Der Rauch ist verzogen – das Sauerland als Vorgarten des Ruhrgebiets

„Was mich ärgert ist, dass viele das Hochsauerland nur als grüne Lunge des Ruhrgebiets ansehen, obwohl wir inzwischen das Kern-Industriegebiet sind“, schimpfte vor über zehn Jahren der Arnsberger Fabrikant Dieter Henrici in der FAZ. Ein interessanter Vorwurf, wenn man dabei an Max von der Grün, Bergarbeiter, zweimal dabei verschüttet, später Schriftsteller aus Dortmund, dem damaligen Kern-Industriegebiet denkt. Der nannte das Sauerland in einer Merian Reportage, für die er 1977 mit dem VW Käfer durch die Berge und Täler juckelte, noch „den Vorgarten des Ruhrgebiets“. Sauerland war – uff, durchatmen. Heute sind sich die beiden Regionen bei Luft und Look nähergekommen, irgendwie.

Meine Mutter kommt aus dem Sauerland, ich habe hier als Kind viel Zeit verbracht, Wanderungen durch die Wälder, Osterfeuer auf Bergkuppen, Spazieren um Seen. Aufgewachsen bin ich in einem Dortmund, das weder Außengastronomie noch begrünte Mittelstreifen hatte. Der Vorgarten, den Max von der Grün wohl meinte, war oft das einzige, in jedem Fall das nächste Grün. Im Vorgarten einer Zechenkolonie, wenn es überhaupt einen gibt, sitzt man nach Feierabend, redet mit den Nachbarn, da zieht man vielleicht Gemüse, zischt ein Pilsken oder stutzt die Wiese. Und am Wochenende raus aus den grau-rußigen, betonversiegelten Städten voller potthässlicher Wiederaufbauarchitektur, weg von qualmenden Schloten, dem DängDängDäng der damals noch fahrenden Förderkörbe, dem Horror der autogerechten Innenstädte, den kleinen Häuschen und dem nächtlichen Sonnenaufgang ohne Horizont beim Abstich im Stahlwerk bei Hoesch. Der Kontrast hätte nicht größer sein können.

„Es gibt vielleicht noch schönere Ecken in Deutschland, ganz sicher unberührterte, aber keine wird von so vielen Menschen so bitter benötigt wie das Sauerland. Für Millionen, die täglich unter der Dunstglocke des Ruhrgebiets leben müssen, ist hier die grüne Lunge, die ihnen neuen Atem gibt.“ Max von der Grün

Auf einem Foto so um die Zeit als Max von der Grün für den Merian Sauerland seinen Text schrieb, sieht man meine Familie im Westfalenpark vorm Florian Fernsehturm (damals das Wahrzeichen) stehen: Frühjahr offenbar, mein Vater mit Koteletten in Schlaghosen, Mutter mit einem bauschenden Kleid und großer Sonnenbrille, ich mit Pilzkopf in Cordhosen stehen wir da und blinzeln. Noch nicht viele Blätter an den Bäumen aber ein klarer Himmel – und im Hintergrund die zwei rauchende Hochöfen von Phönix West. Ganz normal wirkt das. Wirken wir. Und auf der Fahrt zu Omma ins Sauerland dann die ewige Landstraße, Wälder, Wälder, Höfe, Kühe, glänzende Bäche und Talsperre und Kopfsteinpflasterstraßen zwischen Altbauten – und eine Burg über der Stadt, 45 Minuten entfernt.

Heute: Die IHKs der Region „Südwestfalen“ (einem Kunstverbund aus Sauerland und Siegerland, der von vielen hier nicht gemocht wird) verweisen stolz auf „153 Weltmarktführer“, vor allem mittelständische und inhabergeführte Unternehmen – nicht stadtverunstaltende Großindustrie.
Weltweit stammt jedenfalls jede fünfte Fahrradpumpe von Scheffer-Klute in Sundern. Vier von zehn Rolltreppen zwischen Düsseldorf und Dehli laufen auf Ketten von Ketten Wulf in Eslohe-Kückelheim. Veltins und Krombacher trinkt man auch anderswo in Europa, wie vor 30 Jahren DAB und Union Pils aus Dortmund. Das Sauerland  (Vollbeschäftigung in den meisten Kreisen!) hat den Job des industriellen Kerns übernommen. Es steht dabei – Wälder, Berge, Fachwerk, Arbeit, Export, Wurst und Bier – für ein Deutschland, wie es sich im Ausland viele vorstellen – die würden nur die fehlenden Lederhosen beklagen.

Aber bemerkt man die Industrie in der Landschaft, so wie sie im Ruhrgebiet mit Bahntrassen, Autobahnen, Kanälen und Siedlungen die Städte bis heute formt? Höchstens an den vielen LKWs, denen man auf den gut ausgebauten Bundesstraßen begegnet – ansonsten grünt und hügelt und fachwerkt es hier wie schon zu den Zeiten, als der spendierfreudige Steiger aus der Industriemetropole hier mit seinem Opel vorfuhr und im Dorf den Lärri gemacht hat – wie man so sagt.

Um einen Buchtitel zu zitieren: „Der Rauch verbindet die Städte nicht nicht mehr“. Stattdessen: „Boa ist das grün hier!“ Dieser Ausruf der Ruhrgebiets-Erst-Besuchers beendet die eigenartige Nostalgie, von weißer Wäsche, die zum Trocknen rausgehängt, abends grau ist. Currywurst. ehrlicher Fußball und schwatte Gesichter, tempi passati. Die Letzte Zeche schloss vor 30, letztes großes Stahlwerk vor 20 Jahren, der BVB ist Aktienunternehmen, und auch sonst wird vor allem gedienstleistet und gut gegessen – mehr oder minder emissionsfrei. Parks in der Stadt, Grünstreifen überall, stillgelegte Bahnstrecken als Radwege mitten durch die Stadt und der Phönixsee auf dem ehemaligen Stahlwerksgelände – so sieht Dortmund heute aus. Für Grün und frische Luft braucht keiner mehr ins Sauerland fahren, Nur, wenn man wie ich hier in Bödefeld abends noch einen Spaziergang den Berg rauf machen will und in totaler Stille unter sich auf Hügellandschaften blickt, die im warmen Licht des Abends der Toskana in nichts nachstehen – fehlt nur ein Weingut und 10 Grad mehr – dann kriegt man das nur hier.

Sauerland und Ruhrgebiet sind sich in 40 Jahren ähnlicher geworden. Aber zum Glück nicht im globalisierten Sinn von überall das Gleiche, von kultureller Nivellierung und dem Verlust von Traditionen und Heimatgefühlen. Sondern in dem Sinn, dass man nimmt, was man brauchen kann und lässt, was nicht passt und trotzdem weiß, wo man herkommt.
Als Ruhrgebietler hier ist alles sicher nicht mehr so krass übergrün, aber ob Abendsparziergang oder Wirtschaftsgeografie: das Sauerland hat was. Oder liegt’s einfach am Alter, dass ich mir vorstellen kann, hier öfter hinzukommen und schon ein Häuschen gefunden hab, das perfekt passen würde. Ehemaliges Försterhäuschen, Waldrand, kein Nachbar auf 500 Metern und ein Blick auf die rollenden Hügel – und trotzdem ein Vorgarten dabei.


Foto rauchender Schlot: www.gelsenkirchener-geschichten.de
Phönix Dortmund: Fotograf unbekannt
alle anderen Fotos: Caravante

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