zusammenhalten

diametral zum weltgeschehen verhält sich das, was in der tagesschau nach wie vor als einziger programmpunkt eine art normalität zu vermitteln scheint, über die woche klar, wolkenlos und sonnig. in meiner vorübergehenden eigenen identitätszuschreibung als sabine oder angelika, nicht 28, sondern ca. 68, die sich über e-bike touren die region erschließt, stelle ich sehr bald fest, dass auch diese metaebene meines aufenthalts bröckelt. es fühlt sich weder blöd, noch langweilig oder spießig an, im sonnenschein über flache feldwege zu fahren, im gegenteil: während sich die großstädtische welt in überteuerten wohnungen auszuhalten versucht, ist über meinem kopf keine abgehangene zimmerdecke, sondern blau; statt stille oder angst pfeift in meinen ohren die meiste zeit wind; statt in überfüllten stadtparks spaziergänger*innen auszuweichen, gewöhne ich mir kontaktlosigkeit höchstens zwischen händen und lenker an. zwischenzeitlich bin ich kurz davor irgendwas in die luft zu schreien oder zumindest zu rufen, um das freiheitliche gefühl nicht nur mit ausgestreckten armen, sondern auch akustisch zu artikulieren, man kennt das aus filmen. es ist mir dann allerdings doch zu peinlich.

 

auch die letzten anstrengungen, dem klischee (überfrachteter großstadtmensch sucht ruhe auf land) nicht zu entsprechen, lösen sich diese woche vollständig im geruch nach gülle und heu, im zärtlichen und gleichzeitig fordernden gurren der hühner, in den müden auge der kühe, dem beruhigen blöken der schafe, der unbeholfenen gangart der alpakas, auf. der verbleibende einfluss auf mein handeln, das winzige bisschen FOMO, das ich diese woche verspüre, ergibt sich aus der sonne: ein inneres bedürfnis, sie auszunutzen, denn auf sie bin ich angewiesen, zum fahrradfahren und auch ein bisschen, damit ich zuhause nicht im apokalyptischen corona-informationsloch und der sorge um angehörige versinke.

auf dem selbst auferlegten programm stehen also tägliche touren. ich fahre nach rees, nach wesel, zum schloss bellinghoven oder zur isselburg (dabei handelt es sich nicht, wie ich dachte, um eine burg, sondern um einen ort, der nach einer burg benannt ist, von dieser burg besteht heute noch ein turm, ich bin verhältnismäßig enttäuscht), suche das bislicher meer, finde es nicht, finde stattdessen eine passende, dem kontemporären millennial einleuchtende beschreibung der landschaft: es ist wie in der netflix-serie „dark“, nur nicht dark, sondern hell. was sonst passiert, ähnelt so stark einer netflix-serie, dass ich es aufgegeben habe, netflix-serien zu schauen, das ard-extra nach der tagesschau reicht völlig.

kontaktlos verlaufen die ausflüge auch deshalb nicht, weil meine mobilen daten aufgrund der anfänglichen w-lan problematik gänzlich aufgebraucht sind. statt auf google maps, muss ich mich während meiner touren deshalb auf wegbeschilderung und die auskunft der mir begegnenden niederrheiner*innen verlassen. das ganze klappt erstaunlich gut, die fahrradwege sind gekennzeichnet, die menschen zurückhaltend aber freundlich, teils vermummt, aber freundlich. einen tag fahre ich nichtsahnend durch eine straße an einem feld entlang (dass es sich um einen ort handelt, erkennt man hauptsächlich am ortseingangs- und ausgangsschild), lese aus dem augenwinkel den schriftzug „zusammenhalten!“, gemasert in einen massiven holzpfahl, am ende eine faust, ebenfalls hölzern und geballt. ich halte an, drehe um. „F-YOU CORONA“ steht auf der anderen seite des länglichen quaders, das jugendfreie kunstobjekt gehört zu thomas. er ist künstler, designer, tischlermeister und lebt in der region, erzählt mir von seinem projekt, es solle etwas positives darstellen, nichts negatives, wir hätten eine „scheiß-zeit“ vor uns, während er redet ballt auch er die faust. das pathos wirkt angebracht.

in gruppen-videochats via skype, twitch oder houseparty findet das neue abendliche sozialleben statt. zwar vermittelt es ein gefühl von zusammen, augenkontakt und konversationsfluss stocken jedoch fernab tatsächlicher intimität in oxytocinfreien, zeitversetzten bildausschnitten. aus meinem heraus versuche ich meine freund*innen vom landleben zu überzeugen, muss mich ein bisschen bremsen: dass das verhältnis aus hinterherhinkender peripherie und lebensdurstigem ballungszentrum gerade den umständen entsprechend umgekehrt ist, verfälscht jedes urteil, das ist mir bei all der euphorie bewusst.

„freiheit erfahren“, diesen slogan lese ich in isselburg, er gehört zu einer fahrschule, blau, fett und kursiv, er passt zu meiner woche. der wind nervt ein bisschen.

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