Dortmund – vom U aus gesehen. ©mhu

Wie Kiezgrößen entstehen – Eine Gebrauchsanweisung

Nimm ein Viertel, nicht groß. Ein Viertel kann schon eine Straße sein. Das ist legitim, ist mir mehrfach untergekommen. Wer das Ziel hat, schnell Bekanntheit zu erlangen, der suche sich am besten ein Ein-Straßen-Viertel. In der Straße sollte man aber nicht wohnen. Man hat ja nicht immer Muße, erkannt zu werden. Eine Wohnung in einer Nebenstraße ist oft günstiger und verstärkt das Mysterium um einen selbst (wo wohnt er/sie bloß?) und damit – natürlich – den Bekanntheitsgrad.

Wichtig ist es, so schnell wie möglich andere Kiezgrößen ausfindig zu machen. Den Kontakt sollte man nicht scheuen, es geht um alles. Und dann geht es auch erst mal so: Andocken, integrieren, absorbieren lassen. Dabei sein, also oft. Sich aber auch rar machen. Nicht zu oft, aber oft. Empfehlenswert ist es, sich in zeitlichen Schüben zu zeigen: Mal eine Woche täglich, dann wieder Tage nicht mehr. Zu Veranstaltungen oder Kneipeneinladungen erst auftauchen, wenn die anderen bereits angeheitert, aber noch nicht allzu betrunken sind. So entstehen Freundschaften, das hat etwas mit Spatien zu tun. Das ist lateinisch und bedeutet Zwischenräume. Kommt nicht von mir, hab ich mir von einem Freund geliehen. Was den Sympathiewert erhöht: Wortschatz des anderen annehmen. Aber: nicht alles. Gerne auch mal ironisch brechen, aber nicht übertreiben. Gleiches gilt für das Angehen gemeinsamer Projekte: Entgegenkommen, zum Teil. Dann klar formulieren, was man will. Dann machen.

Für den Nervenkitzel und vor allem für den eigenen Spaß: Improvisationsmomente zulassen. Nicht alles durchdenken, nicht alles verplanen. Dinge passieren lassen. Vom Hörensagen leben, das kommt dann schon.

Die anderen Kiezgrößen nicht verdrängen. Man lebt in friedlicher Koexistenz, eine Unterscheidung in den Künsten ist zu empfehlen. Nicht das gleiche machen wie die etablierte Größe. Was auch immer die jeweilige Kiezgröße so Besonderes kann, das kann nämlich alles sein. Von der Marke „verkannter Musiker“ über „verkannter Kunstlehrerkünstler“ bis hin zum Viertel-Juristen, der aussieht wie ein französischer Schauspieler und auch so guckt und der auch noch genauso leger über die Straße läuft in seiner ockerfarbenen Bluson-Jacke und diesem melancholisch-kecken Ausdruck in den Augen und seinen Haaren und … Nun gut.

Man sollte in jedem Fall genau beobachten und dann: was zusammen machen. Funktioniert nicht immer mit dem Wunschkandidaten, aber man sollte am Anfang nicht wählerisch sein. Das gleiche gilt für Straßen-Bekanntschaften: Alle Menschen grüßen, die man kennt und an einem im Viertel vorbeilaufen. Kurz quatschen. Drei Minuten aber maximal, dann weiter.

Das alles durchziehen für eine x Zeit, dann aber auch wissen, dass man gehen muss. Auch, wenn es schwer fällt. Sehr schwer. Zum Heulen schwer.

Je Viertel schaffen es immer nur ein bis zwei Kiezgrößen auf Dauer. Man kann davon ausgehen: Man selbst ist es nicht. Deswegen: fluktuieren, andere Viertel finden. Noch mal von vorne anfangen.

Bis dahin, eigene Erfolge wie folgt feiern:

den Kleidungsstil ändern, leicht aber nur. Bloß nicht zu viel. Das gleiche bei Bewegungsabläufen, Mimik und Gestik. Menschen in die Augen schauen. Scham ablegen. Draußen essen. Alleine unterwegs sein. Promenieren, im wörtlichen Sinn. Lesen. Schweigen.

Und: sich in Ruhe anschauen lassen.

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