ist es einigermaßen geschützt.

Die Kids sind frustriert, wie soll es auch anders sein. Sie würden ihren Frust gerne kanalisieren, aber sie noch haben sie nicht die geeigneten Mittel dazu. Im wohligen Schatten des Parkhauses drehen sie sich deshalb zur Sicherheit noch einen Joint.

Es ist nicht so, dass der Ablauf der Dinge hier zum ersten Mal stattfindet und mit Sicherheit auch nicht zum letzten Mal. Es ist fast eine zweckmäßige Routine, eine Abfolge von Ereignissen, die eben so sind, wie sie sind. Nicht gut, nicht schlecht. Irgendwo dazwischen. 

Jemand holt sein Handy aus der Tasche hervor und öffnet einen beliebigen Twitch-Stream, der aus einem Zimmer mit neonfarbenen Lichtröhren gesendet wird. Es ist sowieso kaum etwas zu verstehen, denn der Track, der noch über die Box läuft, ist ohrenbetäubend laut. 

„Ich hör nichts.“
„Na und?“
„Mach mal leiser.“
„Mach selber.“

Das ist der Ort. Eine ausgerollte Betonfläche auf mehreren Etagen. Keine Autos und die Markierungen auf dem Boden schon spröde und aufgeplatzt. Es ist nicht so, dass die Kids nichts zu sagen hätten, aber da es an diesem Tag besonders heiß und drückend ist, sparen sie sich ihre Energie lieber auf. Was sollen sie auch schon großartig Neues erzählen? Jemand hat zwar gerade ein Match bekommen, aber das ist über dreiundfünfzig Kilometer weit entfernt. „Zeig trotzdem mal“, sagt wer anders, und das Handy wird nach und nach herum gereicht. 

„Kann ich was anmachen?“, fragt jemand und macht dann genau jenen Song an, der auch schon die letzten drei Wochen an jedem einzelnen Tag abgespielt wurde. Er ist genau die perfekte Mischung aus Auf und Ab, aus Runterkommen und Hochfahren. „Mach jetzt doch mal lauter bitte.“ Auf dem Parkdeck hallt es ganz schön, und einige der Anwohner werden sicherlich mitbekommen haben, dass die Gruppe der Kids sich dort versammelt hat. Halb so wild, denn die Polizeistation ist unterbesetzt und was sollen sie schon machen. 

Es ist mehr als verständlich, dass die Kids sich dort niederlassen, dass sie dort (wo auch sonst?), diesen und auch jeden anderen warmen Tag verbringen. Dazu gibt’s Fanta Fruit Twist aus der Dose. Sie trinken langsam und genüsslich, aber sie ärgern sich, dass es keine Möglichkeit gibt, die Getränke kaltzustellen. Das fehlt eben noch. 

Letztens erst haben sie erfahren, dass es irgendwo in der Nähe sogar mal eine Diskothek gegeben haben soll. Das ist schon länger her und muss auch noch vor der Zeit gewesen sein, als ihre Eltern herzogen sind, und außerdem sagt niemand mehr Diskothek. Trotzdem reizt sie die Vorstellung, dass es einen Ort gäbe, an dem bis um drei oder vier Uhr extrem laut Musik gespielt werden würde. Dann würde es auch endlich mal etwas anderes geben als das mehr als trockene Cannabis, das durch den Ort zirkuliert. Sie würden natürlich auch selber Auflegen wollen – die Kids. Das ist klar. Wie schön das wäre. Sie würden sich der Reihe nach abwechseln, sie würden miteinander harmonieren, jede und jeder dürfte etwas beisteuern. Natürlich waren sie auch schon mal in einem echten Club. In Dortmund oder Bochum oder so. Die Fahrt war anstrengend und besoffen und der Rückweg umso schlimmer. Jemand hat sicherlich in einen Mülleimer oder zwischen die Sitze der ersten Regiobahn gekotzt. Wenn jemand von ihnen irgendwann ein Auto haben wird, sieht die Sache schon ganz anders aus. 

„Mir ist so heiß“, sagt eine und wischt sich mehrmals über die Stirn, über die Schläfe am Hals entlang. Die Nachmittagssonne wandert nur langsam an den Erhebungen der Landschaft vorbei. Trotz des Schatten, den das Parkhaus den Kids spendet, ist die drückende Luft überall zu spüren. Die Limonadendosen sind leer, und es wäre sicherlich gut, wenn es noch etwas Nachschub geben würde. 

„Ich mach schon“, sagt die Jüngste der Gruppe. Es sind nur sieben Minuten bis zum Supermarkt. Dort drinnen ist es wenigstens schön kalt, und sie kann sich Zeit lassen beim Auswählen der Dosen. Das Kühlregal ist leider schon leer geräumt, also muss sie wohl oder übel zu den ungekühlten Dosen greifen. Das muss okay sein. Sie zahlt den unrunden Betrag mit der Karte und quält sich zurück in die Hitze. 

Sie quert die Bundesstraße, den heißen Asphalt. Sie holt ihr Handy hervor, um ein Foto von den Dosen in ihrer Hand zu schießen. Sie schickt eine Nachricht mit dem Foto in die Gruppe. Die Wetter-App sagt, dass es in den kommenden Tagen regnen soll. Das freut und nervt sie zu gleichen Teilen. Sie öffnet schon mal eine der Dosen, weil sie so unerträglichen Durst hat. Die Kohlensäure ist grob und ihr Mund klebt vom ganzen Zucker.

Um zum Parkhaus zukommen, muss sie eine schmale Steigung hochlaufen. Es dauert nicht lange, vielleicht drei oder vier Minuten, wenn sie einen guten Gang hat, doch der Schweiß sitzt ihr dermaßen im Nacken, dass sie erstmal eine Pause machen muss. Sie ist nicht für dieses Wetter gemacht. Wenn sie ganz ruhig ist, kann sie von der Straße aus schon die Musik aus dem Parkhaus hören. Das fühlt sich irgendwie gut an zu wissen, dass die anderen noch da sind. 

Die Dosen werden schnell geöffnet und auch schnell getrunken, dass sie jetzt nicht kalt sind, ist mittlerweile auch egal. Die Musik scheppert immer noch über das Parkdeck. Es hat sich nichts geändert, und so traurig das auch ist, es wird sich nichts ändern. Nur eine, die, die vorhin die Getränke geholt hat, macht sich auf den Weg zur obersten Etage des Parkhauses. Sie steht dort oben ganz alleine, dann holt sie ihr Handy raus, öffnet eine App und geht live. Sie filmt die Dächer, das trockene Gebüsch, den Verkehr der Bundesstraße. Sie redet einfach drauf los. Sie redet ohne Unterbrechung. Dass niemand ihr dabei zuschaut, ist erstmal zweitrangig. Eine Weile redet sie noch vor sich hin, dann verliert sie die Lust daran und steckt das Handy wieder weg. 

Sie wechselt das Parkdeck. Die Musik ist mittlerweile verstummt. Der Akku hat nicht mehr gehalten. Die anderen sitzen auf dem Boden und ärgern sich, dass das Gras leer ist. Sie zuckt mit den Schultern und sagt: „Ich geh mal.“ Auf dem Weg zur Bundesstraße hört sie, dass sich auf den Gleisen etwas tut. Es ist kaum zu glauben, aber in der Ferne kann sie die Regionalbahn erkennen. Ihr Schritttempo wird schneller, viel schneller. Sie sprintet die Treppen der Unterführung herunter und wieder herauf. Sie achtet nicht mal auf die Anzeige am Zug. Sie springt einfach rein. Und dann, beim Anfahren, sieht sie die anderen langsam die Straße vom Parkhaus herunter schlendern. Jemand hat noch was in der Hand und reicht es weiter. 

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