Das Foto zeigt den Ausblick auf eine Stadt

Europa oder doch eher Provinz?

Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard schreibt: „Verstehen kann man das Leben nur rückwärts. Leben muss man es vorwärts.“ In genau diesem Dilemma befinde ich mich besonders, seitdem ich mich auf den Weg nach Aachen gemacht habe. Mein Vorhaben und Konzept war es, mit dem „unverstellten Blick“ hier anzukommen und mich beobachtend fortzubewegen. Dieser Ansatz war zunächst die gnadenlose Überforderung. Mein blaues Notizbuch füllte sich in den ersten Tagen mit erstaunlich vielen Tipps, Namen und Orten. Bei jedem Treffen oder Termin wuchs die Liste der Möglichkeiten. Oftmals wusste ich nicht mal, wie man das schreibt, was man mir vorschlug. Wenn völlige Unkenntnis auf absolute Gewohnheit trifft, führt das schnell zu Verständnisproblemen. Derjenige, der sich auskennt, will den anderen nicht damit brüskieren, ihn ständig als unwissend vorzuführen. Er setzt dann mehr Wissen voraus, als zu erwarten ist. Und derjenige, der neu ist, möchte nicht nach jedem Hinweis fragen: Wie war das nochmals? Wie hieß das? Also schrieb ich mir viele Fantasienamen und Orte auf, die ich aber zum Glück später wiederfand. Dann begann das Planen. Die ersten Tage und Wochen hatte ich gar nicht mehr das Gefühl, in der Gegenwart zu leben. Im Kopf war ich immer in der Zukunft. Die Gegenwart schrumpfte ein. Alles drehte sich nur noch um die Zukunft. Wann werde ich was ansehen? Wo fange ich an? Wie lote ich Fährten aus dem Überangebot aus, die mich weiterbringen? Und wie kann man überhaupt die Identität einer Region kennenlernen und beschreiben? Ein Ankerpunkt war für mich die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Papierproduktion in Düren. Das war zum einen nah an mir dran, da ich als Literaturwissenschaftler und Journalist das Papier benötige wie der Fischer das Wasser unter seinem Boot. Andererseits war es eine neue Welt für mich und ganz klar mit der Region verknüpft.

Mit der Zeit verdichtet sich dann alles mehr und mehr und man beginnt, nicht mehr nur punktuell wahrzunehmen, sondern Zusammenhänge zu sehen: Etwa die Rur als absolute Lebensader der Region. Ohne Rur kein Papier. Ohne Rur keine Tuchproduktion. Ohne Tuchproduktion keine Papierindustrie. Ohne Papierindustrie keine zuliefernde Metallindustrie. Nur, um einmal kurz die Lupe auf einen kleinen Ausschnitt der Region zu legen. Überhaupt verblüffte mich die Vielfalt der historischen Industriezweige und Handwerke: Tuchmacher, Korbmacher, Papiermacher, Gerber und Müller. Dann der Bergbau verschiedener Bodenschätze wie Blei, Erz, Braun- und Steinkohle. Die Nadel-, Kalk-, Zucker-, Süßwaren- und Glasindustrie, die ehemalige Schirmfabrik und Drahtfabrik, Puddel- und Walzwerke, Blei- und Zinkhütten sowie die Feintuchherstellung und die Töpferei. Würde ich heute nochmals beginnen, dann wäre mein Ansatz, chronologisch der industriellen Entwicklung entlang der Rur zu folgen und daraus Rückschlüsse auf den heutigen Alltag und die Kultur in der Region zu ziehen. Aber man versteht leider nur rückwärts und man kann nur punktuell beginnen, diesen Verständnisprozess einzuleiten.

In der Region Aachen hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, tatsächlich in Europa zu leben. Das soll kein markanter Satz sein, den ich hier zurücklasse. Es ist aus meiner Sicht ein Schlüssel zur Region und auch zur Identität. Wenn man anderswo das Gefühl hat, Europa ist ein theoretisches Konstrukt – eine reine Idee – so findet man hier das praktische Beispiel zu dieser Konstruktion. Im Zug von Lüttich nach Maastricht komme ich mit einer jungen Belgierin und einem italienischen Vater, der sich mit seinem Sohn auf Studienplatzsuche im Dreiländereck befindet, ins Gespräch. Wir kramen aus unseren Hinterköpfen französische Brocken hervor. Die freundliche Belgierin kommt uns aber immer wieder mit Englisch zur Hilfe. Der junge Italiener fragt, wie man Maastricht-Randwyck ausspricht. Die Belgierin sagt: Randwyck. Das sei das Gewerbegebiet von Maastricht. Sie ist gerade auf dem Weg, um mit Freunden in Maastricht den Freitagabend zu verbringen. Man fragt mich, was ich mache. Ich gebe mich als Tourist aus, der vor allem die Region Aachen bereist. Oftmals versiegen die Gespräche nämlich, wenn man sagt, dass man über das schreibt, was man erlebt. Man fragt mich, ob das überhaupt spannend für mich ist, weil ich ein Deutscher bin. Ich sage, ich kannte die Region vorher nicht. Sie fragen, was ich besonders an der Region finde. Das Vermischen von drei kulturellen Identitäten, ohne dass daraus eine neue Identität entsteht, antworte ich. Sie nicken. Die Belgierin meint, dass man sich mag, aber man sich nicht kopieren möchte – man teile eher die guten Dinge, tausche sie untereinander aus. In Maastricht trennen sich unsere Wege. Mehrfach hatte ich an diesem Tag, den ich mit dem Euregioticket in der Region verbrachte, solche Momente. Schon in der Theaterstraße in Aachen hörte ich im Bus nur Niederländisch. Als ich in Maastricht auf die Abfahrt des Zugs nach Lüttich wartete, war ich zwar auf niederländischem Terrain, aber hörte nur noch Französisch. Abends auf dem Rückweg von Maastricht nach Aachen ist der Bus gemischt mit vielen Niederländern und Deutschen, die sich alle ausgelassen auf dem Weg ins Wochenende befinden.

Aber auch andere Zufälle haben mir ein Europa-Gefühl gegeben. Etwa das Gespräch mit dem Leiter der Zuckerfabrik. EU-Marktverordnungen und ihre Auswirkungen sind ein großes Zeitungsthema meiner Jugend. Das wurde für mich nie wirklich greifbar. Wenn man dann aber mit jemandem an einem Tisch sitzt, der einem die Auswirkungen einer solchen Marktordnung im Guten und Schlechten erklären kann. Einem sagen kann, was das für den Heinsberger Landwirt ebenso wie für den Euskirchener Supermarktbesitzer bedeutet. Dann sieht man den Zusammenhang zwischen Zuckerrübe und Brüssel auf einmal ganz klar. Über EU-Marktverordnungen generell hätte man auch außerhalb der Region Aachen sprechen können. Was die Zuckerproduktion angeht, so ist die Region aber einer von wenigen Standorten in Deutschland. Auch die Arbeit des Zweckverbands Region Aachen, dem ich das Stipendium zu verdanken habe, hat einen großen Teil zu diesem Europagefühl beigetragen. Mit Interreg-Projekten und derlei europäischer Förderung wissenschaftlicher, wirtschaftlicher oder kultureller Arbeit auf makrointernationaler Ebene hatte ich mich noch nie befasst. Hier in der Region kommt man damit schnell in Berührung und auch hierbei gilt das Dreiländerprinzip.

Wie soll man nun die Region Aachen charakterisieren? Ich finde, stadt.land.text als Name des Projekts liefert schon einen guten Ansatz. Das habe ich aber erst in der Region verstanden. Das Stadt-Land-Gefälle ist enorm. So viel über Land bin ich schon lange nicht mehr gefahren. So viel in Dörfern und in der Natur war ich auch schon lange nicht mehr. Das Wort Provinz habe ich auch noch nie so oft gehört. Das sei alles so provinziell hier. Sie sind aus Bochum hergekommen? Mein Gott, dann herzlich willkommen in der Provinz! Aus Bochum hierher? Das muss aber ein Kulturschock sein! Soweit die Zusammenfassung ganz vieler Gespräche mit dem immer ähnlichen Inhalt. Für mich kontrastiert das absolut mit dem in der Region gewonnenen Europagefühl. Ist die Region Aachen nun provinziell? Das kann ich schlecht beantworten, weil ich ja gerade das Provinzielle gesucht habe. Vom Standpunkt der Hochkultur, aus der Sicht der Theatermacher, Konzertreihenorganisatoren, Kuratoren und so weiter mag das zutreffen. Jedoch war mein Ansatz nicht, die Region über ihr hochkulturelles, die Provinz überwindendes Programm zu bewerten. Das wäre Unsinn. Sie treffen doch auch keine Aussage über Bochum, indem sie sich den Spielplan des Schauspielhauses ansehen. Was sollte das über die Region aussagen? Natürlich hat mich „Faust 1+2 #konzentriert“ interessiert. Oder Bachwerke im Dom. Man könnte auch vergleichen, wie die Inszenierungen und Aufführungen hier angegangen werden im Gegensatz zu anderen Bühnen in anderen Regionen. Aber für stadt.land.text war ich der Meinung, dass es gut ist, wenn es provinziell ist und dass alles Hochkulturelle die Kirsche auf der Sahne auf dem Kuchen sein muss. Somit konnte ich immer antworten: Eigentlich ist es gut für meinen Ansatz, wenn es hier provinziell zugeht. Denn das suche ich. Aber um nochmals auf die ländlichen Regionen zurückzukommen: Was mir hier aufgefallen ist, sind die vielen Bemühungen, Kunst und Kultur auf das Land zu holen. Das Gefühl der Provinzialität scheint wirklich ein Muster zu sein. Wie viele Ateliers, Galerien, Museen und auch ungewöhnliche Kulturformate und -orte es hier gibt, das hat mich dann schon beeindruckt. Ein Grund dafür wird auch der Umstand sein, dass sich zwischen einer Stadt und der nächsten meistens viel grüner Raum befindet. Anstatt über Land in die nächste Stadt zu fahren, bemüht man sich eher, ein Programm im eigenen Dorf auf die Bühne zu bringen. Viele Einzelkämpfer mit vielen einzigartigen Ideen an vielen kleinen Orten sind hier am Werk. Ein wenig mehr Vernetzung könnte hierbei allerdings nicht schaden.

Im Kontrast zum Land steht dann das Stadtleben. Hier ist die Stadt Aachen vom Land betrachtet ein Referenzpunkt. Ganz häufig sagte man mir aber auch, man fahre eher nach Köln – etwa von Jülich aus. Sowieso von Euskirchen aus und aus der Voreifel. Dort haben die Kölner und Bonner auch viele Wochenendhäuser. Das erklärt für mich das dort sehr moderne – teils auch prunkvolle – Dorfleben. Das Stadtleben in Aachen ist für mich vor allem durch die historische Altstadt rund um den Dom und die hohe Museumsdichte auffällig geworden. Man findet immer das interessant, was man selbst nicht hat. Das ist normal. Das ist der „blinde Fleck“, den man mit sich herumträgt. In Bochum gibt es eine solche Altstadt nicht. Das zieht einen dann erst mal an. Im Gegensatz dazu habe ich das, was ich aus dem Stadtleben zuhause gewohnt bin, hier nicht so spannend gefunden. Also, die immer gleichen Trends, die in allen anderen Großstädten wie Pilze aus dem Boden sprießen: Will heißen, diese als Offenbarung angepriesenen Cake-Pop-, Frozen-Yoghurt-, Wunderwaffel- oder Vegan-Läden, die gut sind und auch mal Spaß machen. Die aber eben auch bald wieder verschwunden sein werden, sobald der nächste Trend kommt. Ich halte diese nicht für identitätsstiftend. Und wer wird schon von Cake-Pops satt? Es lebe das Streuselbrötchen! Dafür habe ich eine ausgeprägte Vorliebe entwickelt. Warum es noch kein Exportschlager geworden ist, verstehe ich nicht. Allerdings muss man aufpassen, wo man es kauft. Ich werde keine Namen nennen, aber so richtig lecker finde ich es nur in der Auslage einer einzigen Backerei. Essen und der ausdifferenzierte Umgang mit Kochkultur und dem Feinschmeckertum ist für mich eine herausragende Besonderheit der Stadt Aachen. So besonders, dass ich nicht darüber geschrieben habe, weil ich das Gefühl hatte, die Auseinandersetzung mit dem Thema ist hier so groß, dass ich mich lieber zurückhalte und den Food-Experten das Feld überlasse. Mir fiel jedenfalls von Beginn an auf, dass es in Aachen enorm viele feinkostnahe Läden gibt und dass das Kochen auf gehobenem Niveau sowohl Thema in Konversationen als auch Teil des allgemeingültigen Lebensstils ist. Warum das so ist, habe ich bei vielen verschiedenen Gelegenheiten gefragt und immer eine Antwort bekommen: Es ist die Nähe zu Belgien. Der Einfluss Belgiens.

Ein Problem war für mich von Beginn an, dass das Neue für mich meist das Bekannte für die Menschen aus der Region ist. Die Eindrücke, die ich für etwas Besonderes halte, sind für die Menschen in der Region wahrscheinlich das Normale. Wie kann man mit diesem Zwiespalt umgehen? Mit der Zeit merkte ich zu meiner Verwunderung, dass man mich eben nicht auf die kleinen Dinge hinwies, sondern mir eher die großen touristischen Attraktionen anriet. Man ist stolz auf seine Sehenswürdigkeiten. Man pflegt sie auch. So gibt es in der Region ganz viele Orte des Wandels, die auf dieser Heimatverbundenheit und Erhaltungsbemühungen der historischen Orte beruhen: Es zieht sich wie ein roter Faden durch meine Zeit in der Region. Denn auf dieses Phänomen der Revitalisierung bin ich völlig zufällig vielerorts getroffen. Mit Revitalisierung meine ich die Umdeutung und Umgestaltung von historischen Bauwerken in etwas Neues, das deren Erhalt gewährleistet. Es begann mit dem City-Outlet in Bad Münstereifel. Dort durfte zum Erhalt der alten Mauern und zur Wiederbelebung der Stadt ein Fabrikverkauf, verstreut durch die historische Altstadt, Einzug halten. Das Kloster Steinfeld in Kall mit dem neuen hotelähnlichen Gästehaus ist ebenso eine Neunutzung zum Schutze der alten Substanz. Auch die Burg Trips in Geilenkirchen ist ein derartiger Fall. Hier wurden die beiden Vorburgen des Anwesens in ein Alters- und Pflegeheim umgebaut. Auch diese Maßnahme diente der Renovierung und Belebung der ansonsten vor sich hin verfallenden Substanz. Vielleicht ist mir das andernorts nicht aufgefallen, aber in der Region Aachen habe ich solche Revitalisierungen jedenfalls als absolut positiven Umgang mit historischem Kulturgut wahrgenommen. Ohne Wandel würde vieles dem Verfall preisgegeben. Was schade wäre. Denn man sieht ja, innovative Konzepte für eine weitere Nutzung sind vorhanden. Diese Innovationen sind mit Sicherheit durch die starke technisch-wissenschaftliche Prägung der Region vonseiten ihrer Lehr- und Forschungseinrichtungen angestoßen. Immerhin stellt die Technische Hochschule einen Magneten für Studenten aus ganz Europa dar und dient der Region eben auch als Motor für Kreativität im technisch-wirtschaftlichen Bereich – und wird wahrscheinlich immer der wichtigste Anstoßgeber für die Zukunft der Region bleiben.

Das Kennenlernen der Region Aachen ist nach den vier Monaten nicht abgeschlossen. Wahrscheinlich werden sich viele Verbindungen und Themen erst in der Ferne noch weiter zusammenfügen und sich das Gesamtbild erst aus der Distanz betrachten lassen. Verstehen funktioniert eben immer nur rückwärts.

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