Mützenich im Goldfieber
1. September 2015
120 Minuten können unendlich lang sein. 120 Minuten können aber auch verfliegen. Das Dorf Mützenich kämpfte kürzlich gegen die Uhr an. Der Auftrag war, so viel wie möglich authentisches Dorfleben in 120 Minuten zu packen. Denn es geht um Gold beim Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“. Auf Einladung der StädteRegion Aachen durfte ich an der Bereisung der Landeskommission in Mützenich teilnehmen. Was erwartet man von einem solchen Spektakel? Vor allem viel Inszenierung und wenig kritische Töne – im Grunde die rosarote Brille – hätte ich erwartet. Dass es wesentlich nüchterner zuging, war eine große Überraschung für mich.
Nach dem letztjährigen Gold auf der städteregionalen Ebene merkt man, dass die Teams in Mützenich noch gut eingespielt sind. Die Straßen sind gekehrt, die Häuser mit dem Dorfwappen beflaggt und die Präsentations-Choreografie einstudiert. Pünktlich um 8.30 Uhr ist es so weit. Der Bus mit der Landeskommission fährt vor. Die Schulkinder singen ein Ständchen, Hände werden geschüttelt und schon geht es in die Gastronomie der Reithalle. Die Ehrenplätze werden eingenommen und die Kommission spitzt die Bleistifte. Aber die 120 alles entscheidenden Minuten haben längst begonnen. Zunächst stellt Ortsvorsteherin Jaqueline Huppertz das Dorf vor und Städteregionsrat Helmut Etschenberg begrüßt die Ehrengäste wie etwa den ehemaligen Ministerpräsidenten der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens Karl-Heinz Lambertz und betont dabei die enge Zusammenarbeit und Verbundenheit des Dorfes mit dem Nachbarland. Davon zeugt auch die Anwesenheit von Monschaus Bürgermeisterin Margareta Ritter und weiteren Bürgermeistern aus den belgischen Nachbardörfern. Danach stellt sich die Bewertungskommission dem Dorf vor. Es folgt eine detaillierte Power-Point-Präsentation des Venndorfes mit seinen 2084 Einwohnern. Die Vereine, Aktivitäten, Feste und Bräuche wie die Kirmes, der Vennlauf, der Besuch des Nikolauses und der Möhneball werden erklärt. Der Möhneball sei der letzte seiner Art in der Städteregion Aachen. Maskiert wird bis Mitternacht getanzt, dann folgt die Demaskierung. Im Verlauf der Präsentation wird das „Weiße Pferdchen“ als kulturelle Institution ebenso präsentiert wie der „Highway-to-Hell-Grill“, der Welt-Laden und das Hotel Bellevue, das den Mittagstisch für die Grundschule liefert.
Immer wieder brechen in die Präsentation ungewollt komische Elemente ein und ich habe mich gefragt, wie ich diese beschreiben soll. Denn ich möchte nicht den Anschein erwecken, dass nun der Städter aufs Dorf kommt und sich über die Aktivitäten und Gepflogenheiten belustigt. Trotzdem musste ich zum Beispiel schmunzeln, als in der Präsentation auf das soziale Engagement einer Gruppe hingewiesen wurde, die sogenannte Lepra-Lappen strickt, die dann zu Tischdecken verbunden und zum wohltätigen Zweck für Lepra-Erkrankte verkauft werden. Das Engagement ist ehrenwert, aber die Bezeichnung Lepra-Lappen doch irgendwie komisch, so dass man darüber schmunzeln muss, weil sie die Hauterkrankung plastisch beschreibt und nicht etwa beschönigt. Man erschrickt und reagiert mit Lachen, weil man in Zeiten der politischen Korrektheit nur noch selten Dinge so schön direkt beim Namen genannt bekommt. Ich fand das sehr erfrischend und gerade im Rahmen einer solchen Präsentation auch mutig. Normalerweise ist immer die Rede von karitativen Initiativen oder ähnlichem, da bleibt manchmal die Authentizität auf der Strecke. Hier nicht. Ähnlich komisch aber ebenso authentisch drehen Reiter und Reiterinnen fleißig ihre Runden in der nur durch eine Glasscheibe abgetrennten Reithalle. Gewöhnlich würde man annehmen, nichts darf den Vortrag stören, aber das Reiten ist eben auch Teil des Dorflebens und deswegen auch Teil der Choreographie.
Durch weiteres soziales Engagement konnte kürzlich die erste Dorfzeitung erscheinen; der Kirmesbaum erhielt dank Spenden und ehrenamtlicher Mithilfe eine dauerhafte Halterung und drei Kapellen werden privat gepflegt. Als touristische Höhepunkte werden das Schmugglerdenkmal, Kaiser Karls Bettstatt, der Stehling, der Eifelblick, die Vennbahnroute und das Heimatmuseum genannt. Aber auch selbstkritische Töne fehlten nicht. Die Nahversorgung sei noch ausbaufähig und auch mehr barrierefreie Zugänge müssten in Zukunft in alle Bauvorhaben integriert werden. Da sei noch viel Nachholbedarf. Gerade diese offene Aussprache der Dinge, die im Dorf noch fehlen, die man aber durchaus im Blick habe und angehe, überzeugte mich davon, dass der Wettbewerb einen positiven Effekt hat. Ich hatte erwartet, dass es vielmehr nur um den Ist-Zustand gehen würde. Das man alles hochlobt, was da ist und das Fehlende versteckt. Dies war aber nicht der Fall. Als Abschluss der Präsentation des Dorfes in der Reithalle wird der neue Film „Wir sind Mützenich“ gezeigt, der musikalisch durch die Dorfhymne unterlegt ist und nochmals die Vorzüge und Schokoladenseiten des Dorfes aufgezeigt.
Etwa zur Halbzeit verlässt die Kommission die Reithalle, ein Jagdhorn-Quartett bläst zum Abschied vor dem Ausgang. Dann wird die Dorfbegehung im Reisebus vollzogen. Zunächst fährt der Bus zum Schmugglerdenkmal. Dann geht es durch die schmalen Dorfstraßen. Viele architektonische Besonderheiten wie das Vennhaus und das Eifelhaus werden gezeigt. Immer wieder stehen Dorfbewohner an den Fenstern der Häuser und winken. Immer wieder flackert die Inszenierung ein wenig am Straßenrand auf. So etwa als wir das erste Mal am Dorfgemeinschaftsplatz vorbeifahren. Man sieht schon, dass das ganze Dorf auf den Beinen ist, sich sortiert, Musikinstrumente warmgespielt werden. Die Kinder vor dem Kindergarten winken. Man hat das Gefühl, hinter einer Bühne vorbeizufahren, auf der jeden Moment der Vorhang hochgeht. Und so ist es dann auch. Als der Bus vor dem Kindergarten hält, erscheint es so, als sei die Kommission endgültig in einem Film gelandet, der ohne Schnitte und Pausen auskommt: Die Bustür geht auf und die Kindergartenkinder singen ein Ständchen. Kaum ist der kurze Applaus vorbei, geht es in der Eskorte unter musikalischer Begleitung des „Trommler- und Pfeiferkorps Mützenich“ auf den Dorfgemeinschaftsplatz. Hier hat sich nun das gesamte Dorf samt Traktoren versammelt und zeigt Präsenz. Es wird der Kommission erklärt, was der Platz für eine Bedeutung habe und was sich hier alles ereignet. Ohne Pause geht es weiter des Weges in Richtung Heimatmuseum. Auf der kurzen Strecke werden historische Dorfszenen aneinander gehängt: Einem Pferd werden die Hufe beschlagen, die Wiese wird mit der Sense gemäht und mit der Mistgabel wird ein Zaun aus Heu aufgetürmt. Ein Dorfbewohner zeigt wie man mit dem Hammer Werkzeug schleift. Am Ende des „Films“ gibt es Kaffee und Kuchen im Heimatmuseum. Die 120 Minuten sind verflogen.
Als die Kommission wieder im Bus sitzt und sich auf den Weg zur Bewertung eines weiteren Dorfs macht, fällt die Anspannung ab. Es hat alles gut funktioniert. Man ist zufrieden, genießt nun selbst Kaffee und Kuchen. Und es wird relativiert. Wichtig sei nicht das Gold, erzählen die Bewohner, es sei vor allem wichtig, dass man ein gemeinsames Ziel habe. „Unser Dorf hat Zukunft“ bewirke, dass einige Verbesserungen angestoßen wurden, die ohne den Wettbewerb wahrscheinlich nicht umgesetzt worden wären. Man sei gespannt auf den Entscheid am 13. September. Aber das Dorf habe für sich schon jetzt ein Stück Zukunft hinzugewonnen, auch wenn es am Ende nicht für eine Medaille reichen sollte. Und dass man sich heute von der besten Seite gezeigt habe, würde nicht bedeuten, dass es nicht auch das ein oder andere Problem im Dorf gebe.