Osterspaziergang in #metoo Variationen

An das Ratschen der Messdiener auf den Straßen konnte ich mich kaum erinnern. Sie mussten schon da gewesen sein, als ich noch Kind war, denn es ist eine sehr alte Tradition. Mir war sie aber nie aufgefallen und so ignorierte ich lange auch das Schweigen der Glocken zu Ostertagen.

Da war dann dieses Familienfest. Ich überlegte lange abzusagen, schließlich war ich schwanger, es blieben nur noch einige Wochen bis zur Geburt. Die Vorstellung in Südwestfalen womöglich mein Kind zu bekommen, schreckte mich ab. Ich wollte nicht in der Provinz gebären.

Doch die Frauenärztin beruhigte mich, der Muttermund sei geschlossen, es könnte nichts passieren, alles im grünen Bereich und eine Bekannte erklärte, sie würde eine gute Hebamme in der Gegend kennen, die könnten wir kontaktieren, sollte es doch unerwartete Komplikationen geben.

Es war noch drei Tage bis Ostern, doch schon in der ersten Nacht wurde ich von einem intensiven Harndrang geweckt. Was sich anfühlte, wie eine plötzlich und unerwartet ausgebrochene Nykturie, war in Wirklichkeit eine geplatzte Fruchtblase.

Auf die Geburt war ich nicht vorbereitet. Kleider, alle für das Neugeborene besorgten Gegenstände, hatte ich zu Hause in der Großstadt gelassen. Ich wollte ja nichts provozieren, keine frühzeitige Geburt, das Kind sollte dort geboren werden, wo seine Entbindung geplant war, in einem schönen und modernen Krankenhaus, nicht auf Reisen im Hinterland. Ich hatte die Möglichkeit ausgeblendet, dass es auch ungeplant laufen könnte, verdrängt, so, wie Europa die letzten Monate und vielleicht sogar Jahre, die potentielle Möglichkeit verdrängt hat, dass irgendwann eine globale Pandemie ausbrechen könnte.

Wenn man nicht will, dass etwas passiert, dann kann man einfach so tun, als würde es nicht geschehen können, bis einen die Wirklichkeit dann einholt, oder nicht.

Mich hatte sie eingeholt. Die Geburt hatte begonnen, stellte die Hebamme fest, als sie kurz nach meinem Anruf bei uns auftauchte. Sie musste damals schnell handeln, sich entscheiden.

Sie sagte, sie hätte an diesem Tag eigentlich etwas Anderes vorgehabt, aber sie war bereit, eine Hausgeburt mit uns zu machen.

Noch heute stelle ich erstaunt fest, dass alle Beteiligten ruhig und entspannt blieben. Niemand regte sich auf, verfiel in Panik oder schrie. Nach Abschluss der Untersuchung wurde mir beim Aufstehen übel und ich kotzte auf dem Wohnzimmerteppich. Eines meiner Geschwister eilte herbei, um das Erbrochene aufzuwischen. Eine Nachbarin brachte einen Weidenkorb mit Decken, eine Bekannte besorgte Babykleidung. Während die Hebamme anfing, ihr Material aufzubauen, einen Gummiball verlangte, wurden im Haus Eier gekocht und angemalt, Spargel geschält, Sekt kaltgestellt.

Ob ich nicht etwas spazieren gehen wollte, schlug mir die Hebamme vor, das könnte die Geburt weiter in Gang bringen. Die Sonne schien, einige mutige Bienen waren bereits unterwegs, hielten Konversation mit den Narzissen im Beet und als ich auf der anderen Straßenseite in das Bachbett schaute, konnte ich sehen, dass die Kaulquappen schon Beine hatten.

Bei einer Geburt ist der Körper wie auf Drogen, die Wahrnehmung ist um ein Tausendfaches verstärkt, es ist, als wären Kopf und Körper eins, jede Empfindung, jede Bewegung, jeder Laut dringt gleichzeitig auf alle Sinne. Ein gebärender Körper fühlt sich an wie eine generelle Empfangsstörung, alles läuft gleichzeitig, durcheinander, viel zu schnell und doch hinkt jede Wahrnehmung hinterher.

Die Straße führte einen kleinen Hang hinauf, dahinter lag eine weitere Siedlung, eine Fabrik und danach kam der Wald. Weiter als fünfhundert Meter bin ich nicht gekommen. Schon an der nächsten Ecke brach ich nach vorn, stützte die Hände auf die Knie, bemüht, in die nächste Wehe zu atmen, so wie es mir die Hebamme geraten hatte. Jede neue Wehe löste das Gefühl aus, die Schmerzen würden nie weggehen. Ich fühlte mich wie eine Ertrinkende, die verzweifelt bemüht war, wieder an Sauerstoff zu bekommen. Zuerst hörte ich dieses aufdringliche Klappern nur in meinem Kopf.

Dann schaffte ich es, mich umzudrehen und da standen sie.

Ich hatte sie vorher nicht bemerkt, sondern das Kreischen meinen Gehirnwindungen zugeordnet.

Sie waren von hinten gekommen, wie die Wehen, und als wollten sie denen noch Mut machen, mich weiter, tiefer, fester zu quälen, drehten sie aufgeregt ihre Ratschen im Kreis.

Das Kreischen in meinen Ohren war plötzlich stärker, als die Wehen in meinem Unterleib.

Mir gelang es irgendwie, wieder ruhig zu atmen, mich aus meiner gebückten, lächerlichen Haltung aufzurichten und so sahen wir uns direkt in die Augen. Von Angesicht zu Angesicht. Die Messdiener und ich. Sie waren drei, etwa zwölfjährige Jungen, die wahrscheinlich noch nie eine Gebärende live gesehen hatten. Denen diese weiblichen Krämpfe eines behäbigen Körpers unbekannt waren und fremd. Vielleicht würden sie sich, irgendwann später einmal in ihren Leben an diesen Moment erinnern. Bis dahin aber drehten sie weiter nervös ihre Ratschen und hatten aufgerissene Münder. Sie standen und starrten mich an, als glaubten sie, sie könnten so einfach mich und meine Wehen aus ihrer Zielgeraden wegratschen.

Ich biss mir auf die Zähne. Ich wollte schreien, sie anbrüllen, doch endlich zu verschwinden oder wenigsten mit diesem Gerassel aufzuhören.

Aber das konnte ich nicht. Die Messdiener hatten ihre Aufgabe, sie ratschten die Gebetszeiten und ich hatte die meine, ein Kind zu gebären. So schleppte ich mich zurück ins Haus.

Es war ein heißer Apriltag und die Fenster standen offen. Noch bis zum Abend hörte ich sie immer wieder mit ihren Ratschen durch die Straßen ziehen. Ich hörte sie, als ich auf dem Ball lag. Und auch kurz bevor ich in die Wanne stieg, konnte ich sie hören. Als ich laut aufschrie, meinte die Hebamme, sie könnte jetzt den Kopf sehen.

Später, auf dem Bett, als ich zum ersten Mal in meinem Leben mein eigenes Kind im Arm hielt, die blutigen Flecken auf seiner Stirn bemerkte und erstaunt feststellte, dass die Fingernägel noch ganz rot und gar nicht weiß waren, hörte ich die Ratschen nicht mehr und auch nicht am Tag darauf, obwohl es immer noch vierundzwanzig Stunden dauerte, bis Ostern war.

 

… und so hört sich das Ratschen an.

Bild von Susanne Thomas, Herzlichen Dank!

Mehr von Barbara Peveling