verdrängung
5. April 2020
während der isolation durchlebt man phasen, die an die sieben mentalen etappen eines marathons erinnern: das hoch, die verdrängung, der anflug von panik, die ernüchterung, das tief, die aufmunterung, der wandel. allerdings spulen sie sich im pandemie-fall schneller ab, als während eines ordnungsgemäßen langlaufs, der nach 42,159 kilometern zwangsläufig in einem fest abgesteckten ziel endet. durch die ungewissheit, die derzeit alles bestimmt, wiederholen sie sich, hintergehen die reihenfolge und wechseln sich tageweise ab.
nicht umsonst explodieren die online-tagebücher zu corona: zwar lassen die tagesabläufe von jedem und jeder – zumindest sofern er/sie im systemirrelevanten, existenzsichernden und kinderlosen homeoffice sitzt – so wenig abwechslung wie nie zu: restaurantbesuch, party oder urlaub, ereignisse also, die sonst zum ausstaffieren der illusion einer einzigartigkeit des westlichen alltags und seines individualistischen geschmacks beitragen; die freizeit, findet wenn überhaupt, dann auf dem display statt und für niemanden – zumindest ist mir das noch nicht passiert – hinterlässt eine gestreamte lesung oder ein dj-set bei insta live bleibende erinnerungen. trotzdem schreiben die leute, lassen andere an ihren gefühlen teilhaben, die sich durch die wenigen einflüsse, den mangeln an zerstreuung und das immernoch surreal erscheinende weltgeschehen zu potenzieren scheinen.
auch meine woche verläuft in sich gekehrter. während ich arbeite, jogge, fahrradfahre, bin ich nach wie vor froh über diesen standort, die vielen tiere, die wenigen menschen, die sonnige weitläufigkeit, die subtile, aber eingängige ästhetik des dörflichen lebens. mangels tatsächlichen kontakts mit den menschen, die dieses leben führen, spiegeln sich die sieben marathon-phasen für mich weiterhin hauptsächlich in den bildausschnitten bei zoom und skype. selten wurde auf die frage „wie geht’s dir?“ so wahrheitsgemäß geantwortet. die gespräche sind zwar immernoch corona-dominiert, mittlerweile kommt es aber vor, dass die monothematik bricht, man kann das c-wort nicht mehr hören. mit zwei freundinnen führe ich beispielsweise ein langes, anregendes gespräch über zervixschleim.
dass die situation an der substanz nagt, die leute langsam durchdrehen, zeigt sich im kleinen. bei dm stehe ich an der kasse, die kundin vor mir kauft unter anderem toilettenpapier. statt es routiniert über den scanner zu ziehen, hält die kassiererin plötzlich inne, streicht verträumt, fast zärtlich über die packung, sagt „das haben sie wirklich schön gemacht. wirklich schön oder? und das muster“, sie sucht den blick der kundin, die ihrem ausweicht. ihr ist das ganze sichtlich unangenehm. unbeirrt davon wendet sich die kassiererin zur kassenschlange, „oder?“. „wirklich schön“, pflichtet eine ältere frau ihr bei, und als ich mich umdrehe, sehe ich hinter mir einen mann mit glatze, der intensiv nickt und dabei kurz die augen schließt, in dieser typischen, fachmännischen art.
erst als ich auf dem parkplatz stehe, wird mir die absurdität des eben erlebten bewusst. vielleicht war das die verdrängung.