das haldern pop und die langeweile

man würde nicht direkt einen „mehrdimensionalen musik-organismus“ hinter dem unauffälligen klinker der haldern pop bar vermuten. „Wir sind ein Ort, mit uns kann man rechnen/ oder auch nicht, aber solange es Lieder gibt, wollen wir weiter zuhören und nichts verpassen, aber weiterhin gerne den Bus“, schreibt stefan reichmann am 15. april in  sein mittlerweile auch als printmagazin verfügbares online-tagebuch, das „das Vakuum“ vom 17. märz bis zum 23. juni mittels kurzer und mittellanger text + bild-einträge zu füllen versuchte. das häufigste motiv: die bushaltestelle „als synonym für ‚regionale‘ geduld.“

wenn man es nicht besser wüsste, würde man also einfach durch den knapp 6000-einwohner-ort hindurchfahren, das hellbraune gebäude in der lindenstraße 1B nicht weiter beachten. dabei gibt es hier alles, was sich im weitesten sinne als funktionssäulen der pop- und festivalkultur begreifen lässt: neben der im 60er-jahre-style belassenen bar mit kleiner bühne gibt es den raum des ehemaligen wirts, in dem jetzt der plattenladen untergebracht ist. Im oberen geschoss befindet sich neben einer künstlerwohnung das büro des labels samt booking und vertrieb, das lager und eine terrasse, auf der stefan reichmann sitzt und raucht. 1984 seien sie als 14 messdiener vor die tore des dorfes gezogen, um laut und unruhig zu sein. seit 37 jahren sei es daher mehr oder weniger ein hamsterrad gewesen; wenn das eine festival vorbei war, ging das nächste los, erzählt er in sätzen, die ähnlich wie seine tagebucheinträge manchmal wahrhaftig und manchmal fast weihevoll klingen. laut und unruhig ist es dieses jahr nicht. das programm für die 37. ausgabe war fertig und alle hätten sich darauf gefreut, sagt reichmann. lily moore, sudan archives oder BADBADNOTGOOD sind nur ein paar der künstler*innen, die zugesagt hatten.

aber auch wenn haldern eine live-marke sei, die nun fast gänzlich lahm liegt, komme die pause dem festivalbetrieb nicht nur ungelegen. man könne reflektieren, wo man vielleicht zu groß, zu üppig geworden wäre, so reichmann. neben dem „Haldern“ veranstalten sie tourneen und ein weiteres festival in kaltern, südtirol. obwohl die besucherzahl des open air festivals stetig gestiegen und die nachfrage längst da ist, schließen sie kategorisch aus, mehr als 7000 tickets zu verkaufen. 2009 wurde die bar zurück ins leben gerufen, die seit 1999 geschlossen war, sie beließen sie weitgehend so, wie sie vorher ausgesehen hatte. die idee war eine off-day-location für tourende bands und künstler*innen. denn haldern, sagt reichmann, das sei nicht nur irgendein dorf auf dem land, es liege genauso auf der achse zwischen paris und berlin bzw. hamburg, zwischen amsterdam und  münchen. das ganze funktioniert, faber hat hier eins seiner ersten konzerte gespielt, george ezra ist schon aufgetreten. mittlerweile hat die bar unter normalen umständen von donnerstag bis samstag geöffnet, manchmal auch sonntags. es kommen leute aus dem dorf aber auch von weiter weg. erst letztes wochenende seien zwei junge frauen hier gewesen, um ihr privates haldern zu zelebrieren. sie hätten nicht wahrhaben wollen, dass es dieses jahr nicht stattfindet.

als jüngstes von neun katholisch erzogenen kindern ist der heutige künstlerische leiter des festivals hier geblieben,  auf dem land. „aus der langeweile erwächst einiges“, sagt reichmann. obwohl er den vergleich von stadt und dorf unproduktiv findet – schließlich befruchte man sich doch gegenseitig – könne die ruhe auf dem land in einer situation wie dieser helfen. man hätte gelernt, geduld zu haben. reichmann sieht das dorf als resonanzraum im sinne des soziologen hartmut rosa: statt sich ständig in modernen imperativen der steigerung und beschleunigung zu messen; statt alles und jeden als verfügbares objekt oder material zu sehen, sei das hier ein ort für beziehungen, eben für resonanz. die partizipation der einwohner*innen am festivalgeschehen sei hoch, aber wenn im juli ein schützenfest anstände, würde man davor keine werbung für das festival machen. dann wären eben erst die plakate für das schützenfest an der reihe. man müsse sich öffnen und gleichzeitig verstehen, wo man steht, müsse koexistieren mit den dorfangelegenheiten.

„Be true – not better!“, das ist der leitspruch des festivals. von der terrasse aus hangelt sich eine lichterkette hinunter in den innenhof. hier hätte eigentlich ein biergarten entstehen sollen, aber leute beschwerten sich. die lautstärke. wenn er hier täglich rasenmähen würde, gäbe es wahrscheinlich nichts einzuwenden, sagt reichmann und lacht. so bleibt der innenhof leer. neben dem tagebuch hat das team eine eigene online-radiosendung „Liedgut“  ins leben gerufen, außerdem gibt es am 7. und 8. august – dem ursprünglichen zeitraum des festivals – konzerte in haldern und dingle (irland), die per livestream zusammengeschaltet werden. Black Country, New Road und die Berliner stargaze, Peter Broderick und Lisa Hannigan spielen an verschiedenen orten, aber doch zusammen. irgendetwas müsse stattfinden, nur eben anders. „Was bleibt ist die Meinung, der Durst und die Neugier. Willkommen im Dorf.“  so steht es auf der letzten seite des tagebuchs.

 

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