Eine weite Reise im Elektroflüsterbus
1. Oktober 2015
Selten dienen Busfahrten dem Zweck der Unterhaltung. Gewöhnlich will man schnell von A nach B kommen. Bloß nicht länger im Bus verweilen als nötig. Wer würde schon freiwillig zwei Stunden lang mit den öffentlichen Verkehrsmitteln im Kreis fahren? Die kleine Reisegemeinschaft, die sich gestern Abend am Aachener Bushof an Haltestelle 3 traf, mag aus der Ferne ausgesehen haben wie eine gewöhnliche Busladung Menschen im Feierabendverkehr auf dem Weg zur heimischen Couch. Es ging für sie jedoch auf eine Reise im doppelten Sinne. Während der leise flüsternde Elektrobus gemütlich durch die Aachener Innenstadt kreiselte, reisten seine Fahrgäste durch die imaginierten Welten der Autorinnen und Autoren.
Zunächst blieben die Lesereisenden aber in der Region: Es ging in Städte wie Bad Münstereifel und Monschau und an die belgische Grenze. Judith Kuckart las aus ihrem Roman „Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück“, der elf Episoden umfasst, in denen die Figuren Unerhörtes erleben, das sie ereilt wie ein Unfall und die unbestechliche Zufälligkeit des Lebens offenbart. Hernach machte die Reisegruppe nicht nur geographisch einen Sprung, sondern auch zeitlich landete sie in weiter Ferne. Feridun Zaimoglu entführte in das Istanbul der 1930er Jahre – mit einer außergewöhnlicher Perspektive: „Sie nennen mich Hitlers Sohn. Flüchtiger Arier. Kind mit Kraft. Sie nennen mich Windhundwelpe des Führers. Sie rufen mich den Gelben, die kleine Sonne, Zauberperle, lachendes glückliches Äffchen. Sie sagen: Verwandle dich nicht, und wir werden dich bewundern. Sie wollen mir schmeicheln, also lächele ich sie an.“ Der Autor las aus seinem jüngsten Roman „Siebentürmeviertel“ in der unverwechselbaren, einzigartigen, rhythmisierten Les- und Sprechweise, die seinen Lesungen einen Performance-Charakter verleiht. Man hätte ihm gut und gerne noch lang zugehört, wäre der Bus einfach weiter gefahren. Den Schlusspunkt der literarischen Tour machte die österreichische Schriftstellerin Vea Kaiser. Sie las und erzählte abwechselnd von ihren Protagonisten Eleni und Lefti aus dem Roman „Makarionissi oder Die Insel der Seligen“, die an der albanisch-griechischen Grenze von der Großmutter trotz nahem Verwandtschaftsverhältnis verkuppelt werden sollen, wogegen sich die pubertierende Eleni aus schierem Trotz heftig stemmt. Aber der griechische Militärputsch sollte die beiden dann doch noch vor den Altar treiben, bevor sie in das beschauliche, deutsche Hildesheim auswandern.
Das Vorlesen im Bus scheint die Urerinnerungen unserer Kindertage zu wecken. Die Kombination von Lesen und Schaukeln hat etwas Beruhigendes. Sanft gleitet man auf den Worten und Sätzen durch die Dämmerung und entlang der Lichter streift man durch die Stadt. Manchmal stört der Blick aus dem Bus die Narration. Manchmal ergänzt er sie. „Titel on Tour“ heißt die vom NRW-Kultursekretariat organisierte mobile Lesereihe. Seit zehn Jahren schon schicken die Veranstalter Autorinnen und Autoren mit ihren Zuhörern in öffentlichen Verkehrsmitteln auf die Reise. Erstmals fand die Tour in Kooperation mit der vhs Aachen und der ASEAG auch in Aachen statt.