#mein muensterland – Interview mit Regionsschreiberin Claudia Ehlert

Das Projekt stadt.land.text NRW 2017 geht zu Ende. Vier Monate lang waren zehn Regionsschreiberinnen und Regionsschreiber dank des Jubiläums 20 Jahre Regionale Kulturpolitik NRW in den zehn Kulturregionen des Landes unterwegs. Sie haben sich dem Alltag und der kulturellen Vielfalt NRWs auf ganz unterschiedliche Weise schreibend genähert und so einen anderen Blick auf die Besonderheiten und Alltäglichkeiten der zehn Regionen geworfen.

Claudia Ehlert war im Münsterland unterwegs. Mit ihrem Campingbulli. Vier Monate lang on the road das Münsterland im wahrsten Sinne des Wortes erfahren und via Logbuch online einen Einblick in ihre Erlebnisse geben – das war ihr Projekt. Dabei standen abgelegene Orte und damit verbunden Menschen in Bewegung im Mittelpunkt ihres Schreibens und Fotografierens. Zum Abschluss stellen wir all die Fragen, die gerne (öfter) hätten gestellt werden dürfen. Ein exklusives Interview für stadt-land-text.de mit der Regionen-, pardon, Regionsschreiberin des Münsterlandes:

SLT:        Na, wie is?

Ehlert:   Joa, ne. Und selbst?

SLT:        Jo.

An dieser Stelle ist das Interview für alle Westfälinnen und Westfalen beendet und alles Essenzielle gesagt. Für die anderen, die gerne viele Worte machen, geht es an dieser Stelle weiter:

SLT:        Vier Monate lang im Bulli unterwegs. Leben, arbeiten und schlafen im Campervan. Da fragen sich unsere LeserInnen natürlich: Wo duscht man eigentlich?

Ehlert:   So viele Vorteile das Leben in Bewegung hat – ein eigenes Bad mit Wanne und Dusche gehört tatsächlich nicht dazu. Wenn ich im Bulli übernachtet habe (Ich habe nach wie vor meine kleine Wohnung in Münster behalten. Hat man erstmal eine schöne bezahlbare Wohnung in Münster gefunden, gibt man sie nicht so einfach her), geschah dies auf Stellplätzen oder Campingplätzen. Um die Illusion des viral gehenden Bildes von historischen Bullis an stillen Waldseen und inmitten wilder Wiesen in nostalgischen Sepiatönen mal gleich zu Beginn zu zerstören. Ich saß übrigens auch nicht bei Sonnenuntergang auf dem Dach des Bullis oder habe vor der geöffneten Seitentür im Morgengrauen Yoga gemacht. Stichwort: #therealvanlife. Stellplätze, oder auf Parkplätzen ausgewiesene Wohnmobil-Stellflächen, liegen praktischerweise in der Regel in der Nähe von Frei- oder Hallenbädern. Campingplätze bieten ihren BesucherInnen sanitäre Anlagen zur Benutzung an. Für 50 Cent haben Sie dann drei Minuten warmes Wasser. Für die 5-Minuten-Haarkur müsste man also aus der Dusche rausschlappen und noch eine Münze nachwerfen.

SLT:        Der Bulli und Sie: „Gefährt und Gefährte“ Ihres Road Trips, haben Sie in einem Ihrer Einträge Ihre Beziehung beschrieben. Eine noch recht junge Beziehung, wie uns berichtet wurde. Nach vier Monaten intensiver Kennenlernzeit auf engstem Raum – die erste Verliebtheit vorbei? Knirscht es auch mal im Getriebe?

Ehlert:   Frisch ist die Beziehung in der Tat noch. Anfang des Jahres haben wir uns kennen gelernt. Während der Ausbauphase, die mehrere Wochenenden in Anspruch genommen hat, ist der T5 allerdings bereits ein Teil der Familie geworden. Der große Testlauf startete im Mai, als wir in 18 Etappen bis zum Nordkapp und zurück unterwegs waren. Kleinere Missstimmungen gibt es ja in jeder guten Beziehung – ein fiepender Ladebooster, ein röhrender Lüfter – aber der große Streit blieb da aus. Umso erschrockener war ich, als der ‚Neue‘ gleich im ersten Monat im Münsterland unweit der Burg Hülshoff plötzlich ausfällig wurde. Die leuchtende Motorkontrollleuchte hat mich die ganze Partnerschaft auf einen Schlag in Frage stellen lassen. Was, wenn er jetzt hier stehen bleibt? Muss ich dann doch alleine weiter?

SLT:        Hatten Sie eigentlich keine Angst?

Ehlert:   In diesem Moment tatsächlich schon. Vor allem vor den Menschen um einen herum. So viele potentielle helfende Hände, die es zu enttäuschen gilt. Menschen, die einen beim rückwärts Ausparken einweisen, die einem bereitwillig den Weg zeigen, die mit eigenen Erlebnissen zur Stelle sind. Leider kann man nicht jede Hilfe annehmen. Noch dazu, wenn man durch die eigene nunmehr zehnjährigen Fahrerfahrung auf einen Vorrat an angesammeltem und erlerntem Wissen zurückgreifen kann.

SLT:        Sie sagten ja in einem Interview zu Beginn des Projekts, dass der Bulli die Menschen anzieht, dass er wie ein Katalysator für Gespräche ist. Scheinbar auch für Hilfsbereitschaft. Was ist noch besonders am Erfahren der Region mit einem Bulli?

Ehlert:   Der Bulli macht das Aufsuchen bestimmter Orte, so, wie ich sie kennenlernen konnte, erst möglich. Orte, die ab vom Schlag liegen, hatte ich mir zum Ziel gesetzt. Das waren Orte, die vielleicht nicht so präsent sind in der Wahrnehmung des Münsterlandes, weiße Flecken auf der kulturellen Landkarte. Aber das waren auch ganz buchstäblich Orte, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln gar nicht oder nur bedingt erreichbar sind. Der Blick durch die Windschutzscheibe, er verstellt nicht die Sicht auf die Region. Er öffnet ihn auch nicht unbedingt. Er schlägt sich aber in seinem Festhalten nieder. Er ist – nur oder gerade eben – ein anderer.

SLT:        Sie leben und arbeiten seit einigen Jahren aufgrund Ihres Studiums in Münster. Wie hat sich Ihr Blick auf das Münsterland durch die letzten vier Monate verändert?

Ehlert:   Ich glaube, durch die andere Art der Fortbewegung hat sich mein Blick vor allem geweitet. Die Erfahrung habe ich schon mit Beginn des Projekts, mit der ersten Parkplatzsuche in Münster gemacht. Münster ist DIE Fahrradstadt. Und egal, wie lange man schon dort wohnt, wie gut man sie zu kennen glaubt: das erste Mal mit dem Auto richtet den inneren Stadtplan völlig neu aus. Bekannte Orte, das Festival in Beelen, das Kloster am Emsradweg, sehen aus dieser Perspektive ganz anders aus. Auch mir zuvor unbekannte Orte sehen mit dem Blick der Regionsschreiberin anders aus. Dem mehr und mehr vernetzten und vernetzenden Blick.

SLT:        Nach welchen Kriterien haben Sie die von Ihnen besuchten Orte ausgewählt? Wie sind Sie vorgegangen?

Ehlert:   Die Zusage für das Stipendium kam, mitsamt der zugeteilten Kulturregion, Ende März diesen Jahres. Neben diversen Presseanfragen habe ich mich mit dem Projekt also bereits durch Recherche im Vorfeld zeitintensiv beschäftigt. Die Recherchen begannen bei Gesprächen mit Familie, FreundInnen und KollegInnen, dem Querlesen von (Auto-, Fahrrad-, Wander-, allgemeinen) Reiseführern älteren und neueren Datums, gingen über alle Broschüren, derer ich in der Touristeninformation in Münster habhaft werden konnte, diverse Materialien und Hinweise des Teams um das Kulturbüro des Münsterland e. V.s, bis hin zu teils in Details ausufernden Internetrecherchen. Wie mit Sicherheit auch in den anderen neun Kulturregionen gibt es im Münsterland eine Vielzahl von Kulturinstitutionen, Vereinen, KünstlerInnen, Tourismuseinrichtungen, Unternehmen und deren Social Media Plattformen und, nicht zuletzt, anderer Blogs, die sich mit der Region und Kultur in allen Facetten beschäftigen.

SLT:        Spielte auch die Literatur der Region eine Rolle? Ist da doch irgendwo das Studium der Literatur- und Kulturwissenschaft mit eingeflossen?

Ehlert:   Mich hat während der Stipendiumszeit Literatur aus Westfalen und dem Münsterland begleitet. Klassiker, wie Jägersbergs Weihrauch und Pumpernickel, Denneborgs Das Wildpferd Balthasar oder Wincklers Der tolle Bomberg. Aber auch Jüngeres. Otrembas Über uns der Schaum oder Etgetons Rucksackkometen. Viele Autorinnen und Autoren stammen aus dem Münsterland, bzw. Westfalen, leben hier oder machen hier mal wieder Station, mit Blick auf die Beckumer Berge. Auch aus diesen Texten und Begegnungen habe ich Ideen für weitere Texte, weitere Orte entwickelt. Letztlich kann man sagen, ich habe viele Orte des Münsterlandes gesehen. Und über die geschrieben, die mich irgendwie gepackt haben, mit denen ich etwas anfangen konnte. Hat mich an einem Ort nichts gepackt, ist kein runder Text entstanden. Und ich konnte fortfahren.

STL:        Sind Ihnen bestimmte Orte besonders im Gedächtnis geblieben? Empfehlungen für den Kurztrip? Das Wochenende? Die Ferien im Münsterland?

Ehlert:   Ich war an sehr unterschiedlichen Orten. Sei es tief im Untergrund, in den Kellern des Münsterlandes, ebenso wie auf seinem Balkon. Oftmals waren es Orte, wo die Vergangenheit sichtbar ist und auf die Gegenwart, manchmal auch auf die Zukunft trifft. Ich war an Grenzen, wo Konzepte bröckeln und sich zersetzen. Wo sie hinterfragt werden. Müssen. Wer durch meine Texte von mir besuchte Orte aufsuchen möchte – gerne. Vermutlich wird man sie, einmal selbst vor Ort, aber ganz anders wahrnehmen. Es ist ja nun doch – nur oder gerade eben – EINE Perspektive.

SLT:        Was nehmen Sie von den verschiedenen Begegnungen, von denen Sie in Ihren Texten erzählen, vor allem mit?

Ehlert:   Die Menschen, denen ich begegnet bin, sind tatsächlich sehr unterschiedlich gewesen. MünsterländerInnen und Zugezogene oder BesucherInnen, Kinder und Erwachsene, KünstlerInnen und KulturvermittlerInnen, Kulturinteressierte und nicht-so-aber-dann-doch-Interessierte, KulturmanagerInnen, PolitikerInnen, MitarbeiterInnen der Presse verschiedenster Medien. Es waren viele tolle Begegnungen. Inspirierend, bereichernd, prägend. Engagierte und sympathische Menschen, die oft weit mehr tun und leisten, als das, was von ihnen bspw. jobtechnisch verlangt wird. Oftmals. Manchmal auch weniger.

Kunst und Kultur ist wichtiger Bestandteil der Region. Im Gespräch mit verschiedenen KünstlerInnen habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass sich von der künstlerischen Tätigkeit allein in der Regel aber nicht leben lässt. Entweder gibt es einen Job zur Sicherung des Lebensunterhalts. Oder aber das Angewiesen-Sein auf Stipendienprogramme. Alle Menschen, die ich getroffen habe, hatten eines gemein: die Bewegung. Im Alltag, in der Freizeit, im Job, im Privatleben. Und man kommt mit Ihnen ins Gespräch – wenn man aufrichtig interessiert ist und bereit, sich Zeit zu nehmen.

SLT:        In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Zeit!

Ehlert:   Nich dafür!

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Münstersche Meditation

Ort: Münster | Datum: Mo, 03.07.2017 | Wetter: durchwachsen, 22°C

Ich drehe die erste Runde mit dem Bulli um den Block. Vier Straßen um den schilfgesäumten Teich mit Rasenfläche und Bank-Mülleimer-Kombi. Ich zähle rundum. Bullis: drei. Der Trend zum Campervan scheint auch in Münster Mauritz sichtbar. Das wilde Leben on the road griffbereit direkt vor der Haustür. Zumindest von April bis Oktober, so geben die Saisonkennzeichen Auskunft. Ich zähle weiter. Freie Parklücken: null.

Die Erfindung des Automobils veränderte das menschliche Verhältnis zu Raum und Zeit. Autofahren in Münster denkt diese Relation nochmals neu. Jahrelang habe ich die Promenade und den Prinzipalmarkt täglich überquert – auf zwei Rädern. Der Blick durch die Windschutzscheibe eröffnet mir nun ein ganz anderes Bild von Münster. Ich muss meine innere Karte neu ausrichten, überschreiben. Einbahnstraßen, Sackgassen, Sperrungen für den Pkw-Verkehr.

In Münster fährt man Fahrrad.

Ich drehe die zweite Runde um den Block und stelle fest: Autofahren in Münster hat eine ganz andere Dynamik als zweirädrige Fortbewegung. Wo die Motoren stoppen, treten die Radler in die Pedale. Der Berufsverkehr schleicht morgens in die Stadt hinein und abends wieder hinaus. Dann braucht es zwei Ampelschaltungen, um eine Kreuzung zu überqueren. Jede Rotphase wird zu einer Meditation. Jeder ausscherende Bus eine Atemübung. Bremsen und Anfahren – Durch die Nase ein und langsam durch den Mund ausatmen.

Die Parkplatzsuche wird zur automobilen Entschleunigung.

Zur Uni, zum Einkaufen, zur Arbeit, zum Aasee, zur Kneipenkarawane, zum Kanal. Fahrradfahren ist in Münster kein Trend. Fahrradfahren ist keine Koketterie mit dem einfachen Leben. Fahrradfahren ist kein Flanieren auf zwei Rädern. Fahren Sie einmal auf der Promenade in gemächlichem Tempo jenseits der Ideallinie. Ähnliche Erfahrungen lassen sich auf den Rolltreppen der Londoner U-Bahn machen.

Ich drehe die dritte Runde um den Block. Wieder entpuppt sich eine vermeintliche Parklücke als Ausfahrt. Geduld. Da, plötzlich, eine bulliförmige Bucht. Ich parke das Gefährt parallel zum Radweg. Ein Blick in den Seitenspiegel: Bäume säumen die Straße, die auf den Teich zuläuft. Fahrradfahrer ziehen vorbei. Wir schauen ihnen nach. Ich lehne mich im Fahrersitz zurück und lasse die Arme sinken. Am Ende der Meditation steht die Entspannung.

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