In der Wildnis
11. Juli 2016
Folge 1:
Die Entdeckungsreise
„Wildnis Anfang“ steht auf dem Schild an der Bushaltestelle. Reihenhäuser, Vorgärten, na gut auch ein paar Wiesen, Felder, aber von der Wildnis mit Leoparden und Dschungel keine Spur. Und dennoch: Hier beginnt sie die Wildnis von Herzogenrath. Eine einzige Straße führt hinab ins Tal, direkt zum Naturpark. Dem Epizentrum des Heimatsvereins Worm-Wildnis.
Der Heimatverein Worm-Wildnis
„Ich habe den Verein mit meinem Mann 1971 ins Leben gerufen“, sagt Helga Reising. Immer wieder seien früher Politiker in ihr Restaurant gekommen, um sich über das Wohl der Wormscher und Wildnisser zu erkunden. „Die haben einfach den Dialog mit allen gesucht“, bekundet Reisinger. Um diesen zu stärken, wurde schließlich der Heimatverein gegründet, der auch heute noch rund 200 Mitglieder zählt.
Ob Ostereier suchen, großes Spargel- oder Muschelessen, Maibaumaufstellen, Vatertagfest, Heimatchor oder die Versammlung einmal im Monat – Reising ist wichtig, dass die Gemeinschaft gelebt wird. „Zusammen ist immer besser als alleine“, sagt sie, nickt energisch und sticht mit der Gabel in ein Stück Käsekuchen. Für das besondere bürgerschaftliche Engagement bei der Planung und Gestaltung des Dorflebens hat Worm-Wildnis 2014 sogar eine Urkunde im Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ der Städteregion erhalten.
Doch die Wildnis hat nicht nur Zukunft, sie hat auch eine Vergangenheit. Selbst das Vereinsgebäude hat eine historische Geschichte, war es doch früher eine Wäscherei für Kies und Sand. Aber auch andere sind in der Wildnis den Überresten vergangener Zeiten auf der Spur.
Nicht nur Fotografen…
Zwei Männer mit Kameras um den Hals stapfen aus der Wildnis. Am Morgen sind sie früh aufgestanden und extra aus Koblenz angereist, um die Wildnis zu erkunden. „Wir kartieren hier die Landschaft“, sagt Peter Burggraaff. Er und Jörn Schultheiß kommen vom Institut für Integrierte Naturwissenschaften der Universität Koblenz. Ihr Spezialgebiet: Kulturlandschaftsanalyse. Zusammen machen sie Aufnahmen für ein Projekt des Landschaftsverbands Rheinland (LVR). Eine alte Stadtmauer. Ein Schloss. Oder eben die Wildnis. „Das alles sind stumme Zeugnisse der Vergangenheit“, sagt Burggraaff. Mit dem Projekt KuLaDig – Kultur. Landschaft. Digital. – hat der LVR ein digitales Informationssystem über die historische Kulturlandschaft und das landschaftliche, kulturelle Erbe ins Leben gerufen. „Die Wildnis ist deswegen so interessant, weil das Gebiet vor 1815 eine Einheit war“, erklärt Burggraaff. Eigentlich trug es nämlich trug den Namen Land van Rode. Dieses meinte das Gebiet der Städte Kerkrade und Herzogenrath. Die beiden Städte wurden erst durch die Grenzziehung des Wiener Kongresses voneinander getrennt; kooperieren aber seit 1998 offiziell in Form einer Körperschaft unter dem Namen „Eurode“. Spannend für die beiden Kartographen. Sie sind auf der Suche nach bäuerlichen Siedlungen um 1800 und Spuren der Arbeiter aus dem Bergbau im frühen 20. Jahrhundert. An dem Gebiet rund um die Wildnis werden Burggraaff und Schultheiß noch bis Januar 2017 forschen.
Der Archivar
Vom Forschen hält auch Stefan Hau viel. Er ist Archivar des Vereins und herrscht über zahlreiche Daten, Fakten und alte Fotographien. Ob Geschichten über die nahe gelegenen Sandsteinwerke, eine ehemalige Flaschen- oder Apfelkrautfabrik; Hau hat alles gesammelt. Auch die Geschichte über Anna Nöhlen. „Sie hat in der Nazizeit Juden geholfen, über die Grenze in Worm-Wildnis zu flüchten“, erzählt Hau. Heutzutage trägt die Brücke über das Flüsschen Wurm ihren Namen. Hier hatte sie unter Lebensgefahr zahlreiche Menschen aus der Wildnis über die Grenze begleitet.1939 wurde Nöhlen verhaftet und in das Konzentrationslager in Ravensbrück eingewiesen. Schließlich wurde sie in der „Heil- und Pflegeanstalt Bernburg/Saale“ ermordet. Eine Gedenktafel an der Anna-Nöhlen-Brücke erinnert noch heute an ihr Tun.
Hau kennt die Geschichten der Gegend. Eine besondere Vorliebe hat er für Wegekreuze. Rund um Herzogenrath hat er alle Kreuze aufgesucht, sie fotografiert und ihre Geschichten archiviert: „Das hier“, sagt Hau und deutet auf ein Foto aus einem seiner selbstgemachten Sammelwerke, „das ist mein liebstes Wegekreuz.“ Man erzählt sich, dass drei Männer das Kreuz in der Wildnis 1911 zusammen errichtet haben sollen. „Die waren bei ihrer Arbeit ganz gut dabei“, erzählt Hau und zwinkert. Und mit „gut dabei“ meint er nicht nur den Arbeitseifer der jungen Männer, denn bei der Arbeit soll eine leere Schnapsflasche mit in das Fundament eingemauert worden sein.
Ein wilder Kerl
Carl Fischer ist zwar nicht in der Wildnis geboren, aber lebt hier schon seit Kindestagen. „Ich bin hier früher überall unterwegs gewesen“, erzählt er. Seine Totenkopfarmbänder klimpern bei der Arbeit im Vorgarten. Knapp hundert Meter weiter lässt sich schon das Schild der Bushaltestelle: „Wildnis Ende“ erahnen. „Dort beginnt Worm“, sagt Fischer und nickt wissend. Damals hat er die Rivalitäten zwischen Wormschern und Wildnissern mitausgetragen. „Wir haben uns als Jugendliche richtig bekämpft“, erzählt er. Irgendwann habe man sich aber beim Fußballspielen angenähert. Heute gibt es solche Kämpfchen nicht mehr und auch Fischer ist zwar immer noch gerne draußen, inzwischen aber lieber auf seinem roten Motorrad-Wüstenschiff, dass er mit einem Fleece-Tuch auf Hochglanz poliert.
Am Vereinshaus im Naturpark haben es sich Hau und Reising auf der Terrasse gemütlich gemacht. Ihr Blick schweift durch die Wildnis. „Wir haben hier auch Fasanen und sogar einen Dachs“, sagt Reising. Jetzt im Sommer verwandelt sich die Wildnis jedoch nachts in einen Ort, der nicht von dieser Welt sein könnte. Aberhunderte von Glühwürmchen erleuchten dann den Wald – eine märchenhafte Feenwelt. Auch im Vereinshaus wird die einkehrende Nacht in der Wildnis immer wieder besungen. So endet ein Treffen im Vereinshaus zunächst mit einem Kräuterschnaps und dann mit einer eigenen Strophe zu „Der Mond ist aufgegangen“:
Nu loost Adije oss sahre, (Nun lasst uns Tschüss sagen,)
wür mösse no heem faahre, (wir müssen noch heimfahren,)
et iss atwörm jedoe. (es ist schon getan.)
Wür hant su schönn jesonge, (Wir haben so schön gesungen,)
oss leetcher hant jeklonge, (unsere Lieder haben geklungen,)
nu losst oss rö-isch schloffe joe. (nun lasst uns richtig schlafen gehen.)
Wieso in die Wildnis?
Zu jeder guten Reise gehört auch immer ein kleines Abenteuer, eine Reise ins Ungewisse – eben eine Entdeckungsreise in die Wildnis! Als ich am Morgen mit meinem alten Koffer in den Wald lief, hätte ich nicht damit gerechnet, nach wenigen Metern ausgerechnet zwei Kartographen aus Koblenz zu treffen. Ich möchte mich am der Stelle noch einmal bei allen Interviewpartnern für ihre Zeit und Offenheit bedanken – ohne sie wäre ein so spannender Tag in die Wildnis sicherlich nicht möglich gewesen.
Ach ja, und das nächste Mal, wenn ich in die Wildnis komme, werde ich auf jeden Fall vorher bei Frau Reising „grüne Suppe“ essen gehen – eine ihrer Spezialitäten, aus sieben Kräutern gekocht, die angeblich gegen Mückenstiche schützen soll. Denn obwohl es keine Leoparden in der Herzogenrather Wildnis gibt: Mücken, die haben sie dann doch.