Von Ängsten und Islamkritik

Nicht mehr lang bis zur Bundestagswahl. Fußgängerzonen mit Schirmen und Aktionen. Gummibärchen, Kugelschreiber, Luftballons. Plakate mit Bekanntem. Oder Irritierendem.

Ein Gespräch mit Pierre Jung, Kandidat der Alternative für Deutschland im Wahlkreis 145. Rund 90 Minuten, davon vor allem: Kritik am Islam. Islam sei Ideologie. Wie Sozialismus. Islam sei eine Gefahr. Für uns.

Immer wieder eine binäre Gegenüberstellung: wir und die.

Wir, die Deutschen, auf der einen Seite. Sie, die muslimischen, sich nicht assimilierenden Menschen auf der anderen Seite. Wir, die Wütenden, auf der einen Seite. Sie, die Naiven und Gutgläubigen auf der anderen Seite. Wir, die Freiheitsliebenden. Sie, die von den Medien fehlgeleiteten. Wir, die Nachfahren von Kant. Freiheitsliebend. Freiheitlich und konservativ.
Wir, die mit der deutschen Seele, die immer tief in die Materie eintauchen und die Grundsätze hinterfragen. Wir, die arbeiten, hart, bis alle Aufgaben gelöst und alles glatt ist. Der Geist der Freiheit stumpfe schließlich nie ab, bei uns.
Sie, die Südländer, die möglicherweise behaupten, fünf sei eine gerade Zahl. Oder sie, die Muslime, die sagen: So Gott will.

Wir, die nicht gegen Muslime sind. Aber gegen den Islam.

Wir, das sind auch die sich eingeschränkt und bedroht Fühlenden. Eingeschränkt von Tempolimit. Bedroht von anderen, fremden, vor allem dieser einen, dieser muslimischen Kultur. Von der Radikalisierung von Muslimen in Deutschland seit dem 11. September. Von der Scharia, die im deutschen Recht auch ihre Anwendung finde. Bedroht vom Verlust freiheitlicher und konservativer, vor allem aber deutscher Werte. Bedroht, vergewaltigt zu werden. Bedroht, von einer Vergesellschaftung des Islams, die in der Verbreitung der Verschleierungen von Frauen ihren Ausdruck finde. Bedroht von einem Ausverkauf deutscher Werte. Bedroht von einem wirtschaftlichen Bankrott Deutschlands. Bedroht, weil deutsch in Deutschland.

Ein einprägsamer Satz, immer wieder. Eine Antwort auf Bedrohungen und Einschränkungen: „Politik ist für mich Notwehr!“

Meine Gedanken sind Fragen. Meine Fragen wirken surreal, auf mich selbst. Ich glaubte uns alle schon viel weiter. Warum so viel Angst? Vor dem Neuen, vor dem Fremden, vor dem Anderen. Antworten? Nicht zu finden im Wahlprogramm dieser ‚Alternative‘.

Schlagworte vielmehr: Verrohung, Aufspaltung zwischen Arm und Reich. Mangel an Informationen. Mangel an Bildung. Mangel an Empathie. Mangel an (multi-)kulturellen Angeboten, Mangel an gemeinschaftlichen Räumen. Gefühlter Verlust von dem, was einmal Heimat ausgemacht haben könnte. Und: Wiederholung der Geschichte. Kommt der Glaube auf, schlecht dazustehen, wird nach unten getreten. Auf die Schwächeren. Auf das leicht identifizierte Feindbild.

Der schwindende Glaube an die Politik der Mitte. Wer ist schuld? Wer hat wirklich Macht? Nach welchen Interessen wird politisch wirklich gehandelt? Welche Herausforderungen haben Priorität? Gibt es noch Herausforderungen, die individuell zu beantworten sind, ohne neue Fragen aufzumachen?

Die Welt der Gegenwart, die Realität, komplex. Es gibt nicht mehr nur das Hier und Jetzt. Heimat nicht mehr verortbar, nur noch ein Gefühl.

Deutschland im Herbst. Home is where your fear is.

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