Notizen eines Stipendiums mit Hindernissen
1. Juni 2022
1. Gespräche mit Wolfgang
Die Kletten fingen an zu blühen. Hätte ich je diesen Satz geschrieben, wenn ich nicht ins Sauerland gekommen wäre? Ich bin zwar mit Kletten aufgewachsen, aber ich habe nie gesehen, wie sie blühen. Hier ist der ganze Bahndamm, an dem ich morgens immer spazieren gehe, voll von aufgehenden Blüten, die wie Elefantenohren aussehen. Aus ihrem Inneren ragen Pfeile, ummantelt von unscheinbaren Blütenblättern, keck umschwirrt von großen und kleinen Insekten. Wolfgang begleitet mich heute. Bislang ist er hier mein einziger Gesprächspartner, er hat gesehen, wie ich weine. Ich bin nicht wie geplant am 1. März gekommen, um vier Frühlingsmonate im Sauerland zu verbringen, bin nicht gekommen, weil in meiner Heimat ein Krieg ausgebrochen ist. Zu dem Zeitpunkt konnte ich damit überhaupt nicht umgehen und habe die ganze Zeit geweint. Ende März hat mich Wolfgang am Bahnhof in Meschede abgeholt, in der alten Synagoge sollten eine Lesung und ein Gespräch mit mir als Stipendiatin einer der zehn nordrhein-westfälischen Kulturregionen stattfinden. Eigentlich wollten wir über etwas anderes reden. Und über einen anderen Krieg – den Krieg, den bis vor kurzem alle für beendet gehalten hatten. „Ist von dir jemand in der Ukraine?“, fragte Wolfgang. „Alle“, antwortete ich.
Drei Jahre lang habe ich in den Archiven zum Zweiten Weltkrieg recherchiert, um über die Geschichte eines Karpatenortes und seine Verheerer zu schreiben. Und jetzt ist ein anderer Krieg ausgebrochen, und obwohl ich mich nicht in der Ukraine befinde, bin ich eines seiner Opfer. Auf einmal wurde mein zusammengetragenes Wissen über das vergangene Leiden zu einem Spiegel, in dem die brutale Gegenwart ihr Abbild suchte. Ich wollte mich im Sauerland auf die Spuren der Ostarbeiter begeben. Sie hatten in Lagern gelebt, in einem davon explodierte gegen Kriegsende eine Bombe, und alle starben. Jetzt kommen hier wieder Menschen aus der Ukraine an. Als Flüchtlinge. Ich schreibe in mein Notizheft: „Ostarbeiter – Flüchtlinge aus der Ukraine“, damit ich es nicht vergesse, aber ich kriege den Zusammenhang zwischen den beiden Begriffen nicht zu fassen, und ich bin mir auch nicht sicher, ob er überhaupt existiert. Die Ukrainer finden hier schnell Arbeit, sagt Wolfgang, wahrscheinlich um mich zu trösten. Das Sauerland braucht Arbeitskräfte.
In der Stadt, in der er wohnt und in der ich meinen täglichen Spaziergang an der Bahnlinie mache, gibt es kaum Arbeitslose, es herrscht Vollbeschäftigung. Ausnahmslos alle Häuser sind weiß und haben schwarze Dächer. Das sei wichtig, sagt man mir. Eigentlich ist ja Deutschland das Land der roten Dächer, aber nicht hier.
Außer den Kletten wachsen hier Weihnachtsbäume in profitablen Plantagen, und das sei eine Katastrophe, schimpft Wolfgang, eine richtige Katastrophe. Die Bäumchen, die wir hinter der Einzäunung sehen, sind noch ganz klein, ein, zwei Jahre alt, sozusagen die jüngste Gruppe im Weihnachtsbaumkindergarten, bei denen man nicht mit Pestiziden spart. Die Bäume werden nach sieben bis acht Jahren geschlagen, direkt nach Schuleintritt. Ich sage Wolfgang, dass ich Weihnachten mag und mir jedes Jahr in Erinnerung an meine Oma einen kleinen Weihnachtsbaum kaufe, auch wenn das umweltschädlich ist. Zu Weihnachten siegt die brennende Nostalgie über den gesunden Menschenverstand und das Umweltbewusstsein.
Die hiesigen Hügel erinnern mich an die Vorkarpatenlandschaft, in der ich den größten Teil meiner Kindheit verbracht habe. Die Hügel sind träge, man sieht ihnen an, dass sie nicht weiter wachsen wollten. Wie Narben von Peitschenhieben legen sich hier und da die Schneisen der Borkenkäferkahlschläge auf die Hügel. Wegen des Klimawandels und der fehlenden Niederschläge können die Nadelbäume nicht mehr ausreichend Harz produzieren, um sich vor Schädlingen zu schützen. Die Borkenkäfer vermehren sich mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit: eine Milliarde Nachkommen pro Jahr.
Wolfgang zeigt auf eine Stelle im Tal, an der die Nazis in den 1930er Jahren einen Wald in Form eines Hakenkreuzes angelegt hatten. Solche Anpflanzungen waren im Dritten Reich überaus populär. Nach dem Krieg hat man versucht, den Wald zu entnazifizieren, in dem man an manchen Stellen Bäume schlug und an anderen aufforstete. Schließlich sahen die Umrisse des Waldes aus wie ein einohriger Hase. Obwohl die Geschichte lustig ist, kommen mir wieder die Tränen, denn die russischen Panzer, die die ukrainischen Städte zerstören und die Zivilbevölkerung töten, tragen ähnliche Zeichen. Die Zeit wird vergehen, der Rausch verfliegen, und irgendwann wird man versuchen, Putins Halbswastika, die jetzt Verwüstung und Tod bringt, zu tilgen, zu verändern, zu überdecken, bis sie sich in etwas vollkommen Unschuldiges verwandelt. Doch nicht alle werden diesen Moment erleben, nicht alle können verzeihen, nicht alle vergessen.
Zwei Kriege – der vergangene und der aktuelle – laufen in dieser stillen Gegend mit den schwarzen Dächern vor meinem inneren Auge ab. Jede Einzelheit löst einen Sturm von Assoziationen aus. Wolfgangs Vater war bei der Wehrmacht und hat in der Gegend von Odessa gedient. Er hätte, so hat er felsenfest behauptet, während des gesamten Krieges nicht einen einzigen Schuss abgefeuert, er sei ja Meldereiter gewesen. Ich möchte das gern glauben und Wolfgang auch. Er sagt, in der hiesigen Schule gäbe es schon zwanzig ukrainische Kinder aus geflüchteten Familien. Sie sind hier gut aufgehoben, betont er noch einmal, wahrscheinlich um mich zu trösten. Am Ende unserer Wanderung gehen wir – wie es sich gehört – auf den Friedhof. Irgendwo am Rand müssen die Gräber der Ostarbeiter sein. Wir suchen und finden sie. Acht Betonplatten, Frauen und Männer, ihre Namen sind fehlerhaft geschrieben, die meisten enden auf das für ukrainische Familiennamen typische „ko“. Sie haben nicht lange gelebt, ihr Todesjahr ist 1942-43. Zu Hause hat man umsonst auf sie gewartet.
Die Opfer des vergangenen Krieges und die Opfer des heutigen Krieges kreuzen sich an einem Ort. Zum letzten Mal, ich bin mir sicher, weil eine ach so unvollkommene Welt wie unsere nun mal nicht endlos Ungerechtigkeit auf Ungerechtigkeit schichten kann.
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe.