Das Mädchen – schwarze Hand und schwarze Pädagogik
31. Juli 2017
Vor einer Woche ist George A. Romero gestorben. Seine Zombies leben weiter (den Kalauer konnt ich mir nicht verkneifen). Romeros erster Film, Die Nacht der lebenden Toten von 1968 erfand das Zombie-Genre (neu). Das Bild einer Hand, die aus dem Grab stößt, ist gewissermaßen die „Signature Geste“ der lebenden Toten. Es konzentriert unsere Furcht vor den Rückkehrern in einem einzigen Körperteil. Die Hand der Toten da unten, greift nach uns, den Menschen hier oben. Im Sauerland taucht dieser Mix aus Furcht und Schauder in einer Geschichte voll schwarzer Pädagogik und Rechthaberei auf: In der Schwarzen Hand von Bödefeld.
Im einst sehr, heute immer noch katholischen Sauerland ist man vertraut mit Reliquien von Kieferknochen, Fingern, Schädeln, mit Blut gefüllten Röhrchen von Märtyrern und Heiligen, die in Kirchen aufbewahrt werden – zur Erbauung der Gläubigen. Einige sind schon damals geschickt zum Tourismusmarketing benutzt worden: Gläubige anzulocken, als Pilger, Essen, Tinnef und Unterkunft verkaufen – für manche Dörfer der einzige Wirtschaftsfaktor. Vor 250 Jahren, als die Schwarze Hand von Bödefeld „entdeckt“ wurde, unternahm man aber offenbar nicht den Versuch, daraus eine erbauliche Heiligengeschichte zu machen, auf dass die Menschen zu besseren Menschen würden. Was die Zeit überdauerte, ist eine bittere Geschichte (eigentlich zwei) von Strafe und Sühne.
In Bödefeld wird in einer kleinen Nische in einer Säule der Pfarrkirche eine abgeschnittene Mädchenhand aufbewahrt. Sie liegt dort schön ausgeleuchtet auf einem Kissen hinter Glas. Erste Überraschung: die Schwarze Hand ist eigentlich braun. Schwarz ist als Werbesprech natürlich besser, klingt nach Verderben und Dunkelheit.
Das Mädchen, zu dem die Hand gehörte, soll jedenfalls irgendwann um 1750 versucht haben, seine Mutter zu schlagen. Wie in einem Grimm Märchen starb das Mädchen bald danach. Als der Priester einige Tage später am Grab des Mädchens vorbeiging, ragte die Hand der Kleinen aus dem Grab, schwarz und unverwest. Er schob sie zurück ins Erdreich (man schreibt plötzlich blumig, wenn es um Märchen geht), aber auch am nächsten Tag ragte die Hand wieder hinaus. Da schnitt er sie ab und bewahrte sie fortan in der Kirche auf – als Mahnung für ungezogene Kinder. Brrr – Struwelpeter und Zombiegeschichte in einem.
Die andere Variante der möglichen Ereignisse ist nicht weniger morbid, dafür wenigstens nicht so schwarz-pädagogisch. Es gab offenbar auch im 18. Jahrhundert noch Indizienverfahren, mit höchst fragwürdiger Beweisführung, ähnlich dem Hexentest: Frau wird gefesselt und ins Wasser geworfen. Geht sie unter, ist sie keine Hexe. Und so wollte man damals Mörder überführen, indem man sie zu den Gemeuchelten brachte, um ein „Gottesurteil“ fällen zu lassen. Begannen die Wunden der Toten wieder zu bluten, war der Mörder gefunden. War die Leiche zum Zeitpunkt des Tests schon beerdigt, schnitt man ihr die rechte Hand ab und führte damit die Prüfung durch. Es waren wilde Zeiten.
Diese zweite Variante klingt zeitgemäß weltfremd und nach rationalen Erklärungen suchend wie bei der Vorstellung die Sterne seien Löcher im Samt des Himmels oder Erdbeben ein Zeichen, dass die Götter des Olymp kämpften. Aber wenigstens ist der Erklärungsversuch versucht rational und nicht so kalt und moralisch, wie der erste. Immerhin ging es um Gerechtigkeit.
Die weitaus populärere Geschichte ist im Sauerland aber bis heute die erste Variante der aus dem Grab stoßenden Hand eines aufmüpfigen Mädchens. Sie hat die Zeit überdauert – mit Nutzen für Tourismus auch in den Jahrhunderten danach. Aber warum gefällt der Kirche diese Geschichte? Warum wird die Hand noch imer aufbewahrt?
Versetzen wir uns in die Lage eines Gläubigen, eines Christenmenschen. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die man nicht erklären kann. In Ordnung. Stimmt auch. Aber in der Logik des Neuen Testaments, frage ich mich: Warum bitte soll das tote Mädchen die Hand ausstrecken, hinüberlangen aus seinem Grab zu den Lebenden, wenn nicht zur Versöhnung mit der Mutter oder zur Entschuldigung? Oder aus Einsamkeit. Mal jesuschristlich gedacht, im Sinne von Nächstenliebe als höchstem Gebot und so. Und dann schneidet dieser moralinsaure Pfarrer ihr die Hand ab, um sie zur Schau zu stellen und Generationen von Kindern Angst zu machen. Schneidet sie ab, weil er in der ausgestreckten Hand nicht Versöhnung sieht, sondern eine weitere Geste des Widerstands gegen die Eltern, die Obrigkeit, die natürliche Ordnung. Seit 250 Jahren und nun einfach weiter. Für die Ewigkeit?
Manche werden sagen, auch wegen solch Geisteshaltung ist die Kirche jetzt da, wo sie nunmal ist. 1750 klingt auch nur scheinbar weit weg: Während ich dort vor der kleinen Hand stand, erinnerte ich mich an Geschichten von „Erziehungsmaßnahmen“ der Nonnen auf der katholischen Schule meiner Mutter in Attendorn der 50er Jahre dieses Jahrhunderts oder im katholischen Kindergarten meiner Frau im Neapel der 70er Jahre. Die trugen den gleichen Geist in sich.
Steckt in der beharrliche weiter erzählten Geschichte und Präsentation der Hand nicht dieser doch längst überholte, kalte Blick auf Kinder und Erziehung?
Die Hand endlich zu beerdigen, wäre dagegen eine versöhnliche Geste. Eine Geste wie sie das Mädchen sogar nach seinem eigenen Tod offenbar fertigbrachte – wenn man denn nun an die erste Geschichte glaubt. Und falls die Hand doch von einem ermordeten Kind stammt und Teil eines „Gottesgerichts“ war, was macht sie dann noch in einer Kirche? So oder so: 250 Jahre Missbrauch für entweder fragwürdige Moralvorstellungen oder marzialische Strafen sind genug, finde ich. Warum reicht man dem Kind nicht die Hand zur Versöhnung und lasst es dann in Frieden ruhen.
Bezeichnenderweise finden sich in einem Text über die „Schwarze Hand“ im Schaukasten vor der Pfarrkirche folgenden Zeilen, in Bezug zur zweiten, unpopulären Herkunftsgeschichte der Hand, der Überführung eines Mörders: „Sollte diese Deutung richtig sein, müsste man dem guten Mädchen Abbitte dafür leisten, daß man immer von ihrer Freveltat an der eigenen Mutter erzählt.“ Gutes Mädchen. Müsste. Freveltat. Das klingt nicht nach „im Zweifel für den Angeklagten“ und nach Versöhnung. Es klingt gleichgültig und kalt und weiterhin nach „hat noch keinem (Kind) geschadet“ und so weiter. Es wird aber doch sehr viel von Verzeihung und Vergebung gepredigt. Nun ließe sich das mal leicht tun.
Mir ist jedenfalls nicht wohl bei der Vorstellung, wie die Hand des zur Versöhnung bereiten oder eben eines ermordeten Kinds da Nacht für Nacht allein im Dunkeln der Kirche liegt. Auch nach 250 Jahren – um eine der duteznden Hand-Metaphern zu verwenden – hält offenbar niemand seine Hand über das Mädchen. Wenn das Kind eines Tages zurückkommt, sich seine fehlende Hand zu holen und für Gerechtigkeit zu sorgen wie in einem George A. Romero Film, es wäre nicht überraschend.
#stadtlandtext