MOMUMENT Teil VI
25. Mai 2020
SECHS
Alles sah genau so aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Links ein kleines Stück Moorwald mit hohen Buchen und dichten Büscheln Binsengras bewachsen, der Schotterweg, der unter meinen Schritten knirschte, am Wegrand hohe Stapel gefällter und entasteter Baumstämme, die bis zu Abtransport hier lagerten. Links des Weges war gerade eine größere Fläche gerodet worden. Ein ganz feiner Geruch von Verwesung stieg vom Moor auf, Pollen trieben durch die Luft, kitzelten in meiner Nase, Amseln, die im Laub zwischen den Bäumen raschelten.
Der Weg führte erst durch einen lichten Wald, an einem Haus vorbei und gabelte sich dann. Weiße Blühten wehten von den beiden Weißdornbäumen an der Ecke über den Weg, blieben in meinem Haar hängen und an den moosbewachsenen Baumstämmen, die am Weg lagen. Ich streckte einen Finger aus, um das Moos zu berühren, zog ihn dann wieder zurück. Mein Roller stand an der Weggabelung.
Ich stieg auf und fuhr lautlos und im Schritttempo geradeaus weiter. Der Wald links von mir war durch einen Zaun abgesperrt. Dahinter wuchsen junge Birken, Buchen, Kiefern, darunter Farne und anderes Gestrüpp. Rechts von mir führte ein kleiner Graben am Weg entlang, dahinter ältere Kiefern, Eichen und Roteichen auf unebenem Waldboden. Ich dachte daran, was meine Mutter mir über die konservierende Wirkung des Parks erzählt hatte. Unter den bewaldeten Flächen, hatte sie erklärt, lagen noch die mittelalterlichen Äcker. Ich konnte mich allerdings nicht an den Begriff erinnern, den sie verwendet hatte.
„Du meinst wahrscheinlich den Ausdruck ‚Wölbäcker‘“, sagte die Stimme. „Der Wildpark Dülmen wurde etwa 1860 von den Herzögen von Croy nach englischem Vorbild gestaltet. Durch seinen Baumbestand und den Schutz vor landwirtschaftlicher Nutzung wirkte der Park konservierend für die mittelalterlichen Wölbäcker, welche durch Plaggendüngung und das Pflügen mit einscharigem Beetpflug entstanden waren. Durch die Düngung mit Weide- und Waldboden, sogenannten Plaggen, wuchs das Ackerland über die Jahrhunderte hier bis zu 80cm in die Höhe.“
„Danke für den Vortrag“, dachte ich. „Bitte. Soll ich dir noch mehr über den Wildpark Dülmen erzählen, zum Beispiel über den englischen Landschaftsarchitekten Edward Milner und seine elf Kinder?“
„Nein Danke.“
Ich fuhr an dem gigantischen Rhododendronstrauch vorbei. Er war eingezäunt, vielleicht damit die Tiere ihn nicht anfraßen. Meine Mutter hatte diesen Strauch geliebt. Ihre eigenen im Berliner Garten waren immer nach ein paar Jahren eingegangen. „Rhododendron“, hatte sie in diesem verzückten Tonfall gesagt und eine der Blüten abgebrochen. Damals hatte ich es peinlich gefunden, die Art und Weise, wie sie „Rhododendron“ gesagt und dabei geguckt hatte.
Nach ein paar Minuten verließ ich den kleinen Wald. Links erstreckte sich eine weite Wiese, rechts der Herzteich, hinter dem weitere Wiesenflächen lagen, auf denen einzelne Bäume und Baumgruppen scheinbar willkürlich verteilt waren. Eine kleine Gruppe Hirsche stand am Teich, daneben Kanada Gänse. Zwischen den Bäumen grasten Heidschnucken. Eine Ente führte ihre Küken ins Wasser. Ich hielt an der Brücke über den Teich an.
Drei Männer saßen auf einer Picknickdecke im Schatten einer Buche. Ein Kind, wahrscheinlich ihr Sohn lief über die Brücke und auf mich zu. „Bitte, keine Menschen“, sagte ich. Der Junge und die Männer verschwanden. Die Picknickdecke blieb. Ich stellte den Roller ab, betrat die Brücke und schaute auf das Wasser. Ich dachte daran, wie meine Mutter und meine Cousinen ihre Füße ins Wasser gehalten hatten. Sofort war eine Drohne angeflogen gekommen, aus deren Lautsprecher eine Stimme sie ermahnt hatte, der Teich sei nicht zum Baden da. „Wir baden doch nicht“, hatte meine Mutter gesagt und der Drohne einen Vogel gezeigt.