Von Menschen, die in Kapseln wohnen

Ich treffe sie an der Bushaltestelle der Linie 303.

Ich studiere die Aushänge, als wären sie in einer fremden Sprache verfasst. Fährt der Bus nach Gummersbach, frage ich, und sie sagt ja und dass der Bus normalerweise eine Schleife fahre, aber wegen einer Baustelle halte er vorübergehend nur hier. Deshalb die verwirrenden Aushänge. Ich sei also richtig.

Ich esse ein Kindercountry und weil sie so jung aussieht, biete ich ihr auch eins an, sie will nein sagen, sagt aber ja, bzw. etwas in ihr sagt ja. Wir schweigen ein bisschen. Dann ist es komisch zu schweigen, die Süßigkeiten verbinden uns und wir kommen ins Gespräch.

Sie staunt, dass man freiwillig 20 Kilometer durchs Gelände gehen kann.

Sie arbeitet im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahrs in der Pflege. Die Arbeit in der Klinik gefällt ihr. Sie sei nämlich sehr schüchtern und bei dieser Arbeit habe sie viel Kontakt zu anderen Menschen. Der Kontakt komme quasi von selbst mit der Arbeit. Außerdem mag sie die Geschichten, die die Patient:innen erzählen. Manche erzählen nichts, aber viele erzählen sehr viel. Und noch etwas: Es sei schön mitzuerleben, wenn Menschen gesund werden. 

Inklusive Pausen verbringt sie jeden Tag neun Stunden in der Klinik – pendeln nicht mitgerechnet. Deshalb kann sie sich mit mir auch nicht zu einem Spaziergang auf der Straße der Arbeit verabreden, sie hat einfach keine Zeit.

Erzählen Sie mir eine Geschichte

Wir sitzen im Bus und sehen aus dem Fenster und fahren auf der kurvenreichen Landstraße der Arbeit nach Hause. Sie will ihr Abitur nachholen und Kunstlehrerin werden. Sie kann nämlich sehr gut zeichnen. Sie verkaufe bereits einige ihrer Werke, kleine Zeichentrick-Serien und Mangas. Sie zeigt mir auf dem Handy eine Zeichnung, ein Junge mit einer Mütze und daneben ein japanisches Schriftzeichen. Sie schreibt auch Geschichten und manchmal zeichnet sie diese Geschichten.

Erzählen Sie mir eine Geschichte, sage ich.

Sie überlegt kurz und dann überlegt sie noch einmal länger. Vielleicht die hier, sagt sie. Sie handelt von Menschen, die in einer Kapsel leben. Sie denken, die Welt ist so, wie es in der Kapsel ist, und wissen nicht, dass es eine Kapsel ist, in der sie leben.

Wie das Höhlengleichnis, oder?, sage ich.

Kenne ich nicht.

Von Platon, sage ich. Sie zuckt mit den Schultern. Ich erzähle ihr das Höhlengleichnis und sie stimmt mir zu, dass es ähnlich ist. Nur die Schatten fehlen in ihrer Geschichte, stattdessen lernen ihre Menschen anhand von Erinnerungen und Erzählungen anderer, und ein paar Generationen später erkennen einige, dass es ein Leben außerhalb der Kapsel geben muss. Und machen sich auf den Weg nach draußen. 



Warum, frage ich, erkennen es die einen, und die anderen nicht?

Es hat, sagt sie, vielleicht mit den Monstern zu tun. Es sind natürlich gar keine echten, es sind künstliche Monster, sie wurden nämlich von Menschen geschaffen, aber nicht von denen, die in der Kapsel leben, sondern von Menschen, die außerhalb leben und alles kontrollieren.

Der Bus fährt seit 20 Minuten halsbrecherisch über die bergischen Dörfer, es gibt sehr viele Kreisverkehre und ich sitze gegen die Fahrtrichtung. Die Monster sitzen jetzt in meinem Magen und randalieren.

Warum haben die Menschen denn diese Monster geschaffen, frage ich.

Es ist, sagt sie, ein wissenschaftliches Experiment. Sie experimentieren mit den Menschen in den Kapseln, sie wollen wissen, wie Menschen sich verhalten, wenn man sie mit Monstern in eine Kapsel sperrt.

Sterben die Monster am Ende?

Der Bus fährt über einen Platz, links und rechts Polizei, wir schauen beide nach draußen, alles leuchtet blau.

Offenbar ist da etwas passiert, sage ich. Sterben die Monster am Ende?

Eigentlich nicht, sie sind ja künstlich, sagt sie und wir überlegen beide, ob etwas, das nur künstlich ist, sterben kann. Sie glaubt nein. Ich bin nicht sicher, ich bin nur sicher, dass ich darüber noch öfter nachdenken werde.

Das Ende der Geschichte, sagt sie, ist offen, das gefällt mir nicht so gut. Irgendwie ist die Geschichte noch nicht zu Ende.

Vielleicht, schlage ich vor, gibt es eine Fortsetzung, einen Teil II. Übrigens, wieso verlassen am Ende nicht alle Menschen die Kapsel?

Weil die meisten einfach nicht glauben, dass es ein Leben außerhalb gibt, sagt sie. Sie halten die anderen für Spinner, für Phantasten. Und die Monster halten sie für echt.

Und was unterscheidet die Phantasten von den anderen?

Die Hoffnung. Sie glauben an etwas und sie hoffen, dass es das, an was sie glauben, wirklich gibt.

Gefällt mir sehr gut, Ihre Geschichte, sage ich. Im zweiten Teil könnten die Phantasten sich ja auf die Suche machen nach dem, an das sie glauben. Ob es das wirklich gibt.

Ich muss jetzt aussteigen, sagt sie. Sie heiße Melina.

Melina steigt aus dem Bus, und ich setze mich in Fahrtrichtung. In meinem Magen ist es jetzt still. Vielleicht, denke ich, ist der Bus ja auch eine Kapsel. Und in zweihundert Jahren finden spätere Generationen Reste vom Asphalt und die Spuren der Linie 303, die ihre Schleifen fährt.

Weiterführende Links zur Straße der Arbeit

Etappe IV von Gummersbach nach Eckenhagen – Versteckte Wege
Übersichtskarte (Sauerländischer Gebirgsverein, Bergisches Land)

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