3. Heilwasser

Seit Kriegsbeginn habe ich an die vierzig Interviews gegeben und in etwa ebenso viele Auftritte, Diskussionen und Lesungen absolviert. Gezählt habe ich sie nicht. Ich habe mich in diesem Krieg aufgelöst, mich selbst verloren, habe nahe Menschen verloren. Im Juni komme ich für ein paar wenige Tage ins Sauerland zurück, wie zu einer Kur. Die kleine Stadt, die mir Unterschlupf gewährt hat, ist wie geschaffen für diese Mission. Früher gab es hier Wasserkuren. Hier weiß man, was unglückliche Menschen sind.

Dr. August Grüne, ein Schüler des Priesters und Begründers der Wassertherapie Sebastian Kneipp, eröffnete Ende des 19. Jahrhunderts mitten im Zentrum von Olsberg ein renommiertes Sanatorium. Zahlreiche Kurende begaben sich hier freiwillig in Behandlung, nahmen kalte Duschen und hackten im Hof Holz. Heilung durch Bewegung, nannte sich das. Das Sanatorium konnte in seinen besten Zeiten 70 Patienten aufnehmen. Das damalige Gebäude ist nicht erhalten, aber um Kneipp kommt man in Olsberg nicht herum, selbst wenn man wollte: An jeder Ecke stößt man auf eine Gipsplastik des gebückten Geistlichen mit seinem Birett. Der Priester streckt, meiner Meinung nach ziemlich aufreizend, sein linkes Bein unter der Soutane hervor und begießt es mit Heilwasser aus einem Krug. Insgesamt 35 dieser Plastiken, die alle die gleiche Form haben, aber in verschiedenen Farben bemalt sind, hat man in Parkanlagen, entlang der Straße, an Weggabelungen, vor Friseurgeschäften und Bäckereien aufgestellt, die sind einfach überall. Manche haben keine Arme mehr. Die versehrten Kneipp-Figuren rühren mich besonders, denn ich bin auch versehrt. Der Sohn meiner Freundin ist im Krieg gefallen. Um Mitternacht, wenn ich nicht schlafen kann, laufe ich durch die menschenleeren Straßen, am Bachufer grüße ich Kneipp Nummer 24 und steige bis zum Knöchel in das eiskalte Wasser, genau so, wie das Doktor Grünes Patienten vor einhundert Jahren taten. Das Wasser heilt noch immer, wie damals.

Später erfahre ich, dass Grüne Junior ein überzeugter Nazi war und während des Krieges einen hohen Posten innehatte.

Krieg und Kur überschneiden sich in Raum und Zeit. Auf der einen Seite die Vergangenheit, auf der anderen Seite die Zukunft. Doch die Vergangenheit kann uns nichts mehr lehren, sie hat kapituliert, und die Zukunft ist ungewisser denn je.

„Deine Heimat ist dort, woher deine Traumata stammen“ – so beginnt ein Text von mir, den ich auf Deutsch geschrieben habe und auf einer weiteren Veranstaltung über den Krieg lese. Vier Zuhörer sitzen im Saal. Eine fremde ältere Frau kommt danach zu mir und erzählt mir, ihr Vater sei bei der SS gewesen und hätte in der Ukraine gekämpft, sie habe das immer gewusst, aber ihr Vater habe nie davon gesprochen. Er ist schon gestorben und hat der Frau nur dieses Trauma hinterlassen, es ist für sie eine schwere Bürde.

„Wenn deine Heimat dort ist, wo deine Traumata sind“, sagt die Frau, „dann ist also die Ukraine meine Heimat.“

Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe

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