Aspirin Night
19. Oktober 2017
11 Drops zur sofortigen Einnahme
Drei farbige Punkte auf dem Asphalt. Erst bemerke ich sie nicht, suche nach dem Weg. Kunstnacht in Leverkusen. Doch wo fährt der Shuttlebus? Der Bahnhof eine Baustelle. Jemand schickt mich durch eine Unterführung. Dort beginnen sie. Wie Smarties über den Weg gestreut, nur größer, sie ergeben eine Linie, eine Fährte. Ich verstehe: Die Punkte sind ein Leitsystem. Folglich muss man ihnen folgen. Durch die Wohnkolonie zieht sich die farbige Naht. Neontönen führen vorbei an gelblichen Häusern, die wirken als hätte man sie ausgestanzt, so ähnlich sind sie einander. Bayers Kolonien. Das durchkomponierte Haus, bis hin zu den Möbeln. Alles durch designt.
Selbst ein Fahrrad bekam die Arbeiter gestellt, um schneller vom eignen Haus zum Werk zu kommen. Oder vielleicht auch andersrum. Wer weiß schon, wo die Rechnung beginnt. Hauptsache, sie geht für alle auf, am Ende.
Das Leitsystem, das ich erst für einen Teil der Kunstnacht halte, ist in Wirklichkeit ständiger Bestandteil des Straßenbildes, seit am Bahnhof gebaut wird. Nicht alles ist Aktion, auch wenn es danach aussieht. Einiges ist einfach nur DB.
Der Bus ruckelt durch die Straßen. Auf der Anzeige steht Sparkasse, als wäre es eine Destination. Ich wähle die rote Linie, sie fährt das Museum Morsbroich an. Kurzzeitig war es von der Schließung bedroht. Ein unglaublicher Gedanke. Wenn ich in meiner Region einen Ort gesehen habe, in dem es wirklich um die Kunst geht, dann ist es dieser. Wer kam auf die Idee es zu schließen? Leverkusen sei seit einigen Jahren im Nothaushalt, man habe das Sparpotential erforschen wollen. Der stellvertretende Leiter lächelt leise. Ein Museum als Sparpotential. Ich möchte wissen, wo dieser Gedanke beginnt. Zeigt mir das Hirn, in dem er seinen Lauf nimmt. Ich möchte dabei sein bei seiner Verfertigung, die Kanäle nachvollziehen, durch die er schießt. Wie viele Areale durchzieht er? Und vor allem: Wie viele Pillen braucht es?
Das Erholungshaus in Leverkusen, das Bayer erbauen ließ. Ein riesiger Konzertsaal, Ausstellungsflächen und Tomatensuppe zur freien Verfügung.. Ich setze mich zu einer älteren Frau, sichtlich blas im Gesicht. Ihr sei schwarz vor Augen geworden, ich dachte, ich sterbe. – Aber doch nicht hier, antworte ich. In der langen Kunstnacht stirbt keiner, behaupte ich, schon gar nicht im Erholungshaus.
Ich gehe nach oben, in einem kleineren Saal spielen zwei Jazzmusiker rückwärts Stücke von Thelonious Monk, einer Jazzlegende, wie ich an jenem Abend erfahre. Der Gedanke, das Feld von hinten aufzurollen, gefällt mir. Überlege mir, meine Texte gespiegelt auf den Blog zu stellen und die Leser aufzufordern, zum Entziffern auf die Toilette zu gehen. Handspiegel geht auch.
Im Museum Morsbroich ist in der aktuellen Ausstellung von Miroslaw Balka folgende Arbeit zu sehen: In einen Betonsockel ist ein abgeschnittenes Geländer eingelassen. Es steht nur auf einem Fuß, es lässt sich um die eigene Achse drehen, wenn man es weiß, wenn man sich traut, auf die Patina zu fassen, die die Witterung auf dem Metall hinterlassen hat. Durch die Drehung entstehen Töne, eine Art Orgel. Wenn man es weiß. Das Geländer soll aus dem Haus des Künstler-Großvaters stammen, es war Teil seines Balkons. Mir gefällt der Gedanke, aus einer Begrenzung, Abtrennung, Sicherung Töne zu ziehen.
Ein lauer Abend. Erstaunlich lau für Mitte Oktober. Vor der Tür des Koloniemuseums sind kleine Lichter aufgestellt. Im Erdgeschoss sitzen Menschen, die etwas verbindet. Es geht über die Frikadellen und Getränke hinaus, wie mir schnell klar wird. Eine Frau im historischen Kleid fragt mich, ob ich zur Ausstellung wolle. Ein Mann spricht vom Bodenbelag, zeigt auf eine Art Linoleum mit Musteraufdruck, den habe es in allen Häusern gegeben. Angesichts textil nachempfundener Rechtecken und der Hingabe, mit der über sie gesprochen wird, glaube ich für einen Moment, das kollektive Denken dieser Siedlungen, ihren Zusammenhalt nachvollziehen zu können.