Ich möchte mich nicht vergessen

Alfred ist ein Kundschafter, sagt Tina und ruft: Alfred! Alfred bleibt zwar stehen, aber ohne sich umzudrehen. Er hat die Aufgabe, vorne zu sein und zu gucken, sagt Tina.

Alfred ist ein Therapiehund. Tina setzt ihn ein, wenn sie zu ihren Patienten ins Pflegeheim geht; die Patienten lieben ihn. Nicht, weil er so verschmust ist, das ist offenbar nur meine eigene Vorstellung von einem Therapiehund. Sondern, erklärt mir Tina, weil er so geduldig ist. Und weil ich anhand seines Verhaltens Dinge erklären kann.
Was denn zum Beispiel? Zum Beispiel komme ich mit Alfred ins Patientenzimmer. Alfred beachtet den Patienten gar nicht, sondern schaut aus dem Fenster. Typisch, sagt der Patient. Für mich interessiert sich niemand, nicht einmal ein Hund.
Vielleicht liegt es ja gar nicht an Ihnen, sage ich dann. Vielleicht liegt es daran, dass sich ein Hund zunächst einmal für die Vorgänge da draußen interessiert. Viele Patienten erkennen dann, dass jeder eine eigene Perspektive hat. Selbst ein Hund. Und umso mehr freuen sie sich dann, wenn Alfred sich streicheln lässt, das mag er nämlich auch gerne.

Für den Spaziergang mit Tina habe ich die Straße der Arbeit verlassen, wir gehen durchs Neandertal wie auf einem endlos grünen Teppich aus Wald und Wiese und sprechen über ihren „seltsamen“ Karriereweg. Sie kommt aus der Nähe von Bad Münstereifel, und hatte überhaupt keinen Plan, was sie mal werden wollte. Das war die Zeit, in der man Frauen in Männerberufe holen wollte, da sagte mein Lehrer, dat wär doch wat für dich, Tina. Ja, dat wär was für mich, – aber mehr aus dem Stolz heraus, das er mich da drin gesehen hat, schiebt sie hinterher; und in ihrer Stimme schwingt dieser Stolz noch immer mit, aber auch die Distanz der Jahre und wie sie ihr jüngeres Ich ein bisschen belächelt, auf eine freundliche Art.

Wieso denn nicht die große weite Welt?

Sie kommt aus einer Handwerkerfamilie und das Burschikose des Handwerks strahlt auch Tina aus. Zunächst hat sie bei einem Bauschreiner ein Praktikum gemacht, aber das war mit harter, körperlicher Arbeit verbunden, mit sehr viel schwerem Tragen. Also half sie lieber beim väterlichen Betrieb mit, der auf das Bauen von Gartenhäusern spezialisiert war, sie strich die Häuschen an und suchte sich dann einen Ausbildungsbetrieb in der Nähe. Einen, den ich mit dem Mofa erreichen konnte. Das Praktische stand im Vordergrund.

In Bad Münstereifel ist sie immer an einem Reisebüro vorbeigelaufen, da hätte ich gerne gearbeitet, aber das hätte ich mir nie zugetraut. Ich komme vom Dorf, was soll ich da den Leuten erzählen von der großen weiten Welt?, ruft ihr jüngeres Ich, das die Antwort schon weiß, und Alfred, der die Antwort noch nicht weiß, dreht sich um zu uns und schaut erstaunt: Wieso denn nicht die große weite Welt?

Bleib lieber bei dem, was du dir zutraust, sagte Tina sich und schloss ihre Ausbildung als Anstreicherin ab. In den zwei Jahren, die ich dort gelernt habe, hatte ich jeden Montag eine Magenschleimhautentzündung. Jeden Montag morgen war mir schlecht, weil ich mich wieder mit dem Meister auseinandersetzen musste. Der war nicht bösartig, aber er wollte mich erziehen. Wie man richtig zu sein hat. Zum Beispiel, dass man nicht reden darf auf der Arbeit. Ich hatte mal eine Suppenterrine dabei und die Leute nach heißen Wasser gefragt, für so etwas habe ich sofort eins auf den Deckel bekommen. Ich sollte möglichst unsichtbar sein.

Alfred komm, ruft Tina und wir biegen ab und laufen in ein Dorf, von dem ich später, als ich den Text schreibe, keine Ahnung mehr habe, wie es dort ausgesehen hat. Tina und Alfred kennen den Weg, in meiner Erinnerung gehen wir eine lange Schleife und überall duftete es nach Blumen, Gras und Moos. Und nach Hund, denn als wir Pause machen, darf ich Alfred streicheln und mit beiden Händen fest in sein dichtes Fell greifen und ihn kraulen. Er lehnt sich an mein Bein und lässt seine Zunge aus dem Maul baumeln.

Das Kind im Brunnen

Mein damaliger Freund studierte Maschinenbau in Aachen, also saß ich da mit dem Studienbuch und dachte, was studierst du denn jetzt? Bei Sozialarbeit blieb sie hängen, das Fach erschien ihr machbar, wie Tina sagt. Warst du die erste in der Familie, die studiert hat?, frage ich. Ja klar, sagt Tina und beschreibt, wie sie sich im Sekretariat anmeldete und schon bei der Frage: Sozialarbeit oder Sozialpädagogik überfordert war. Wo ist denn der Unterschied? Und bekam zur Antwort: Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, stehen die Sozialpädagogen herum und fragen, wie konnte das nur passieren? Die Sozialarbeiter fragen, wie kriegen wir das Kind wieder heraus.

Sie entschied sich für Sozialarbeit.

Wir lachen.

Nach dem Studium fing sie in einem Wohnheim für psychisch erkrankte Menschen an, und da war ich total erstaunt, wie meine Kolleginnen sich über Menschen austauschten. Wie sie über Methoden und theoretische Behandlungsansätze sprachen. Es reichte nicht, Sozialarbeiterin zu sein, man musste sich auch so verhalten! Das war mir vollkommen fremd, diese Erkenntnisse hatte das Studium in mir nicht hervorgerufen. In Psychologie hatte sie einen Professor, der tiefenpsychologisch gearbeitet hat – auch mit uns Studentinnen und der hat einfach bei jeder Frau vorausgesetzt, dass es da etwas gibt in ihrer Kindheit, wovon sie nichts weiß. Dass da was mit euch passiert ist, das ihr gar nicht wisst! Da kommst du, sagt Tina, als ungepelltes Ei natürlich ins Grübeln, wer könnte das gewesen sein, wer könnte mir etwas angetan haben? Natürlich hat es auch bei einigen gestimmt, denn die Wahrscheinlichkeit ist schon recht hoch, dass eine Frau Missbrauch oder andere Gewalt erfahren hat. Mir aber hat es ein schlechtes Gewissen gemacht, als würde ich keine Verantwortung übernehmen wollen, für das, was mir vermeintlich passiert ist.

Trotz aller vermuteten Unzulänglichkeit stellte sie bald fest, dass sie mit ihren Patient:innen sehr gut zurecht kommt und schnell Zugang zu ihnen hat.

Wahrscheinlich, sagt Tina, weil nicht alles, was mir erzählt wurde, gleich eine Methode nach sich zog.

Sie hat, denke ich beim Abhören der Aufnahmen, die Fähigkeit, Ironie so zu verpacken, dass es sich absolut nicht ironisch anhört. Man könnte auch sagen, sie verzichtet auf die Methoden der Ironie, sie ist es einfach.

Eigentlich ist der Mensch immer falsch

Mit ihrem Mann ist sie schließlich nach Mettmann gezogen, wo sie in der Tagespflege für Psychisch Erkrankte arbeitete. Da ging es vor allem darum, dass die Leute in eine Tagesstruktur kommen und nicht wieder in eine Depression verfallen. Sie vielleicht sogar wieder fit für den Arbeitsmarkt werden. Dass sie sich überhaupt wieder als wertvolle Menschen fühlen, obwohl sie ja dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen. Das ist nämlich stark miteinander gekoppelt. Es ist Wahnsinn, sagt Tina, wie schnell du aus so einem Rasterleben heraus auf eine schwarze Seite fällst, wenn du nicht mehr genügst.

Wir gehen über ein offenes Feld, ich höre den Wind, der ins Mikro pfeift. Bei den Bewerbungstrainings wird einem vermittelt, dass es an einem selbst liegt, wenn man keinen Job bekommt. Wenn du so und so auf dem Stuhl sitzt, dann wird das nix. Eigentlich ist der Mensch immer falsch, deshalb musst du ihn formen, dann ist er richtig!

Es heißt ja immer Psychisch Kranke, aber das ist eigentlich falsch. Sie sind ja nur er-krankt, vorübergehend erkrankt. Dann lassen wir sie halt mal so, wie sie jetzt gerade sind! Sie hat zum Beispiel im Sommer Weihnachtslieder abspielen lassen, um den Besucher:innen zu zeigen: Verrückte Zeiten. Nicht bekloppt, nur verrückt! Da ist sie wieder, denke ich begeistert, diese sehr spezielle ironiefreie Ironie.

Es ist wichtig, dass ich mit dabei bin

Alfred, der Saunickel, ist verschwunden. Tina ruft nach ihm, aber er kommt nicht. Der merkt natürlich, die ist am Quatschen, da schau ich lieber mal selbst, wo was los ist.

Der Tod ihres zweiten Kindes stürzte sie in eine schwere Krise. Aber es musste weitergehen, nur wurde das Weiter immer schwerer. Die Trauer begleitete die ganze Familie, wir waren irgendwie gedämpft, sagt Tina. Dann starb der Vater, der Schwiegervater, die Mutter. Da war der Ofen dann langsam aus. Sie machte eine Mutter-Kind-Kur und kam dort das erste Mal mit Kunsttherapie in Berührung. Ich kann aber nicht malen, sagte sie. Egal, sagte die Therapeutin. Sie malte die Familie: die Kinder, den Mann, die Eltern, die Schwiegereltern. Fertig?, fragte die Therapeutin. Fertig, sagte ich. Und wo sind Sie?, fragte die Therapeutin. Da habe ich, erzählt Tina, einfach vergessen, mich selbst mit auf das Bild zu malen.

Kalkofen im Neanderthal, wurde 1672 zum ersten Mal urkundlich erwähnt.

Das war für mich der Schalter. So möchte ich nicht leben. Ich möchte mich nicht vergessen. Es ist wichtig, dass ich mit dabei bin. Und es war toll zu merken, dass ich mich über das Malen offenbar so tief ausdrücken kann. Dass da eine Wahrheit ans Licht kam, die mir nicht bewusst war. Und dafür muss ich noch nicht mal gut malen können.

Da ist der Alfred ja wieder, haste gut gemacht, sagt Tina, weil Alfred zurückgekommen ist. Wir gehen runter ins Tal.

Sie begann eine Ausbildung als Kunsttherapeutin. Ihr Mann unterstützte sie und sie stürzte sich mit vollem Elan in die neue berufliche Richtung. Im ersten Jahr war es vor allem Selbsterkunden. Und sie lernte, wie man ein echtes Feedback gibt: nicht bewerten, nicht interpretieren. Nur beschreiben. Was sehe ich? Wie ist das Bild gemacht? Das musst du üben, sagt Tina, bis du das verinnerlichst.

Schau mal, ein Reiher. Wir bleiben stehen. Hier ist beim letzten Unwetter ein Junge schwer verletzt worden. Ein Baum ist umgefallen und hat den Jungen beim Radfahren erwischt. Eine große Baumlücke klafft auf der Seite des Weges, und auf der anderen Seite, parallel zur Düssel, sieht man die Leitplanke, die erneuert worden ist. Oft läuft sie hier mit Alfred entlang, bevor sie ins Hospiz geht, wo sie seit 13 Jahren als Kunsttherapeutin arbeitet. Die Sozialarbeit ist quasi im Rucksack mit dabei.

Zusätzlich hat sie noch einen Honorarjob im Krankenhaus, doch da hat sie kürzlich gekündigt. Um Coronapatienten aufnehmen zu können, hatte das Krankenhaus die Palliativstation einfach geschlossen! Zack!, ruft Tina empört. Die Betten wurden für Coronapatienten vorgehalten – aber es lag ja keiner drin. Und dafür wurde monatelang eine Palliativstation geschlossen! Ich finde das so falsch, sagt sie. Und loyal sein zu können, das ist für mich die Grundvoraussetzung, um irgendwo zu arbeiten. Wenn ich in einem System nichts ändern kann, dann will ich wenigstens das System nicht weiter stärken. Bewundernswert, sage ich. Naja, das war schon ein ziemliches Hin und Her, sagt Tina. Und finanziell desaströs.

Und Alfred? Als die Familie sich entschloss, einen Hund zu bekommen, wollte sie wissen, wie so ein Hund funktioniert und hat mit ihm eine Hundetherapieausbildung gemacht. So ein Elo ist wirklich ein fantastischer Hund, sagt sie. Der strahlt dich nicht den ganzen Tag an, aber das würde mir auch ziemlich auf den Geist gehen.

Alfred nimmt sie nicht nur zur Kunsttherapie mit, sondern bietet auch den Hundeführerschein im Kindergarten an. Die Kinder lernen zum Beispiel, wie man sich verhält, wenn man Angst hat. Weglaufen und schreien ist das Gegenteil von dem, was man tun sollte. Ach, denke ich, hätte ich das als Kind auch gelernt!

Alfred ist mit einem anderen Hund beschäftigt und reagiert nicht auf Tinas Rufen. So eine Hundebegegnung ist eben interessanter, sagt Tina. Wenigstens hat er keinen Jagdinstinkt und läuft keinen Wildtieren hinterher.

Die Kinder waren nicht angeschaltet

Das könntest du ja auch ausbauen, das Hundetraining, sage ich. Nö, sagt Tina prompt. Das ist viel zu anstrengend. Auch für Alfred. Wenn dann fünf Kinder den Hund streicheln, sage ich: So, jetzt wechseln wir mal, wer will denn mal der Hund sein? Und der, der besonders doll war, bekommt dann die Rolle vom Hund und dann merkt er schnell, dass er das schon nach 20 Sekunden nicht mehr sein will. Siehste, so geht’s dem Hund auch. Das kommt gut an, aber ist sehr anstrengend. Du hast den Hund, du hast die Kinder – und du hast die Erzieher.

Bei der letzten Prüfung ist es wirklich schlecht gelaufen. Die Kinder waren gar nicht richtig angeschaltet. Manche können noch nicht mal die Leine richtig halten. Keine Körperspannung, das merkt der Hund sofort, dann geht der weg. Dann muss ich denen erst mal beibringen, wie man eine Verbindung herstellt. Wie man eine Beziehung aufbaut.

Denn eine Leine halten, das bedeutet letztlich: den Kontakt halten, zum Hund, aber auch zu sich selbst.

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Wanderung durchs Neandertal entlang der Düssel
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

Mehr von Ulrike Anna Bleier

Der Arbeitsvorbereiter (Teil II)

Mein Radius ist nicht besonders groß, sagt Marc, der im Nachbardorf geboren und in Müllenbach aufgewachsen ist und immer hier gelebt und immer hier gearbeitet hat, der hier geheiratet hat und hier wohnt mit seiner Frau. Bereits seine Eltern und Großeltern waren in Müllenbach verwurzelt. Marcs Leidenschaft ist Geschichte, die Weltgeschichte wie die regionale Geschichte, was auch ein bisschen damit zu tun hat, dass sein Nachbar Manfred Berges war, ein Historiker. Der hat sich wie Harry Böseke für das Bergische Land interessiert und zu verschiedenen Themen geforscht. An einem Ort verwurzelt sein, schließt Neugierde und Weltoffenheit nicht aus.

Ohnehin kommt die Welt von selbst ins Bergische. Schon in Harry Bösekes Buch über die Bergische Eisenstraße kann man eindrucksvoll nachlesen, wie die Arbeit in der Region immer auch von Migranten geprägt war. In den Gruben arbeiteten bereits im 19. Jahrhundert Fachkräfte aus Italien, die technisch versierter waren als die hiesige Bevölkerung, die meist aus der Landwirtschaft kam. Auch Marc hat in seinem Unternehmen mit Menschen aus aller Welt zu tun. Sein Chef sitzt in Illinois, USA, er hat Kollegen, die von Dänemark, Norditalien oder Polen aus zu Videomeetings zugeschaltet sind.

Wo Atomsprengköpfe lagerten

Brucher Talsperre

An der Brucher Talsperre machen wir Pause, trinken Wasser und Tee und essen unsere mitgebrachten Brote. Viele Sonntagsspaziergänger haben das schöne Wetter genutzt und spazieren gemächlich um den See, Marc trifft einen alten Schulfreund, man grüßt sich. Die Talsperre ist künstlich angelegt, vorher soll hier eine Mühle gewesen sein. Das Oberbergische, sagt Marc, war das Ruhrgebiet des Mittelalters. Man muss sich die Gegend so vorstellen, dass eigentlich an jeder Ecke eine Mühle war, wo Werkzeug, Schießpulver und Textilien hergestellt wurden. Die wurden auch mit Wasserkraft angetrieben. A propos Schießpulver: Es gab sogar eine Zeit, sagt Marc, da waren in Marienheide atomare Flugabwehrraketen stationiert. Im Ernstfall wären die US-Atomsprengköpfe auf die Raketen montiert worden.

Die Sprengköpfe lagerten da aber nicht, oder, sage ich. Doch, sagt Marc, die waren da, die wurden allerdings von amerikanischen Soldaten bewacht und verwaltet, denn das war bis 1987 amerikanisches Hoheitsgebiet.

Ehrenamt als Schöffe in Köln

Neben seinem Job in der Prozesssteuerung hat Marc auch ein Ehrenamt inne, und zwar als Schöffe an der Jugendstrafkammer des Landgerichts Köln. Die Kommunen müssen eine bestimmte Anzahl an Schöffen bereitstellen, erzählt Marc. Er sei damals einem Aufruf der Stadt Köln gefolgt. Man könne aber auch zu diesem Ehrenamt verpflichtet werden, wenn es nicht genug Freiwillige gebe. Seit einigen Jahren fährt er etwa fünf Mal im Jahr nach Köln in die Luxemburger Straße und beschäftigt sich mit straffällig gewordenen Jugendlichen. In diesem Jahr ist er als einer von zwei Schöffen sowie einer hauptamtlichen Richterin bei der Kleinen Jugendstrafkammer. Ich bin sozusagen auch Richter, aber ohne richtige Ahnung. Gerade hier auf den Dörfern, sagt Marc, gibt es viele, die möchten die Probleme am Stammtisch lösen. Die haben dann so gewisse Vorstellungen, wie mit gewissen Delinquenten umzugehen ist. Wir lachen und in unserem Lachen schwingt ein Fatalismus mit.

Bei der Kleinen Jugendstrafkammer geht es um Strafen von maximal 1-2 Jahren, also um die kleinen Dinge, sagt Marc. Besonders interessant findet er, wenn das eigene Ressentiment mit den Prinzipien der Gesetzgebung und Rechtsprechung kollidiert. Gut und böse ist nicht immer so geordnet, wie man das vielleicht gerne hätte. Hinzu kommt, dass die Beweislage selten eindeutig ist, oft steht Aussage gegen Aussage. Und dann, sagt Marc, gibt es eben die Gesetzeslage. Man kann nicht, nur weil man persönlich Lust dazu hat, jemanden für zehn Jahre ins Gefängnis sperren.

Oberhalb der Brucher Talsperre gehen wir durch die Bahnunterführung; hier war früher der Güterbahnhof Holzwipper. In Müllenbach gab es Steinbrüche, erzählt Marc, und so hat man über eine Lorenbahn die Grauwacke zum Bahnhof transportiert, verladen und über Köln in alle Herren Länder verschickt.

Der alte Güterbahnhof strahlt eine gewisse Melancholie aus. Auch das Wort Grauwacke strahlt eine gewisse Melancholie aus. Und die Bäume schauen und schweigen wie Zeugen, die die Aussage verweigern.

Persönlich verspürt man durchaus mal den Impuls, Unrecht zu rächen, dann wird einem wieder bewusst, wie gut es ist, dass es Gesetze gibt und dass im Mittelpunkt des Strafrechts die Resozialisierung steht. Dass es objektive Kriterien gibt, die sich zum Beispiel strafmildernd auswirken. Ich möchte schon mehr als Laienwissen haben, sagt Marc. Ich lerne dann immer sehr viel von der fachlichen Einschätzung durch die hauptamtliche Richterin. Man erfährt also nicht nur viel von den Schicksalen und Lebensläufen anderer Menschen, sondern auch darüber, wie man selbst tickt.

Schwarzpulver in Ohl

Harry Böseke: Die Bergische Eisenstraße

Der Bus zurück fährt erst in einer halben Stunde, aber immerhin fährt er. Um uns die Wartezeit zu verkürzen, schauen wir noch beim Bergisch-Märkischen Pulvermuseum vorbei – das einzige Museum dieser Art weltweit, beheimatet in der schmucken Villa Ohl, dem schönsten Haus am Ort. Es hat um diese Jahreszeit noch geschlossen, aber auf der Webseite des Pulvermuseums erfährt man etwas über die Zeit, in der man mit der Herstellung von Schwarzpulver im Bergischen noch Geld verdienen konnte. Zahlreiche Kriege und Konflikte im Mittelalter – Dreißigjähriger Krieg, Schwedenkriege, aber auch gewalttätige Auseinandersetzung mit der Grafschaft Mark – waren eine Goldgrube für die Mühlen. Zudem wurde das Schwarzpulver für die Jagd und vor allem für die Arbeit in den Steinbrüchen benötigt. Schwarzpulver besteht aus Schwefel, Salpeter und Holzkohle und hat die Eigenschaft, den Fels nur zu lösen und nicht zu zertrümmern, schreibt Harry Böseke in seinem Buch über die Bergische Eisenstraße.

Für die Region waren die Pulvermühlen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Vor zweihundert Jahren gründeten dann die Pulverfabrikanten Cremer und Buchholz ihre erste Fabrik; von Wipperfürth-Ohl aus belieferten sie die ganze Welt mit der explosiven Mischung, wie es in einem WDR-Beitrag über das Museum heißt.

Pulvermuseum in Wipperfürth-Ohl

Mit explosiven Mischungen wird auch heute noch Geld verdient, auf der ganzen Welt. Wahrscheinlich sehr viel mehr, als in die Brucher Talsperre passen würde, würde man sie mit Geld statt mit Trinkwasser füllen. Aber eben nicht mehr im Bergischen.

Der Arbeitsvorbereiter, Teil I lesen Sie hier

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Die Straße der Arbeit III von Müllenbach nach Wipperfürth-Ohl
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

Mehr von Ulrike Anna Bleier

Der Arbeitsvorbereiter (Teil I)

Ich fahre mit dem Bus nach Müllenbach, Fahrtzeit: 21 Minuten. Über Nacht hat es geschneit, die kahlen Hänge sehen gespenstisch aus. An der Haltestelle Dorfmitte muss ich aussteigen. Vom Bus aus sehe ich Marc schon in der überdachten Bushaltestelle stehen.

Müllenbach ist die Wiege der Straße der Arbeit. Marc zeigt mir das Haus der Geschichten, das Haus, in dem bis vor wenigen Jahren Harry Böseke, Erfinder der Straße der Arbeit und Autor des gleichnamigen Buches, gewohnt hat. Einmal im Monat kamen die Leute nach Müllenbach, um antiquarische Bücher zu leihen oder zu tauschen, Lesungen und Vorträge zu hören, es gab Kaffee und Kuchen. Es war immer was los. Auch Marcs Mutter war im Haus der Bücher aktiv gewesen. Es gibt in der Gegend kaum jemanden, der Harry Böseke und das Bücherdorf nicht kannte. Als Harry starb, starb mit ihm auch das Bücherdorf. Nur seine Bücher gibt es noch. Und die Straße der Arbeit. Und auf der laufen wir jetzt Richtung Börlinghausen.

Metamorphosen eines Familienbetriebs

Marc ist gelernter Industriemechaniker, das ist ein Schlosserberuf in der Industrie, er hat nach Lehre und Gesellenprüfung verschiedene Weiterbildungen und schließlich auch seinen Meister gemacht – der klassische Werdegang, sagt Marc. In den letzten 30 Jahre war er durchgehend in der Industrie tätig. Die Industrielandschaft hat sich stark verändert in dieser Zeit, viele Firmen haben Personal abgebaut oder ihre Produktion in andere Länder ausgelagert, und entsprechend oft hat auch Marc das Unternehmen gewechselt. Im Laufe der Zeit ist er von der Herstellung in die Konstruktion und Planung aufgestiegen. Aktuell arbeitet er in der Arbeitsvorbereitung und plant und steuert die Prozesse. In diesen Bereichen ist immer stärker digitalisiert worden. In der Firma, in der ich den Beruf gelernt habe, gab es EDV bereits in den 1990er Jahren, das waren riesige Apparate, die hatten diese 13-Zoll-Monitore in Gelb, grüne Schrift, keine Grafik. AS400 hießen die. Davor gab es eine Lochkartenanlage, das habe ich aber selbst nicht mehr miterlebt.

Seit zwei Jahren arbeitet er in einem Unternehmen, das Bremsbeläge für Lkw herstellt. Schon sein Vater war dort 45 Jahre lang angestellt. Damals war es noch ein Familienbetrieb. Der hat dann aber einige Metamorphosen durchgemacht, wurde an einen Konzern verkauft, dann an den nächsten Konzern. Aber es gibt das Unternehmen immer noch, und durch einen Zufall ist Marc nun ebenfalls hier gelandet. Er steht allerdings nicht mehr selbst in der Halle, sondern steuert die Arbeitsvorbereitung und Fertigungssteuerung. Weil diese Prozesse mit SAP gesteuert werden, unterhalten wir uns die nächste Viertelstunde über Fußball und den FC Hoffenheim, deren Hauptsponsor der Gründer von SAP Dietmar Hopp ist.


Hier könnte ein Exkurs darüber stehen, ob man Fußball als Arbeit bezeichnen kann.

Marc hat die Wanderroute, die ich ihm gemailt habe, komplett abgespeichert und weiß auswendig, wie wir gehen müssen. Eine perfekte Arbeitsvorbereitung.

Wir hatten früher deutlich mehr Industrie hier in Marienheide, sagt Marc, das waren Quoten von 70 Prozent im verarbeitenden Gewerbe, mit Fabriken, die 600 bis 700 Angestellte beschäftigten. Er fasst die Geschichte der Arbeit im Oberbergischen so zusammen: Früher gab es hier überwiegend Landwirtschaft, dann haben die Leute in den Gruben und Steinbrüchen gearbeitet, nach dem 2. Weltkrieg sind sie in die Fabriken gegangen. Deshalb war Arbeit für Marc, der hier aufgewachsen ist, immer etwas, das mit Handwerk und Herstellung zu tun hatte. Erst in den letzten 30 Jahren ist der Dienstleistungssektor dominant geworden.

Wo die Wupper noch Wipper heißt

Seine erste Stelle hatte er in einem Betrieb, der Laden- und Betriebseinrichtungen herstellte, Regale aus Metall zum Beispiel, für Supermärkte. Schon sein Opa und seine Mutter arbeiteten in dieser Firma, allerdings nicht zur selben Zeit wie Marc. In der Abteilung, in der Marc gearbeitet hat, wurde viel geschweißt. Wir haben das Material zugeschnitten, das waren Stahlprofile, die wurden geschnitten, gebohrt, geschliffen, alles in klassischer Handarbeit, sagt Marc und ich sehe Marc in einer sehr großen Fertigungshalle mit hohen Decken stehen und schweißen, hämmern und schleifen und an einer Wand sehe ich, wie immer mehr Regale dazukommen und nun sehe ich eine Kette und dann mehrere Regalketten, und plötzlich stehen die Regalketten nicht mehr in der Fertigungshalle, sondern im Supermarkt, im Lidl, denn ich denke bei Supermarkt immer Lidl, weil ich mal neben einem gewohnt habe (Damals als die Verkäuferinnen bei Lidl noch die Preise aller Produkte auswendig wussten, was ich immer bewundert habe.)

Wir sind mittlerweile in Börlinghausen und schauen uns die Quelle der Wupper an, die man vor dem Restaurant „Zur Wupperquelle“ besichtigen kann. Wobei, sagt Marc, dies hier nur die stilisierte Quelle der Wupper ist. Denn die Wupperquelle speist sich eigentlich aus drei Dutzend Mulden auf der anderen Seite des Hauses. Hier in Börlinghausen heißt die Wupper übrigens Wipper, erst ab Wipperfürth-Ohl heißt sie dann Wupper.

Wann hat es aufgehört mit dem Schnee?

Wir sprechen über den Schnee. Auf den Aufnahmen, die ich von unserem Gespräch gemacht habe, kann man das Knirschen unserer Schritte auf den gefrorenen Wegen hören. Müllenbach war mal ein Wintersportzentrum, erzählt Marc, es gab Skilifte, es gab sogar eine Sprungschanze hier, aber das war noch vor meiner Zeit, sagt Marc, in den 1920er Jahren. Ich weiß nicht genau, wann es endgültig aufgehört hat mit dem Schnee, sagt Marc. Anfang der 1990er Jahre kaufte man noch eine neue Pistenraupe, aber schon bald schneite es nur noch selten. Und dann noch seltener. Der Skilift ist inzwischen abgerissen.

Wir suchen die richtige Abzweigung, um zur Brucher Talsperre zu gelangen, ich kenne das hier ja seit Jahrzehnten, sagt Marc, aber ohne Bäume sieht alles ganz anders aus. Ich bin ja mit diesen Fichtenwäldern aufgewachsen. Die Fichten nannte man auch Preußenbäume, weil die Monokultur eine Idee der Preußen war.

Naja, immerhin ist jetzt die Aussicht besser. Man kann zwar nicht ganz bis nach Preußen schauen, aber immerhin bis nach Westfalen.

Der Arbeitsvorbereiter, Teil II lesen Sie hier

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Die Straße der Arbeit III von Müllenbach nach Wipperfürth-Ohl
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

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Vom Leben und vom Sterben

Brigitte holt mich an einer Bushaltestelle im bergischen Nirgendwo ab. Am Morgen hat sie einen Kuchen gebacken, der wartet jetzt im Kofferraum. Wir fahren in ein kleines Dorf bei Nümbrecht, wo Brigitte die ersten Jahre ihres Lebens verbracht hat. Mit den Eltern wohnte sie im Haus von Tante Elli, die alleinstehend war, beide Brüder im Krieg gefallen, wovon Tante Elli sich zeitlebens nicht erholt hat. Die weinte und schrie, oft stundenlang, sagt Brigitte, heute würde man sagen, sie war depressiv. Überhaupt war der Krieg in der Kindheit gegenwärtig. Die Eltern ließen Flüchtlinge aus Ostpreußen bei sich wohnen. Ein paar Meter vom Haus entfernt, befindet sich ein Kriegerdenkmal, da gehen wir jetzt hin. Da haben wir als Kinder gespielt. Die Namen von Tante Ellis Brüder stehen auch drauf.

Noch beim Abhören der Aufnahmen kann ich hören, wie still dieser Ort ist. Die Vögel zwitschern und das Gras wächst.

Ist Krieg Arbeit?, denke ich, und dass ich mir diese Frage noch vor zwei Monaten nicht gestellt hätte. Es kommt alles wieder hoch, sagt Brigitte. Hinter dem Denkmal erstreckt sich ein Bolzplatz zwischen hohen Bäumen. Meine Eltern waren arm, aber wir hatten das Notwendige. Im Garten weideten die Kuh und ein paar Schafe, Hühner gab es auch, denn Tante Elli hatte eine kleine Landwirtschaft, da half Brigittes Vater mit, wenn Not am Mann war. Aber eigentlich war er bei der Post beschäftigt. Die Mutter war ebenfalls berufstätig und zwar beim Fernmeldeamt in Waldbröl. Da hat sie die Menschen per Draht miteinander verbunden. Das war ihr Ding. Und später hat sie bei Steinmüller in Gummersbach als Rezeptionistin gearbeitet, 16 Jahre lang.

Das Ding explodiert jeden Augenblick

Die Mutter hatte Schichtdienst, von ein Uhr mittags bis zehn Uhr abends. Einmal weinte Brigitte im Unterricht, weil sie ihre Mutter vor der Schicht noch sehen wollte. Da schickte der Lehrer sie nach Hause. Die Mutter fuhr mit dem Rad zur Arbeit und wieder zurück. Zwanzig Kilometer jeden Tag, auch nachts. Bus gab es nicht. Nach der Arbeit wartete noch der Haushalt. Mit dem Wirtschaftswunder kam die erste Waschmaschine. Von Tante Elli. Die Mutter saß zwei Stunden davor und passte auf, sagt Brigitte und lacht. Die hatte Angst, das Ding explodiert jeden Augenblick.

Brigitte ist evangelisch getauft, aber vor zehn Jahren zum Katholizismus konvertiert. Der Glaube und die Kirche tragen sie und geben ihr Kraft, sagt sie. Inzwischen sind wir nach Wiehl gefahren, haben das Auto vor der Tropfsteinhöhle geparkt und auf dem Parkplatz den Kuchen gegessen. Auf der Straße der Arbeit wandern wir an Schloss Homburg vorbei und weiter nach Nümbrecht.

Wir sprechen von der Jagd. Brigitte ist nämlich Jägerin. Ich bin überrascht. Eine Jägerin habe ich mir anders vorgestellt. Wie genau, kann ich gar nicht sagen. Ihre Familie hat ein Jagdrevier im Wildenburger Land gepachtet und zwar vom Neffen der Gräfin Marion Dönhoff, der ehemaligen Herausgeberin der Wochenzeitung Die Zeit. Aber das nur nebenbei. Die Tiere, die sie im eigenen Revier erlegt, gehören der Familie und werden vermarktet. Besonders vor Weihnachten floriert das Geschäft.

Schießen bedarf viel Übung

Schon in der Bibel steht, dass man Tiere essen darf, sagt Brigitte, das ist eine Art Abschöpfen des Überflusses, ähnlich der Weizenernte. Wildschweine zum Beispiel haben keine natürlichen Feinde bei uns. Oder Kaninchen – wenn es Überbestände gibt, entwickeln sie die Myxomatose, die in der Regel tödlich ist. Es gebe viele Beispiele dafür, wie die Natur bei Überbeständen sich selbst reguliere. Ein interessantes Phänomen könne man bei Rehen feststellen. In Brigittes Revier, wo der Jagdbestand angepasst ist, wiege ein Reh satte 18 bis 20 Kilo. In manchen Gegenden, wo nicht gejagt, wird, seien sie deutlich leichter. Die Tiere dort haben Stress, sagt Brigitte. Sie brauchen ihr Territorium und das ist bei Überbeständen nicht gegeben.

Für den Jagdschein muss sehr viel gelernt werden, acht Monate lang paukte Brigitte, damals 45 Jahre alt, Jagdtheorie, Jagdrecht, Waffenkunde, Waffenhandhabung, Hundewesen, Wildbiologie, Spuren lesen, Baum-Arten. Hinzu kommt, dass sie das Schießen lernen musste, das mochte sie nicht so sehr. Es bedarf viel Übung, die Tiere sollen ja nicht unnötig leiden.

Schweine in sechs Stockwerken übereinander

An der Jagd interessiert sie gar nicht so sehr das Tiere Töten. Sondern das Drumherum, das In-der-Natur-Sein. Zwei bis drei Stunden lang verbringt sie dann am Hochsitz, am liebsten allein. Das ist wie Meditieren. Manchmal kommt auch nichts. Ist auch ok. Das Sitzen im Wald schärft ihre Wahrnehmung. Man sitzt eine Stunde da und auf einmal hört man, ach da rauscht ja ein Bach ganz in der Nähe.

Neulich, es war schon fast dunkel, hat sie ein Reh erlegt. Man sollte natürlich immer in die Zehn treffen, das heißt ins Herz, sagt Brigitte. Nur, manchmal drehen sie sich plötzlich, während man schießt, und dann flüchten die Tiere und es dauert eine Weile, bis die Organe aufhören. Der Hund fand das verendete Reh schließlich. Weidet man das dann gleich an Ort und Stelle aus?, frage ich. Nein, nein, sagt Brigitte, die Erde würde das Fleisch verunreinigen. Erst wird das Tier zum Haus getragen, dort aufgehangen und aufgeschärft. Danach kommt es ins Kühlhaus und muss eine gewisse Zeit abhängen, bis es die Fleischreife erreicht hat. Der spezielle Wildgeschmack, den viele nicht mögen, entsteht, wenn Wild lange abhängt. Hautgout, nannte man das früher. Das Fleisch war dann fast schon gammelig. Macht man heute aber nicht mehr so.

Marderkot, oder der eines Wiesels? ©Bleier

Schlimmer als das Töten von Tieren findet Brigitte die Massentierhaltung. Schweine in sechs Stockwerken übereinander halten, unter grauenhaften Bedingungen. Gäbe es nur Billigfleisch, wäre sie Vegetarierin.

Sie bückt sich und zeigt auf ein Häufchen Kot, das mitten auf dem Weg liegt. Wahrscheinlich ein Marder. Oder Wiesel, sagt sie. Ich mache ein Foto, es ist wahrscheinlich das erste Foto in meinem Leben vom Kot eines anderen Lebewesens. Ob ich mal mit auf den Hochsitz kommen möchte, fragt sie mich. Etwas in mir sagt sofort ja, etwas in mir sagt sofort nein. Klingt schon verlockend, sage ich. Ich überleg’s mir.

Was ist denn eine Grüne Dame?

Brigitte ist nicht nur Jägerin. Sie ist auch Seelsorgerin, seit 20 Jahren. Gelernt hat sie Medizinische Fachangestellte, bei einer Kinderärztin, weil sie immer etwas mit Kindern machen wollte. Nach der Lehre kam sie nach Waldbröl ins Klinikum Oberberg, in die Radiologie, hat dort Strahlenschutz und andere Weiterbildungen gemacht. Damals hatten die noch 700 Betten. Heute sind es weniger. Bei Wikipedia lese ich, es sind sogar weniger als die Hälfte, nur noch 320.

Bis heute ist sie dem Krankenhaus verbunden, als Grüne Dame. Was ist denn eine Grüne Dame, frage ich und überlege, ob ich Grüne Dame klein oder groß schreiben werde. Grüne Dame, das ist ein ehrenamtlicher Dienst, man geht über die Zimmer und fragt: Brauchen Sie etwas, ein Gespräch oder was zu trinken oder zu essen oder Batterien für das Hörgerät. Besonders sensibel müsse man mit den Angehörigen der Sterbenden umgehen. Und generell wichtig sei, sich selbst zurückzunehmen. Darf ich für Sie beten, fragt sie dann vorsichtig. Manchmal geschehen Wunder, erzählt Brigitte, auch wenn die Kranken schon nicht mehr ansprechbar waren, beten sie manchmal das Vater Unser mit.

Wir sind mittlerweile kurz vor Schloss Homburg und machen einen kleinen Abstecher zu den Dicken Steinen. Die liegen mitten im Wald herum und sind tatsächlich ziemlich dick. Und grün bemoost und sehr schön. Im Internet steht, es handelt sich um Quarzit-Härtlinge aus der Devonzeit. 350 Millionen Jahre alt. Wir machen Fotos von den Steinen und von Brigitte auf den Steinen.

Gesprächsprotokolle zerpflücken

Brigitte als Grüne Dame

Danach habe ich noch die klinische Seelsorge-Ausbildung gemacht, da habe ich viel dazugelernt. Zum Beispiel Gesprächsprotokolle schreiben, die hinterher auseinander gepflückt werden. Ich bin gespannt, ob Brigitte auch mein Gesprächsprotokoll auseinanderpflücken wird. Ich hoffe nicht. Besonders schätzt sie die Supervision, das sei wie eine eigene Therapiestunde. Überhaupt ist ehrenamtliche Arbeit gesellschaftlich unverzichtbar. Seelsorge zum Beispiel fängt auch das Fehlen von dringend benötigten Therapieplätzen auf. Zudem ist es ein niedrigschwelliges Angebot. Beim ambulanten Hospizdienst bin ich auch. Da wird man beispielsweise gefragt, ob man zu bestimmten Zeiten die Angehörigen ablösen kann, damit die mal Pause machen oder nach Hause fahren können.

Zudem ist Brigitte Mitbegründerin des Hilfswerks St. Martin e.V., dessen Prinzip Helfen durch Teilen ist. Wichtige Grundsätze sind unter anderem Völkerverständigung und Förderung internationaler Gesinnung. Unterstützt werden Projekte in Kenia, Uganda oder dem Kongo, aber auch Menschen, die an Weihnachten einsam sind oder in Not geratene Familien.

Und nebenbei passt sie aufs Enkelkind auf und abends geht sie trommeln. Wow, sage ich. Und zu alldem müssen Sie sich auch noch mit der Regionsschreiberin treffen! Sie lacht. Das hört sich alles sehr viel an, aber ich kann das gut sortieren. Weil ich auch gelernt habe, nein zu sagen.

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Die Straße der Arbeit III von Wiehl nach Waldbröl
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

Mehr von Ulrike Anna Bleier

Vergangenheit ist ein fremdes Land (Teil II)

Frau Rademacher, was haben Sie selbst denn so gearbeitet? Allet möjliche, sagt sie. Beim Hitler, sagt sie, musste man ja das Pflichtjahr verrichten, das galt für alle Mädchen und Frauen unter 25 Jahren, da ist sie bei einem Bauern gewesen zum Unkraut rupfen, Heu machen, Gaben binden, Kühe melken, dem Schwein die Läuse ablesen, dicke schwarze Läuse, sagt Frau Rademacher und gruselt sich immer noch.

Der Bauer hatte einen Zwangsarbeiter, einen Polen, der hieß Kasimir, 18 Jahre alt, ein netter Kerl, sagt Frau Rademacher, der musste die schwere Arbeit machen. Aber als der Krieg zu Ende war, war auch der Kasimir weg, und da habe der Bauer, der an Rheuma litt, sie gefragt: Meenste, Anneliese, du könntest mit dem Aujust über den Acker und eggen und walzen und das Feld fertig machen? Er hat ihr den dicken Ochsen einspannt und ihr gezeigt, wie man mit der Egge übers Feld läuft. Da war sie gerade 15 geworden.

Mit dem Ochsen – der hatte nur ein Horn, das andere hat er sich abjestoßen jehabt – ist sie auch nach Ehreshoven, zur Mühle, um einen Sack Weizen gegen Mehl und Brot zu tauschen. Der Ochse wollte nicht immer da hin, wo sie hinwollte. Aber am Ende ist immer alles gut gegangen.

Nur für den Zwangsarbeiter, den Kasimir, ist es nicht gut ausgegangen. Den hat sie ein paar Wochen später auf der Straße gesehen, in einer amerikanischen Soldatenuniform. Und noch später hieß es, er sei erschossen worden.

Auf die Geschichte mit dem Kasimir kann ich mir nicht so ganz einen Reim machen. Aber auslassen will ich sie nicht, denn zur Straße der Arbeit gehört auch die Zwangsarbeit. Und die ging selten gut aus, wie der Film „Die letzten Opfer der Gestapo“ aus dem Jahr 1946 zeigt. Allein im Zwangsarbeiterlager in Loope waren rund 240 Menschen interniert. Viele Arbeiter:innen wurden hingerichtet oder starben bei Fliegerangriffen, da sie keinen Zugang zu Schutzräumen hatten. Gedenktafeln und Gräber russischer und ukrainischer Zwangsarbeiter:innen im Oberbergischen zeugen davon.

Es hätte auch anders kommen können

Anneliese Radermacher, gelernte Hauswirtschafterin, als junge Ehefrau im Waschhaus ©Radermacher
Anneliese Radermacher, gelernte Hauswirtschafterin, als junge Ehefrau im Waschhaus

Nach dem Krieg hatte Anneliese die Wahl zwischen Hauswirtschafterin und Verkäuferin. Sie wurde Hauswirtschafterin. Sie war bei einem jungen Paar angestellt, das zog schon bald nach Düsseldorf und nahm sie mit. Einmal im Monat durfte sie heim. Da sagte die Hausfrau eines Tages, das ginge so nicht mehr, mit einmal im Monat nach Hause fahren. Ab sofort nur noch alle drei Monate. Aber die Eltern waren dagegen, kommt gar nicht in Frage, dass du noch seltener kommst. Gott sei Dank, sie waren auf ihrer Seite.

Mit 24 hat sie geheiratet. Die ersten Jahre ihrer Ehe hat sie noch bei einer Buchbinderei in Engelskirchen gearbeitet. Ich hab noch richtig dat Buchbinden jelernt, falzen, zusammentragen, einhängen und wat allet ze don war. Arbeitszeit: von 7 bis 16 Uhr in der Buchbinderei, danach Haushalt und Kochen, und am Wochenende die Wäsche. Mit über 30 hat sie ihren Sohn bekommen. Der ist der beste Sohn der Welt. Den Sinn fürs Handwerkliche hat er von ihr. Ihr Mann war mit 16 Jahren hinterm Gewehr an der Bevertalsperre gelegen, in den letzten Kriegstagen. Der konnte sein Leben lang nur noch Büroarbeit verrichten und arbeitete bei der Kreisverwaltung. Vor sieben Jahren ist er gestorben. Sein Zimmer ist jetzt ihr Arbeitszimmer geworden.

Ob sie eigentlich gerne studiert hätte, frage ich sie. Das Zeug dazu hätte sie wohl gehabt und auch den Wissensdurst. Sie winkt ab, wer weiß, ob nicht alles anders gekommen wäre, hätte sie studiert. Da verstehe ich, dass „Es hätte anders kommen können“ auch „Es hätte schlechter kommen können“ bedeuten kann.

Omas gesammelte Werke

Vor lauter Quatschen haben wir Kaffee und Kuchen vergessen, der im Wohnzimmer bereit steht auf dem hübsch gedeckten Tisch. Sie gibt mir vier Servietten mit. Kann man ja immer mal brauchen. Und Bücher gibt sie mir mit: Die Straße der Arbeit von Harry Böseke. Die Erinnerungen von ihrem Großvater mit Zeichnungen von Michael Schenk. Eine blaue Ladde mit teil handschriftlichen Aufzeichnungen: Omas gesammelte Werke, steht drauf. Selbst aus der Handschrift singt der Bergische Dialekt.

Ich laufe quer durch den Wald auf den Spuren von Anneliese Rademachers Geschichten. Ich begegne niemandem. Selbst das Ausflugslokal Bergische Schweiz hat geschlossen. Die Ziegen blöken verärgert, weil ich nichts für sie dabei habe, außer das bisschen Schweiß auf meinen Handflächen.

Vergangenheit ist ein fremdes Land (Teil I)

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Die Straße der Arbeit von Schloss Ehreshovern zur Grube Kastor (Rundweg)
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

Mehr von Ulrike Anna Bleier

Vergangenheit ist ein fremdes Land (Teil I)

Am Montag bin ich bei Frau Radermacher und am Mittwoch gehe ich die Orte ihrer Kindheit ab. Und es ist alles genau so, wie Frau Radermacher gesagt hat: die Grube Kastor mit der Schwungbrücke davor. Das Eisenerz, das das Wasser rostbraun färbt. Die Bahngleise in Ehreshoven, das Schloss, von dem mir später jemand erzählen wird, dort würde „Verbotene Liebe“ gedreht. Oder sind es „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“?

Frau Radermacher hat bei der Zeitung angerufen und mitgeteilt, dass sie mit mir sprechen möchte, ich möge sie anrufen. Am Telefon beschreibt sie mir den Weg: am Kreisverkehr die dritte Ausfahrt, auf der rechten Seite das sechste Haus. Als ich ankomme, steht sie vor dem Haus und weist mich in den Parkplatz ein.

Frau Radermacher in ihrem Arbeitszimmer

Frau Radermacher spricht druckreif und bergischen Dialekt, der sich immer ein bisschen anhört, als würde man während des Redens heimlich singen.

Wir fangen ganz vorne an. 1900 haben die Großeltern geheiratet. Der Großvater war neben der kleinen Landwirtschaft vor allem im Erzabbau tätig. Überall im Aggertal gab es Gruben und Bergwerke: Kastor, Bliesenbach, Silberkaule, Lüderich, Kaltenbach und da oben bei Engelskirchen gab es auch noch eins. 1906 wurde in Niederhof die Grube Bruno erschlossen. Frau Radermacher selbst hat als Kind noch die Masten gesehen, aber nicht mehr die Loren. Kennen Sie die Schwungbrücke an der Grube Kastor, fragt sie mich. Die gibt es bis heute noch. Die hängt in den Seilen und sie schwingt auch ein bisschen, da hat man die Gleise drauf gelegt und so konnte man die Loren über die Agger fahren, um das Erz auf die Züge zu verladen. Die Eisenbahn ging damals nur bis Ehreshoven. Heute fährt hier die RB 25 von Lüdenscheid nach Köln.

Mietfreiheit und eine Kuh

In Bliesenbach, wo sie mit ihren Eltern wohnte, gab es alte Stollen, da lass man reinjehen, sagte ihre Freundin zu ihr, und dann sin wir in die alten Bergwerksstollen reinjekrochen, meine Freundin und ich, kamen da plötzlich die Fledermäuse, da waren wir aber schnell raus, sagt Frau Radermacher und lacht herzlich.

Der Großvater arbeitete als Stellmacher, Hauer, Schachthauer, Zimmermann, Schreiner, Aufseher und Pumpenknecht. Mitte 50 war er bereits Knappschaftsinvalide, die schwere Arbeit hatte ihm eine Staublunge und Tuberkulose eingebracht. Die Versicherung hat ihn ein Vierteljahr in Kur jeschickt, nach Ronsdorf, dat müssen Sie sich mal vorstellen, dat et dat damals in den 1920er Jahren schon jab. Als die Grube Bruno zwei Jahre später wieder geschlossen wurde, übertrug man ihm die Aufsicht über den stillgelegten Betrieb. Einigen Bauern in der Umgebung war wegen des Betriebs das Wasser versiegt; sich um den Schriftverkehr mit den Klägern zu kümmern, gehörte ebenfalls zu Willhelms Aufgaben. Zum Wohnen stellte man ihm ein Kohjödchen zur Verfügung – dat saat Ihnen jetzt nix – aber ein Kohjödchen beinhaltete alles, was eine Kuh braucht: Stall, Wiesen, Ländereien. Wie schreibt man das denn? KOH-JÖDCHEN, dat is en Kuh-Gut, im Bergischen sagt man Jödchen, und da durfte er bis zu seinem Lebensende wohnen.

Mietfreiheit und eine Kuh statt Rente, wer weiß, vielleicht kommt das alles wieder.

Krieg, Brände, Hochwasser, Sturmschäden

Der Großvater, obschon ein einfacher Bergmann, war sehr belesen und hat alles in einem Büchlein aufgeschrieben. Sie zeigt mir das Büchlein. Erinnerungen, Wilhelm Kippels, 1873-1936. Bearbeitet und herausgegeben von Peter Wicharz 1984. Am Abend kamen oft die Männer aus der Nachbarschaft vorbei und da hieß es dann, der Kippels Willelm tut verzälle. Sie zeigt mir die Illustration im Büchlein, wie sie selbst bei ihren Großeltern am Tisch saß, mit Zöpfen und angewinkeltem Bein, denn so saß sie immer da, wenn der Großvater gruselige Geschichten erzählte.

Die Erinnerungen lese ich in einer regnerischen Nacht, der Großvater ist ein echtes Schreibtalent. In die autobiographischen Erlebnisse sind Sagen und Legenden aus dem Aggertal gewoben, gespickt mit historischen Ereignissen wie Krieg, Brände, Hochwasser, Sturmschäden.

Wenn sie bei den Großeltern war, wohnte die kleine Anneliese im Weeterzimmer, sie war gerne da, bei den Großeltern, es war wie ein zweites Zuhause dort. Weeter, so sagte man im Bergischen, das heißt Mädchen. Bei Wikipedia lese ich später nach, dass die Mundart zwischen Bergisch Gladbach, Siegen und Gummersbach als südbergisch oder ostripuarisch bezeichnet wird, und ich erinnere mich an das Gefühl, irgendwo in einem sehr fernen Land zu sein – weniger lokal als zeitlich. Die Vergangenheit ist ein fremdes Land, diesen Satz gibt es bestimmt schon, und nun sitzt er hier neben mir, im Arbeitszimmer der Frau Rademacher in Kürten. Sie ist 90 Jahre alt und ich bin begeistert, dass sie ein Arbeitszimmer für sich allein hat, eins, in dem nicht gebügelt wird, sondern geschrieben, gesammelt, dokumentiert. Frau Radermacher ist eine Art Archivarin geworden und wie jede Wissenschaftlerin hat auch sie den Antrieb, ihre Forschungsergebnisse veröffentlicht zu sehen und so am Diskurs teilzunehmen.

Jemand ruft an und bedankt sich für die Gedichte. Frau Radermacher schreibt nämlich nicht nur Lebenserinnerungen und Leserbriefe, sondern auch Gedichte, für sich und für andere und zu besonderen Anlässen. Manche Gedichte werden gedruckt, zum Beispiel in den Kürtner Schriften.

Das Erzähltalent hat sie vom Großvater geerbt, so viel steht fest.

Vergangenheit ist ein fremdes Land, Teil II

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Die Straße der Arbeit von Schloss Ehreshovern zur Grube Kastor (Rundweg)
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

Mehr von Ulrike Anna Bleier