Heimat festhalten – die Wunderkammer von Holthausen – TEIL 2

‘Wir, die Überlebenden, sehen alles von oben herunter, sehen alles zugleich und wissen dennoch nicht, wie es war.’ W.G. Sebald, Ringe des Saturn

„Wer ist eigentlich dieser Heimat?“ – diese Frage stellte sich vor, während und nach dem Besuch im Westfälischen Schieferbergbau und Heimatmuseum in Holthausen. Einige unfertige und andeutende Gedanken schrieb ich schon in TEIL 1 dieses Versuchs über Heimat und Erinnerung und das Glück der Entdeckung.

Beim Gang durch die vielen, verschachtelten, mal luftigen, mal engen Räume, bei dieser Reise durch Volksfrömmigkeit und Religion, Jagd und Waldwirtschaft, durch Schieferbergbau und Industrie, Handwerk und am Ende sogar Kunst, sind es weniger die einzelnen Objekte, die erzählen, als das ganze Haus. Vor allem erzählt es von der Unmöglichkeit das Leben zu zeigen, wie es ist, oder war. Gerade in dieser Vergeblichkeit, die durch die schiere Masse an Objekten und Themen und Darstellungen nur noch deutlicher wird, darin liegt die Kraft und das Faszinierende. Nie weiß ich, was mich im nächsten Raum, am Fuss der nächsten Treppe erwartet, welches Licht, welcher Böden, welche Epoche, ob Vitrinen oder Bilder, Möbel oder Maschinen, welcher Teil der Geschichte aus dem Sauerland.

Romanmaterial und blinde Flecken
Elektrisiert arbeite ich mich von Raum zu Raum. Es ist genau, was ich liebe, egal ob in Literatur oder Film oder eben einem Museum: Fragmentierte, parallellaufende Erzählungen, durch winzige, höchstens erahnbare Linien verknüpfte Momente oder Artefakte – im Grunde bedeutungslos, aber durch den hinzugedachten Menschen, ein Lebenszeichen. Das sind Rufe aus der Vergangenheit – mal berührend, manchmal unverständlich, immer ein bisschen rätselhaft.

Jeder Weg zwischen zwei Räumen kurbelt an der eigenen Fantasiemaschine: Wer waren F. C. Selz und A. J. Wendler, zwei sauerländer USA-Auswanderer im 19. Jahrhundert, deren Namen allein schon für einen Thomas Pynchon Roman reichten. Fotos von Männern im Saloon der beiden in Canyon City, Oregon: Alle an einen langen Tresen gelehnt, alle ohne ein Lächeln, dafür mit mächtigen Schnurrbärten. Draußen der Witz von einer Stadt mitten im Dreck – wie das nächste Foto zeigt.
Wer war die kleine Elisabeth Schrewe, die nur zwei Jahre alt wurde, Anfang des letzen Jahrhunderts, wer hätte sie sein können und was erlebt? Ist „Kindersterben“ jemals Alltag gewesen? Was aus der Strickwaren Fabrik Solomon Stern ab 1936 wurde, ist bekannt, wenn auch hier nicht erzählt. Diesen ekligen, ausbeuterischen, räuberischen Teil des Nationalsozialismus gab es aber auch im Sauerland. Wenn der Hammer eines Schusters oder das Fernglas eines Jägers etwas übers Sauerland erzählen, oder ein Saloon in den USA und Tabakpflanzen in einer Vitrine die Vergangenheit greifbar machen sollen, dann doch eigentlich auch das Schicksal des größten jüdische Unternehmens, der Firma Salomon Stern mit 120 Beschäftigten.

Und plötzlich Kunst
Mitten im Museum, in Bauch und Brust des Hauses, residiert die Südwestfälische Galerie – eine Sammlung mit 7000 Werken ab dem 19. Jahrhundert, die „aus dem Sauerland stammen oder über die künstlerische Arbeit mit dem Sauerland verbunden sind“. Rund 150 Bilder werden durchgehend gezeigt und es gibt immer wieder Ausstellungen zeitgenössischer Kunst.
Die Dauerausstellung beginnt mit Selbstportraits. Passend, denn das ganze Haus ist im Grunde ein komplexes, unüberschaubares, widersprüchliches, inspirierendes Selbstportrait der Region. Es gibt Werke hier ansässiger und verzogener Künstler zu sehen, Skulptur, Malerei, Grafik. Auch hier wie im Rest des Hauses folgen die Werke keiner ausgearbeiteten Narration, sondern „Sauerland“ ist der weite, vielschichtige und assoziative Rahmen für alles.

Hach, Heimat. In diesem Museum jedenfalls sollen die Objekte nicht bloß eine „Storylinie“ illustrieren, sondern zeigen widersprüchliche, vereinzelte, befremdliche Objekte in einer räumlichen und zeitlichen Co-Existenz. Das Museum erzählt immer auch von der Welt, vom Leben, wenn es von sich selbst erzählt. „Erinnerung“ wird zum kreativen Prozess – ohne Anspruch auf Korrektheit, Vollständigkeit oder wissenschaftliche Nüchternheit – zu einer  wahren Wunderkammer. Hooked to Heimat. Dies war das erste, wird aber nicht das letzte Heimatmuseum für mich sein.

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