Von Gräben in der politischen Nachbarschaft

Es ist noch etwas Zeit bis zum 24. September. Wenn ein neuer Bundestag gewählt wird. Sollten Prognosen hierzulande besser funktionieren als bei der vergangenen US-Wahl dann. Kanzlerin. Vizekanzler aus NRW. Drittstärkste Partei ganz neu in Berlin. Ein anderer Wind. Andere Gegenspieler. Andere Diskurse.

Eine schmale Straße unweit der Hammer Fußgängerzone. Vereinzelte Restaurants und kleine Läden, sehr ruhig ist es. Auffällig, wie viele Wahlplakate hier hängen. Überraschend nur so lang, bis ich weiß, dass nicht nur ein Büro der Linken, sondern auch der CDU hier zu finden sind. Sie sind Nachbarn, von der Straße getrennt. Straße kann hier auch Graben sein, Fenster Spähmöglichkeit, das Gegenüber weit entfernt und verschlossen. Unerreichbar. Oder unantastbar.

Herr Şengül erwartet mich im Büro der Linken in Hamm. Der Fraktionsvorsitzende der Linken in Hamm kam in sehr jungen Jahren aus der Türkei nach Deutschland. Politik ist für ihn Pflicht. Aufgrund von Herkunft. Aufgrund eines Verständnisses von Gesellschaft. Aufgrund von Überzeugungen.
Im Mittelpunkt des Interesses ein Nenner, den sich wohl viele, wenn nicht alle Parteien so ins Buch schreiben: der Mensch in der Gesellschaft. In genaueren Betrachtungen dann Differenzen. Selbstverständlich. Doch das der Anhaltspunkt, darüber sollte man reden.

Im Gespräch mit Herrn Şengül aber noch mehr. Das Miteinander in einer Gesellschaft, die Achtung, der Respekt, die Interdependenzen zwischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Dogmatisches Denken. Sicherheit als unerschöpfliches Wahlkampfthema. Der Verlust von Empathie, von Solidarität.
Selbstverständlich heißt es Wahl-Kampf. Selbstverständlich ist es Konkurrenz. Selbstverständlich ist Parteizugehörigkeit ein Label, ein Urteil. Mittlerweile auch selbstverständlich: Bildung wird zum Urteil. Wohnort, Geschlecht, Sozialisation. Unterscheidungen zwischen Urteil und Einschätzung essentiell.

Was ist Nachbarschaft, Herr Şengül? Aufeinander achten, füreinander sorgen, miteinander leben. Das Gespräch mit der Sitznachbarin im Bus, das Fest in der Straße, die gemeinsame Lösungsfindung im Rat der Stadt Hamm. Bescheidenheit und Offenheit. Taktgefühl. In der direkten Nachbarschaft wird nicht über Politik gesprochen, da sind wir alle Bürger. Nachbarn.

Das höchste Amt in der Demokratie das des Bürgers.

Meine eigenen politischen Überzeugungen auszuklammern versuchend: Begeisterung für einen Menschen, der sich für andere Menschen einsetzt. Der konstruktiv streiten möchte. Der von und mit anderen lernen möchte. Der andere Meinungen hören, vielleicht verstehen möchte. Ein Mensch der Prinzipien. Auch, wenn es um unangenehme Themen geht. Auch, oder besonders dann, wenn viele Perspektiven auf eine Gegebenheit relevant sind.

Warum Hamm, Herr Şengül? Hier kennt man sich noch.
Die Nachbarn von gegenüber grüßen mittlerweile auch. Hin und wieder. Immerhin. Nach einigen Jahren.

Die Stadt füllt sich derweil mit Wahlplakaten. Mit Versprechen, mit Phrasen. Im Flimmerkasten ein ‚Duell‘ der beiden Spitzenkandidat*innen. Altbekanntes. Schwarz-rote Perlen.

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