Lost in Navigation

Ort: Bauerschaft Schmedehausen, glaube ich | Datum: So, 09.07.2017 | Wetter: sonnig, 24°C

Blasse krumme Linien ziehen sich durch beige, hellgrüne und dunkelgrüne, unförmige Flecken. Berkenheide, Boltenmoor, Bockholter Berge. Mein Auto-Rad- und Wanderatlas Münsterland verzeichnet die Strecke hier farblos als „Sonstige Wege (nur bedingt befahrbar)“. Es ist Sonntagnachmittag. Schon auf dem Schiffahrter Damm wird der Verkehr weniger. Als ich ihn verlasse, verlasse ich auch mir bekanntes Terrain. Die folgenden Straßen sind zwar asphaltiert, aber gerade noch so bullibreit.

Vor jeder Kurve mit unübersichtlichem Baumbestand schalte ich runter in den dritten Gang. Daran erkennt man den Fremden hier. Irritierte Blicke von vorne. Sie schwenken von Bulli auf Kennzeichen, Fahrerin, wieder Kennzeichen. Vorbei. Ich habe das Gefühl, Eindringling zu sein. Ich höre Saloon-Türen zuschlagen, Stiefeltritte verklingen und Cowboys in den Staub der Straße spucken. Die Kühe zu meiner Rechten scheinen allerdings eher desinteressiert.

Zwei Radfahrer biegen um die Ecke und kommen mir selbstbewusst im Sattel sitzend entgegen. Nebeneinander nehmen sie die gesamte Breite der Straße ein. Ich schalte herunter in den zweiten Gang, bremse. Die beiden tragen Sonnenbrillen und Funktionskleidung. Zudem Fahrradtaschen. Revolver oder Stern am Revers kann ich nicht erkennen. Sie verzieht die Mundpartie und raunt ihm etwas zu. Nun fahren sie doch hintereinander an mir vorbei. Im Rückspiegel sehe ich die beiden ohne großes Treten beschleunigen.

Easy Biker…

Die Straße, der ich nun folge, hat nicht einmal mehr einen Namen. Die einzigen Verkehrsschilder hier sind gut faustgroß, quadratisch und weisen Rad-, Reit- und Wanderwege aus: die Friedensroute, den Jakobsweg, einen integrativen Reitweg. Detlev Buck hat sich mal zu der vielzitierten Aussage hinreißen lassen, Road Movies müssten in Deutschland immer am nächsten Verkehrsschild enden. Man kann sich gar nicht mehr verlieren – im positiven Sinne. Hier kann man es scheinbar doch, wenn auch anders.

Hinter der nächsten Maisfeldbiege blockiert ein Pkw das Fortfahren. Ihn überragt im Hintergrund ein großer Anhänger. Zur Linken sattgrüne Stängel, zur Rechten goldgelbe Stoppeln. Ein Mähdrescher zieht seine Bahnen. Gerste, wie ich später erfahre. Das Korn braucht noch ein paar Tage. Ich halte, steige aus. Der Herr hinterm Steuer des Pkw steigt ebenfalls aus. Die Sonne brennt von oben. Showdown. Ich höre das Tumbleweed auf dem Asphalt rascheln. „PRIVATWEG.“ Das Schild muss ich übersehen haben. Und mein Navigationssystem ignoriert es.

Mein Navi ist Kommunist, stelle ich fest.

Ich entschuldige mich, erkläre, dass ich verabredet bin. Gleich hier um die Ecke. Keine fünf Minuten mehr – sagt das Navi. Eine Tour durch die Bockholter Berge. Schweigen. Er runzelt die Stirn. Der Lüfter im Bulli schaltet sich mit einem letzten Brummen ab. Ich höre den Solar-Wackel-Flamingo auf dem Armaturenbrett: Klack – Klack – Klack. Dann winkt der Mann mich durch. Der Bulli und ich holpern über ein Stück Stoppelfeld. Dann folgen wir wieder dem Asphalt. Ein Waldstück und ein Stapel Stämme. Die mechanische Stimme lotst mich weiter, als wäre nichts gewesen.

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Into the Wild. Auf den Spuren H. D. Thoreaus

Ort: Münster | Datum: Di, 04.07.2017 | Wetter: Sonne und Wolken, 20°C

„Die Kernvorführung ist mitten im Wildnisbereich des Schlossgartens angesiedelt, also keine Gewährleistung für naturbedingte Risiken.“ Das auf 44 Köpfe begrenzte Publikum begibt sich an diesem Abend als erstes auf die Spuren von „Aussteiger, Naturfreund, Freigeist und Rebell“ Henry David Thoreau. Direkt hinter dem Schloss Münster. Unmittelbar vor den Stufen dieses Monuments Schlaunscher Baukunst soll gleich die Wildnis beginnen. Und die Stille. Keine Handys, keine Gespräche. Solitude and Silence.

Eine ambivalente Stille: ein Chor übt mehrstimmigen A-cappella-Gesang auf der Rasenfläche zwischen Schloss und Botanischem Garten. Vom Vorplatz dringt Stimmengewirr und Musik vom Protestcamp des Asta, der auf die Knappheit von bezahlbarem Wohnraum in Münster aufmerksam machen will. Alles wird Teil der Inszenierung. Auch die Umwelt und der Weg hin zur Ausgrabungsstätte. Die schlürende Amsel am Wegesrand ebenso wie die Spiegelung im Oktogon und der Trampelpfad, der uns zum Ort des Geschehens führt. Zu den Überresten der Hütte am Walden Pond.

Graben im geistigen Untergrund

Die Ausgrabung – Operation Thoreau hat einen abgelegenen Ort mitten in der Natur der Großstadt geschaffen. Die Brennnesseln ragen mannshoch in die Lichtung, es riecht nach Anti-Mückenspray und aufgeworfener Erde. Außengeräusche sind auch hier noch vernehmbar, aber seltsam gedämpft. Vogelgezwitscher wirkt dafür umso lauter. Carsten Bender und Stefan Nászay treten als Archäologen auf, die in Thoreaus Erbe graben. Zitate aus dem Werk des Aussteigers fliegen durch die Szenerie wie Erdbrocken. Nachdenklich, verzückt, leidenschaftlich graben sie sich in den Untergrund.

wo ich lebe. wofür ich lebe.

In was für einer Gesellschaft möchte ich leben? Welche Aufgabe kommt der Regierung zu? Sollten nicht alle Menschen dieselben Rechte haben? Diese Fragen sind für Thoreau unmittelbar mit dem weitgehenden Rückzug aus der ihm gegenwärtigen Gesellschaft verbunden. Der 28Jährige zieht am 4. Juli 1845, dem Amerikanischen Unabhängigkeitstag, in ein selbstgebautes Blockhaus in den Wäldern von Concord, Massachusetts.

Ein Selbstexperiment. Zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage treiben den Schriftsteller in der Wildnis seine Gedanken zu Gesellschaft und Natur um. Sie finden Eingang in sein zeitgleich entstehendes, weltbekanntes Werk Walden or Life in the Woods (1854). Ein Werk, das Viele nach ihm zu alternativen Lebensentwürfen inspiriert hat. Filmische und literarische Road Trips sind vom Geiste Thoreaus beseelt. Ob er wohl heute mit einem Bulli durch Neuengland fahren würde?


Wilm Weppelmann und Manfred Kerklau haben den 200. Geburtstag des amerikanischen Schriftstellers zum Anlass genommen, Henry David Thoreaus Gedankenwelt in einer künstlerischen Ausgrabungsstätte neu zu entdecken. Die Uraufführung im Schlossgarten Münster und das Stück Wildnis mitten in der Stadt sind noch bis zum 16. Juli 2017 zu sehen.

Die Ausgrabung – Operation Thoreau ist eine Produktions-Kooperation des Kulturgrün e. V. und der MAKE Theaterproduktion. Weitere Informationen finden sich auf der Website des Projekts. Die Zitate sind ebenfalls der Website entnommen.

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Münstersche Meditation

Ort: Münster | Datum: Mo, 03.07.2017 | Wetter: durchwachsen, 22°C

Ich drehe die erste Runde mit dem Bulli um den Block. Vier Straßen um den schilfgesäumten Teich mit Rasenfläche und Bank-Mülleimer-Kombi. Ich zähle rundum. Bullis: drei. Der Trend zum Campervan scheint auch in Münster Mauritz sichtbar. Das wilde Leben on the road griffbereit direkt vor der Haustür. Zumindest von April bis Oktober, so geben die Saisonkennzeichen Auskunft. Ich zähle weiter. Freie Parklücken: null.

Die Erfindung des Automobils veränderte das menschliche Verhältnis zu Raum und Zeit. Autofahren in Münster denkt diese Relation nochmals neu. Jahrelang habe ich die Promenade und den Prinzipalmarkt täglich überquert – auf zwei Rädern. Der Blick durch die Windschutzscheibe eröffnet mir nun ein ganz anderes Bild von Münster. Ich muss meine innere Karte neu ausrichten, überschreiben. Einbahnstraßen, Sackgassen, Sperrungen für den Pkw-Verkehr.

In Münster fährt man Fahrrad.

Ich drehe die zweite Runde um den Block und stelle fest: Autofahren in Münster hat eine ganz andere Dynamik als zweirädrige Fortbewegung. Wo die Motoren stoppen, treten die Radler in die Pedale. Der Berufsverkehr schleicht morgens in die Stadt hinein und abends wieder hinaus. Dann braucht es zwei Ampelschaltungen, um eine Kreuzung zu überqueren. Jede Rotphase wird zu einer Meditation. Jeder ausscherende Bus eine Atemübung. Bremsen und Anfahren – Durch die Nase ein und langsam durch den Mund ausatmen.

Die Parkplatzsuche wird zur automobilen Entschleunigung.

Zur Uni, zum Einkaufen, zur Arbeit, zum Aasee, zur Kneipenkarawane, zum Kanal. Fahrradfahren ist in Münster kein Trend. Fahrradfahren ist keine Koketterie mit dem einfachen Leben. Fahrradfahren ist kein Flanieren auf zwei Rädern. Fahren Sie einmal auf der Promenade in gemächlichem Tempo jenseits der Ideallinie. Ähnliche Erfahrungen lassen sich auf den Rolltreppen der Londoner U-Bahn machen.

Ich drehe die dritte Runde um den Block. Wieder entpuppt sich eine vermeintliche Parklücke als Ausfahrt. Geduld. Da, plötzlich, eine bulliförmige Bucht. Ich parke das Gefährt parallel zum Radweg. Ein Blick in den Seitenspiegel: Bäume säumen die Straße, die auf den Teich zuläuft. Fahrradfahrer ziehen vorbei. Wir schauen ihnen nach. Ich lehne mich im Fahrersitz zurück und lasse die Arme sinken. Am Ende der Meditation steht die Entspannung.

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