Einsiedeln

Wir haben uns um ein Jahr verpasst. Sehr gerne wäre ich noch Schwester Gertrud begegnet, die lange als Einsiedlerin hier gelebt hat. Als ich über den Waldboden zwischen Kapelle, Brunnen und Klause laufe, knacken ein paar Zweige am Boden. Eine Frau mit ihrer Tochter lächeln mir zu, die beiden haben mir beim Hinauffahren den Weg gewiesen. Sie gehen zu dem Kreuz, das gegenüber dem Brunnen steht, zünden eine Kerze an. Kurz bleibe ich vor dem Brunnen stehen. Es ist ein Märchenbrunnen, in den ich hineinfallen möchte, um mich als Goldmarie bei Frau Holle zu bewerben. Stattdessen schaue ich mir die Klause an. Das man in so einem kleinen Häuschen 36 Jahre lang leben kann. Aber vielleicht braucht man auch nicht mehr als ein paar Quadratmeter, wenn man einen ganzen Wald um sich herum zum Leben hat. Ich versuche mir vorzustellen, wie es wohl am Abend hier oben ist, wenn es still wird und der Wald zu einem zweiten Leben erwacht. Doch still ist es jetzt nicht, immer mehr Menschen kommen und Stühle werden hinausgetragen, im Corona-Abstand vor der offen stehenden Kapelle aufgebaut. Gleich wird hier eine Andacht stattfinden. Die meisten Anwesenden kennen sich, jeder grüßt, auch mich.

Das Heiligtum der Kapelle ist das Gnadenbild der Muttergottes mit dem Jesuskind auf ihrem Arm. Man sagt, dass die Statue mit Lumpen bekleidet in einem Dornenbusch von einem Hirten gefunden wurde. Auf diese Legende ist der Name der Dörnschlade zurückzuführen. Die Dörnschlade ist ein einsamer, aber kein verlassener Ort. Ich beschließe den Rundweg A 5 zu gehen, der auch an dem kürzlich renovierten Kreuzweg vorbeiführt.

Auf einer Wiese stehen mehrere Windräder und ich laufe so nah vorbei, dass ich das leise Rauschen ihrer Flügel höre. Es ist wie ein Ächzen, ein schwerer Atem, der über die Felder geht, ein Stöhnen, das die ihnen eigene Anstrengung ahnen lässt, mit der sie Energie erzeugen. Antoine Waechter hat 2019 ein Buch über den „Skandal der Windräder“ in Frankreich veröffentlicht (le scandal éolien). Der Grünenpolitiker war 1988 Präsidentschaftskandidat. Für ihn ist die Windenergie ein Mythos, der von einer industriellen Lobby geschürt wird, die die ökologischen Organisationen nur für den eigenen Gewinn unterstützt. Windräder, so Antoine Waechter, sind keine einheitliche Lösung für eine globale Energiewende. Das Thema scheint auch in Südwestfalen die Geister zu spalten, wie ich in einem Artikel der Westfalenpost lese.  Thierry Lepercq, der lange französische Energieunternehmen wir Engie geleitet hat, sieht Wasserstoff als die Energie der Zukunft. Die Windräder lasse ich hinter mir, der Wald wird immer dichter. Als ich mich kurz ins Gras hocke, läuft mir eine Zecke übers Bein. Auch sie will nur überleben, denke ich, als ich sie mir von der Haut streiche.

Ob Schwester Gertrud wohl oft diesen Weg durch den Wald gelaufen ist, oder hat sie lieber von dem Hügel aus, auf dem die Kapelle steht, die Landschaft genossen, mit den Tieren und den Pflanzen gesprochen? Ein kleines Büchlein soll sie geschrieben haben, über ihre Begegnungen mit Tieren. Sie war Franziskanerin. Die Gemeinschaft, zu der sie gehörte, wurde von Maria Theresia Bonzel 1863 gegründet. Sie machte es sich zur Aufgabe, Kranke zu pflegen, Kindern zu helfen und sie zu unterrichten. Lange waren die Schwestern in der Franziskuschule in Olpe als Lehrerinnen aktiv. Meinem sehr jungen Ich ist es oft peinlich gewesen, dass drei Generation von Frauen meiner Familie auf die Franziskusschule gingen. Ich weiß noch, wie ich zu Anfang meines Studiums in einer Vorlesung saß, begeistert der Lesung des Professors folgte, der später auch mein Doktorvater werden würde. Das war im ersten Semester und es war eine Theorieeinführung, in der auch die Lebensläufe bedeutender Ethnologen vorgestellt wurde. Bis auf Mary Douglas und einige Ausnahmen natürlich in männlicher Überzahl. Einer der Herren hatte mit den Ideen des Nationalsozialismus geliebäugelt, war also Repräsentant der etwas befleckten Geschichte der Ethnologen, unser Professor erwähnte, als wäre das eine Erklärung, der Betroffene wäre in seiner Jugend eben Ministrant gewesen. Mir wurde sehr heiß, denn mir fiel ein, dass auch ich einmal Ministrantin an der Franziskusschule gewesen war und das war wir mir in jenem Augenblick, und noch viele Jahre später peinlich.

Nicht nur kam ich aus einer als konservativ verschrienenen Gegend , vom Land, aus einem Ort, den niemand kannte und wenn ja, dann wurde laut gelacht, oder verlegen geschwiegen. Schlimmer noch, ich war praktisch wie Obelix in den Zaubertrank nach meiner Geburt ins Weihwasser gefallen. Bei meiner Großmutter hing in jedem Zimmer ein Weihwasserschälchen und ein Kreuz an den Wänden, sie feierte keine Geburtstage, nur die Namenstage. Während mein Großvater nach der Kirche wenigstens noch einen Abstecher in die Kneipe machte, ging sie immer gleich nach Hause. Die eigene Herkunft war mir unangenehm, so dass ich sie lieber oft verschwieg.

In dem Buch über Maria Theresia Bonzel entdecke ich ein Bild von Schwester Angelika, sie sieht noch genauso aus wie damals, als sie mir den Ministranten-Unterricht gab, nur viel älter. Mir fällt ein, dass die Jungs im Dorf schon viel früher Messdiener waren als ich. Sie hatten ihre Privilegien, sie durften am Dreikönigstag die Jahreszahlen auf die Haustüren schreiben, am Karfreitag ratschen und das Osterfeuer mitanzünden. Sie waren eine Gemeinschaft, der Pfarrer kannte sie mit Namen, während wir Mädchen für ihn nur eine namenlose gackernde Menge waren. Schwester Angelika aber kannte mich mit Namen. Ich weiß noch, wie stolz ich war, als ich das erste Mal Messdienerin war, die Glocken beim Segen läutete. Die Messe auszuhalten war so viel einfacher. Bei der Eucharistie wurde mir oft schwindelig. Ich konnte nicht auf Knien bleiben und musste mich meist wieder hinsetzen. Das war dann auch peinlich, weil ja die Gemeinde kniete. Mit dem Sitzen hob mich von den anderen ab, gehörte nicht mehr dazu, war kein Teil mehr der Masse, sondern ein Störfaktor. Als Messdienerin musste ich mich auf die Handlung nicht nur konzentrieren, um an der richtigen Stelle zu klingeln, ich war sogar Teil von ihr, denn nicht nur der Pfarrer, die ganze Gemeinde warteten darauf, dass ich genau an der richtigen Stelle klingelte. Das Knien vor der Kommunion fiel mir nun nicht mehr schwer, sondern sehr leicht. Ich war die erste Ministrantin in meiner Familie, aber erst als ich den Pilgerpfad um die Dörnschlade laufe, bin ich darauf stolz. Die Ethnologin Lila Abu-Lughod hat ein Buch über Beduinenfrauen geschrieben, über ihren Gesang und die Gedichte, die sie über Generationen weitergeben. Abu-Lughod hat darin einen Machtfaktor gesehen, die Gefühle über Poesie auszudrücken war die Macht der Frauen und half ihnen, ihre Interessen in dem hierarchisch gegliederten, von Männern dominierten Sozialsystem durchzusetzen. So ähnlich wie Schwester Angelika damals mir geholfen hat.

Als ich aus dem dichten Walt trete, führt der Weg ein Stück über die Felder, ein Traktor brummt vorüber, ein paar Spaziergänger, sie grüßen mich, als würden wir uns kennen.

Den Weg hinauf und zurück zur Kapelle ist dann der Kreuzweg. Kreuzwege führen immer in die Einsamkeit, genau wie eine Einsiedelei, in die Isolation. Während ich Jesus zusehe, wie er sich allein und verzweifelt mit seinem Kreuz abquält, muss ich daran denken, wie viele religiöse Gemeinden in Corona zu Superspreadern wurden. Oben auf dem Hügel hat die Messe auf dem Platz vor der Kapelle längst angefangen. Messdiener sind keine dabei.

 

   

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Amnesie

Immer wieder taucht in meinen Gedanken diese Frage auf, was denn meine Großeltern gemacht haben, damals, ob diese Nazis gewesen waren oder nicht. Dabei weiß ich schon, dass meine beiden Großväter nicht in der nationalsozialistischen Partei gewesen waren oder an die Front geschickt wurden. Aber die Suche nach der Haltung meiner Vorfahren gegenüber der rechten Vergangenheit meiner Heimat bricht nicht ab. Es ist eine Konstante meiner Existenz, sie gehört zu mir, genauso wie eine Allergie, Asthma oder eine Sehstörung. Die Vergangenheit ist eine Gegenwart, mit der man leben lernen muss. Einer meiner Großväter war Arzt und deswegen freigestellt, der andere als Soldat bei der Nachrichtenübermittlung eingezogen. Meine Großeltern haben den Krieg vielleicht überlebt, indem sie sich anpassten. Das kann eine Antwort sein. Trotzdem habe ich in meinem Kopf nie wirklich Klarheit gegenüber der Frage gefunden, was meine Großeltern gemacht oder besser gedacht haben, in der NS-Zeit, welche Position sie  innerlich bezogen haben. Denn es war ja eine Zeit, in der über viele Ansichten nicht gesprochen wurde oder durfte. Da ist eine große Leerstelle in meinem Gedächtnis. Die jetzt in der Coronakrise sogar noch größer geworden ist. Denn ich kann die Ängste, Sorgen und Verzweiflung meiner Großeltern, die Krieg, Bomben, Rezension und Hunger erlebten, nun vielleicht besser spüren und nicht nur erahnen. Und trotzdem ist da ein schales Gefühl geblieben, eine Bitterkeit, ein Fragezeichen, eine offene Gleichung.  Im Gegensatz zu meinen Vorfahren, kann ich mich derzeit wenigstens selbst Glauben machen, dass die Gegner kein politisches System sind, sondern eine tückische Krankheit, gegen die ich allein machtlos bin. Doch damals war es vielleicht nur eine andere Form von Virus, der sich nicht über Atemwege, sondern über gesellschaftliche Strukturen verteilte, und gegen den man sich doch hätte wehren können.

Wenn meine Vorfahren auch nicht in der Partei gewesen waren, nicht selbst im Nationalsozialismus mitgemacht hatten, so waren sie doch nicht im Widerstand aktiv, und wenn nicht, wer waren sie dann gewesen?

Vielleicht waren sie einfach nur Mitläufer, hatten sich vom Strom treiben lassen und sich nicht gegen das braune System gewehrt.

Ohne Mitläufer, schreibt Géraldine Schwarz, wäre Hitler nie in der Lage gewesen, die Verbrechen zu begehen, für die wir Deutsche uns heute noch schämen. Die Frage, was geschehen wäre, wenn in Deutschland die Mehrheit nicht mit, sondern gegen den Strom geschwommen wäre, wurde sich in Deutschland lange nicht gestellt, zu beschäftigt war man damit, das Land, die Gesellschaft neu aufzubauen, die aktiven Täter zu benennen und zu verurteilen, der Opfer zu gedenken. Überhaupt, es wäre unmöglich gewesen, die acht Millionen Mitglieder der Partei ins Gefängnis zu werfen und zu verurteilen.

Man musste sich arrangieren, um weiter zu leben, nach vorne sehen und so wurde aus denen, die von den Alliierten Mitläufer genannt wurden, auch weiter Träger der Gesellschaft.

Der Großvater von Géraldine Schwarz, Karl Schwarz, war einer dieser Mitläufer, er hatte eine Mineralölgesellschaft in Mannheim, und wurde nach dem Krieg von seinem ehemaligen jüdischen Geschäftspartner verklagt, dessen Anteile am Unternehmen er zu Kriegsanfang unter dem Naziregime viel zu günstig erworben hatte. Géraldine Schwarz schreibt von der Verleugnung oder Negierung ihres Großvaters, dem déni. Denn Karl Schwarz ist es nahezu unmöglich anzuerkennen, dass das dritte Reich ein illegales Regime war und folglich auch diese seine Geschäftstransaktion unter diesem Aspekt beurteilt wurde. Diese historische Amnesie war typisch für die Nachkriegsepoche, Schwarz erinnert an die Worte von Hannah Arendt, die in den fünfziger Jahren schockiert war, von der Abwesenheit eines Schuldbewusstseins in der deutschen Bevölkerung.

Diese kollektive Amnesie hat dazu geführt, dass nicht wenige Menschen in einer ähnlichen Situation sind wie ich, nicht genau wissen, welche Position ihre Vorfahren bezogen haben und warum. Eine soziale Amnesie, die ihren Ursprung in einem kollektiven Trauma hat. Emotionale Taubheit und Erstarrung sind beispielsweise Reaktionen auf Traumas, die auch in der Gemeinschaft ihren Ausdruck finden können.

So habe ich also nie viel über meinen Großvater gewusst, der im Rahmedetal aufgewachsen ist. Wenn ich mich für das Regionsschreiberstipendium beworben habe, dann, weil ich an einem Roman über meinen Großvater arbeite. Mit diesem Text versuche ich eine dieser vielen Fragen zu beantworten, die sich mir bei der Lektüre der Gedächtnislosen über die Vergangenheit meiner Vorfahren in Südwestfalen stellte.

„Mutmaßungen über einen Großvater“ hieß einer der Texte, mit denen ich mich für das Stipendium beworben habe, eine Kurzgeschichte, die in der Zeitschrift „Kunst und Kultur“ erschien.

Meine Erinnerungen an meinen Großvater sind sehr verschwommen. Ich erinnere mich an einen sehr großen und breitschultrigem Mann, der vor uns Kindern durch den Wald läuft, wir folgen ihm und sind bemüht, die Hände im Rücken gekreuzt zu halten, so wie er. Aber das ist ein Foto, von dem ich diese Erinnerung habe und wahrscheinlich ist er viel zu früh verstorben, als dass ich erzählte von erlebter Erinnerung unterscheiden könnte.

Er soll gut in Sprachen gewesen sein, geschickt und schlau, heißt es. Ich habe mir für meinen Roman einen Großvater erfunden, der einem Puzzle gleicht. So habe ich mich von der Erzählung meines Grundschullehrers inspirieren lassen, der beim Spielen am Dorfrand während des Einmarschauf einen Panzer der Alliierten stieß und sogar ein Stück mitfuhr, um Bonbons und Schokolade zu erhalten. Das muss 1945 gewesen sein, vielleicht zur Ruhrkesselschlacht. Jedenfalls habe ich es mir für meinen Roman so erfunden. Aber seit meinem Stipendium weiß ich, dass ich mir diesen Großvater im Roman nur ausgedacht habe, dass manche Teile des Puzzles vielleicht nie zusammen passen werden. Aber was ich nun als Regionsschreiberin gelernt habe, ist, dass mein Großvater als Kleinunternehmer wahrscheinlich das gemacht hat, was so viele in seiner Heimat dort schon immer gemacht haben, eine Werkstatt gründen, etwas herstellen, ein Teil der Metallindustrie werden, oft aus Draht, ein Fabriksen aufmachen.

Gar nichts spektakuläres, sondern einfach die Fortsetzung einer langen Geschichte lokaler Produktivität, die sich in der Gestalt des Pott Jost, dessen Denkmal in Altena steht, wohl am besten manifestiert. Die Legende um Pott Jost erzählt von dem Erfindungsreichtum eines lokalen Kaufmanns, der zum kleinen Fabrikbesitzer wird.

Zu dieser lokalen Produktion gehörte auch die Teilnahme der lokalen Industrie an der Zulieferung von Teilen für die Kriegsmaschinerie. Genau wie heute lokale Unternehmen in der Krise aufgerufen werden, Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel herzustellen, wurden Unternehmen im zweiten Weltkrieg augerufen, sich an der Waffenproduktion zu beteiligen.

Denn wenn der Zeiger auf fünf vor Zwölf steht, dann kommt danach Null.

Bei den Mesopotamiern bedeutete Null so viel wie Nichts. Griechen hingegen, als auch Römer brauchten gar keine Null, auf dem Abakus blieb die entsprechende Stelle einfach leer. Eine Stelle, bei der etwas fehlt, steht im Duden und stellt dabei die Frage, was denn da nun hingehört. Schwer vorstellbar, dass es mit einem Nichts anfängt, aber vielleicht auch nur ein anderes Wort für der Punkt, an dem sich alles trifft. Charles Seife hält die Null für den Zwilling der Unendlichkeit. Die das Unbeschreibliche und das Unendliche erahnen lässt. Sie wird gefürchtet und geächtet.

Die Stunde Null ist ein Gründungsmythos der Bundesrepublik. Die deutsche Gesellschaft und ihre Träger in Kultur und Industrie waren auch nach Kriegsende mehr mit dem NS-Regime verstrickt, als sich bislang eingestanden wurde, eine schmerzhafte Vergangenheit, die übersehen wurde, die niemand so wirklich wahr haben wollte, eine Wunde, die sich schließen musste, um sie später, heute, als Narbe betrachten zu können. Der Journalist Thorsten Mack hat kürzlich eine Dokumentation veröffentlicht, in der er die NS-Verstrickung der Gründungsväter von Documenta und Berlinale vorstellt.

Solche Dokumentationen sind ein wichtiger Schritt im kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft, um die Vergangenheit zu bewältigen und mit dem gewonnen Bewusstsein der Gegenwart zu begegnen. In den städtischen Museen von Lüdenscheid wurde eine solche Dokumentation in Form einer Ausstellung von November 2019 bis Februar 2020 präsentiert. Der Leiter Dr. Eckhard Trox und seine Mitarbeiterin Ursula Delhougne haben dabei eine umfangreiche Bestandsaufnahmen zusammen- und ausgestellt, die sich in produktiver und nicht anklagender Weise mit der kriegsbeteiligenden Vergangenheit der Region auseinandersetzt, daher auch der Titel der Ausstellung: „Friedliches Lüdenscheid?

Ein Mittelpunkt der Ausstellung war die Spitze eine V2 Rakete. Die Vergeltungswaffen, oder auch V-Waffen wurden im zweiten Weltkrieg nicht nur gegen militärische, sondern auch zivile Ziele eingesetzt, wie beispielsweise im Raum London und Südengland. Aus Angst vor Spionage wurde die Produktion dieser Waffen dezentralisiert, und so teilweise auch in Südwestfalen hergestellt.

Fotonachweis: Jutta Rudewig/Lüdenscheider Nachrichten

Die Rolle der südwestfälischen Industrie als Zulieferer für die Kriegsmaschinerie wurde lange aus dem kollektiven lokalen Gedächtnis verdrängt. Zu der Ausstellung gehörte das Tagebuch des Rüstungskommandos Lüdenscheids, das dokumentierte wie in den Kriegsjahren gut bis zu 209 Unternehmen zu Rüstungsbetrieben wurden. In der ersten Zeit wurde sich mit Information begnügt, aber schon bald Druck ausgeübt auf Unternehmen, die sich der Rüstungsfertigung verweigerten und weiterhin Zivilgüter herstellen wollten. Solchen Unternehmen wurde mit Stilllegung oder Enteignung gedroht. Auch über den Mangel an Rohstoffen, Treibstoff, Gas und Kohle, sowie Arbeitskräften wurden Unternehmen in ihren Entscheidungen beeinflusst. Arbeiter, die in keiner kriegsrelevanten Tätigkeit beschäftigt waren, wurden eingezogen. Firmen, die sich dem Rüstungskommando unterstellten, bekamen Unterstützung.

Die regionale Industrie wurde zum Mitläufer im kriegstreibenden Alltag des NS-Regimes, indem kaum jemand den Mut fand einen Handschlag mit der NSDAP abzulehnen, wie Konrad Adenauer es bereits 1933 getan hatte.

Auch Zwangsarbeiter wurden in der Region eingesetzt. In dem Rüstungstagebuch ist eine distanzierte Haltung zu der Einstellung dokumentiert. Es waren Fremde, die zum Arbeiten kamen und durchgefüttert werden mussten. In der Ausstellung „Friedliches Lüdenscheid?“ war auch der Holzkoffer eine Fremdarbeiterin zu sehen, mit der sie, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, nach Lüdenscheid kam. Das historische Objekt wurde mit einem berührenden Brief gestiftet, indem eine Frau aus Lüdenscheid ihre Kindheitserinnerung an die Besitzerin des Koffers, Anuschka, schildert.

Fotonachweis: Jutta Rudewig/Lüdenscheider Nachrichten

Ob diese Anuschka aus der Ukraine wohl mal meinen Großeltern über den Weg gelaufen ist? Ich weiß es nicht, und werde es nie wissen, denn die Zeit ist zu schnell vorbei gegangen und mir keine geblieben, sie danach zu fragen. Und mein Großvater hat sein Unternehmen auch erst nach Kriegsende gegründet. Wie das möglich war, ist mit Sicherheit unspektakulärer gewesen, als ich es mir für den Roman überlegt habe. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass diese Gründung sich in die Kontinuität des Lokalen einschrieb: aus einer Garage wird ein Fabriksen und daraus dann eine Fabrik. Was mal mit der Erzgewinnung anfing, wird zur Drahtherstellung, zu Knöpfen und von der Metallverarbeitung zu Verbindungsteilen für die Elektrotechnik. Vor kurzem bin ich bei der Recherchearbeit auf ein sogenanntes Grubentuch gestoßen.

An diese blau- oder graukarierten Tücher kann ich mich noch genau erinnern, sie hingen bei meinen Großeltern in der Küche, sie wurden im Fabriksken meines Opas gebraucht, wurden dort im Maschinenraum eingesetzt, genauso wie auf der Toilette. Das Grubentuch als Relikt und Metapher für die lange Dauer der Bergmannszeit in Südwestfalen, bei der aus der Eisensuche schließlich Eisenproduktion wurde und in der es immer einen Pott Jost gegeben hat und geben wird, jemand der aus sehr wenig eine große Erfindung macht.

 

 

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Do it yourself!

Ein paar Tage brauche ich schon, um meinen virtuellen Besuch in der Wunderkammer der Zukunft zu verarbeiten. Die Veranstaltung glich einem Ritt durch Space Mountain. Das ist Pflicht, wenn wir das Disneyland besuchen, dann fordern die Kinder auch immer eine Fahrt im Tomorrowland ein. Man wird darin mit einer Geschwindigkeit von 75km2 in zahlreichen Saltos während zweieinhalb Minuten 36 Meter hoch geschleudert. Wenn ich in dieser Attraktion sitze, muss ich immer die Augen zumachen, sonst überlebe ich den Tripp nicht.

Die Attraktion inspirierte sich an Jules Verne „Von der Erde zum Mond“. In seinem Roman von 1865  hat Verne tatsächlich viele Einzelheiten der echten Mondfahrt vorausgenommen. Max Thinius imaginiert, ähnlich wie Verne, die Zukunft. Genau wie im Space Mountain brauche ich erstmal Dunkelheit, Isolation. Um den wilden Ritt des Vortrags von Max zu überstehen, lasse ich meine Kamera in der Videokonferenz erstmal ausgeschaltet und höre nur aufmerksam zu. Max Thinius ist Futurologe und hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Zukunft zu gestalten, indem er als Berater und Seminarleiter auftritt. Er erzählt beispielsweise von E-Residenz in Estland, der dänischen Brauerei Mikkeller, die sich auch für eine pazifistische Vision der Zukunft einsetzt.

Es geht um eine digitalisierte Welt und die vollkommen neuen Möglichkeiten, die diese bietet. Online wird zuzusagen ein Selbstmade-Kit angeboten, der dem Benutzer erlaubt, sich selbst in einem bestimmten Bereich zu perfektionieren. Orte werden zunehmend dezentralisiert. Wir können heute auf dem Land leben und weiter mit der Stadt verbunden bleiben. Vor der Industrialisierung heizten die Menschen ihre Unterkunft mit Brennmaterial. Während die Industrialisierung die Menschen vom Land in die Stadt trieb wurden die lokalen Heizanlagen von zentralen Heizkraftwerken übernommen. Die Digitalisierung kehrt diesen Prozess um, erklärt Max Thinius, in der Zukunft werden wir uns beispielsweise über Solarenergie selbst versorgen können. Die Vernetzung schützt vor einem eventuellen Ausfall. Es ist eine Zukunft, die bereits existiert und die vielen Menschen Angst macht. Vor einigen Jahren wurde dies in dem Begriff der Urbanisieserung veranktert.

So stellt der Historiker und Museumsleiter Dr. Eckhard Trox die Frage nach Herrschaft und Dienerschaft im digitalen Zeitalter. Auch darauf hat Max Thinius eine Antwort, er erzählt von moderner Sklaverei, in der Giganten aus dem Netz sich unserer Daten bedienen, uns praktisch ausbeuten und zu modernen Sklaven machen. Aber das ist kein Grund sich der Digitalisierung zu verwehren, sie ist eine Zukunft, die bewusst gestaltet werden muss und das ist die Arbeit von Max Thinius.

Gerade in der Coronakrise haben wir gesehen, wie wichtig Digitalisierung ist, auch, um einen Ausgleich zu schaffen, gegenüber der rasanten und umweltzerstörenden Mobilität. Die Konzepte von dem Futurologen Max bieten auch eine Entschleunigung. Er gibt das Beispiel, wie er in Kopenhagen in einer Gemeinschaft aktiv sein kann, ohne selbst immer physisch anwesend sein zu müssen.

Dies scheint aktuell in der Klima- und Coronakrise eine Grundvoraussetzung zu sein, um weiter in einer offenen und friedlichen Welt zu leben. Wir können alternative Konzepte mit moderner Innovation sehr gut verbinden.

Während des Corona-Lockdowns habe ich das selbst mit der Schule meiner Kinder sehr intensiv erlebt. Am Anfang war da Panik. Die Lehrer begnügten sich damit, uns Lernpakete zu schicken. Verzweifelt saßen wir vor Aufgaben wir Bruchrechnen, Restedivision oder Partizipien. Wutanfälle wechselten sich ab mit Anfällen von Hysterie. Mit der Zeit aber wurde das Material innovativer, es gab Links zu Videos auf Youtube, die den Kindern, sowie auch mir, das Bruchrechnen spielerisch erklärten. Eine Freundin schickte mir den Dokumentarfilm „être et devenir“ (sein und bekommen), indem es um Familien geht, die ihre Kinder nicht in die Schule schicken. Die Vision, dass Kinder auch begleitet und frei lernen können und nicht nur in Institutionen, hat mir geholfen, meine Panik zu überwinden und die täglichen Emails der Lehrer als eine Art Do it yourself Kit zu nehmen, mit der ich das Lernen der Kinder innovativ gestalten konnte. Ich weiß heute, dass meine Kinder nicht dauerhaft in die Schule gehen müssen, sie können digital lernen. Theoretisch könnten wir morgen nach Lüdenscheid ziehen, meine Kinder von dort weiter eine französische Schule virtuell besuchen. Wir müssten dazu gar nicht in große Städte, nach Düsseldorf, Frankfurt, Berlin oder Hamburg, ziehen. Also dort, wo französische Familien leben müssen, wenn sie nach Deutschland zum Arbeiten kommen, und sicher gehen möchten, dass ihre Kinder weiter vom französischen Lernsystem mit direkten, sei es auch nur virtuellen, Kontakt gefördert werden.

Die „Wunderkammer der Zukunft“ ein Projekt Museen der Stadt Lüdenscheid verbindet auf innovative Weise lokale Wirtschaft, Industrie, Stadtplanung und Kultur. Sie dient dazu über unsere Zukunft zu reden und Impulse zu setzen. Lüdenscheid leuchtet und strahlt weit in die Zukunft hinein.

 

 

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Unterwegs im vestimentären Feld

Mein Kleidungsstil ist keinesfalls modisch, eher lässig und ungezwungen. Nicht besonders schick, ist ein Kommentar, an das ich mich gewöhnt habe, lange schon. Ein Statement zu meiner Person, ihrem Auftreten, dass ich eigentlich als Teil meiner Identität integriert habe, das, was mich ausmacht, nicht besonders elegant, eher natürlich, selbstverständlich. Zugegeben, Nagellack juckt mir die Fingernägel, vom Kajal tränen meine Augen, der Lippenstift klebt und Lidschatten kratzt mich. Die Differenz von gestylter Schönheit leben, statt aufgebrezelt aus der Haustür zu stürzen zog ich lieber frei nach Curt Kobain come as you are vor und habe immer geglaubt, es sei mein Markenzeichen.

Als ich kürzlich mit meiner selbstgebastelten Atemmaske unterwegs war und auf meinem Fahrrad vor einer roten Ampel wartete, ging ein Herr mit Industriemaske ausgerüstet an mir vorbei. Seine weibliche Begleitung trug auch eine Stoffmaske, allerdings mit sichtbar besserer Nähqualität als meine.

So eine Bastelei, stöhnte der Herr, als er schon an mir vorbei war und glaubte, ich würde ihn nicht mehr hören können. Am liebsten wäre ich vom Fahrrad gesprungen, um ihm oder mir die Maske herunter zu reißen und diese vor seinen Augen zu zerreißen.

Aber die Ampel sprang auf Grün und ich fuhr weiter, mich jedes Mal, wenn ich in die Pedale trat, fragend, ob ich nochmal den Mut haben würde, meine Maske zu tragen.

Ich fühlte mich zurückversetzt in die Zeit, als ich aus Südwestfalen nach Bonn gezogen war und dort als Jugendliche auf eine neue Schule ging. Wie hatten die aus der Stadt damals über meinen Kleidungsstil, meine neongelben Radlerhosen gelacht!

Die Beziehungen zwischen Kleidung und Welt sind vielfältig. Der Modeaspekt ist stets implizit enthalten. Für Roland Barthes bilden Kleidung und Mode ein ebenso komplexes System wie unsere Sprache.

Zusammengesetzt aus Zeichen und Kommunikation ergibt sich eine Matrix, von der auch der Träger abhängig ist. Unser persönlicher Stil ist niemals frei von der sozialen Welt, die uns umgibt.

Das Wort Trachten kommt von dem Verb tragen und nichts eignet sich besser, darzustellen, wie sehr unser Kleidungstil auf einem Zeichensystem beruht, das wie unsere Sprache zur Kommunikation dient. Trachten stellen weniger das Besondere oder Eigene einer Region dar, als dass sie eine Aussage machen, die sich auf ein bestimmtes System beziehen, das meist für identitätsbildende Zwecke eingesetzt wird. So ist auch das Dirndl eigentlich keine traditionelle Kleidung, die in Süddeutschland die Jahrhunderte überdauert hat, sondern eine Erfindung. Auch Annette von Droste-Hülshoff hat festgestellt, dass es in Südwestfalen keine spezifisch traditionelle Kleidung gab. Die Menschen trugen, was der Epoche, in der sie lebten, angepasst war. Dabei gab es wenig einheitliche Kleidung, sondern dem Stand und den Klassen angepasst. Wer auf dem Feld arbeitet oder in der Grube gräbt, trägt die Arbeitskleidung bis sie aufgebraucht ist.

Dabei hat sich immer wieder eine Berufskleidung heraus gebildet, wie beispielsweise die Zögertracht im 19. Jahrhundert mit der sich die Drahtzieher in Südwestfalen kleideten. Doch da niemand diese für Identitätsbildende Zwecke eingesetzt hat, ist auch sie wieder in Vergessenheit geraten.

Dafür gibt es heute eine Unmengen an Schützentrachten, angelehnt an frühere Jägertrachten, wurden sie früher ausschließlich von Männern getragen, heute gibt es immer mehr Frauen, die den Vogel abschießen und dafür tragen sie dann selbstverständlich auch eine der lokal üblichen Uniformen. Kleidung kennzeichnet eine gewisse Zugehörigkeit oder eben nicht.

Der Eigenwille, sich selbst nicht inszenieren zu wollen, kann eben ein Statement sein.

Es geht immer um den Eigensinn, mit dem Gegenstände getragen oder benutzt werden, damit diese dann zu einem Identitätsmarker werden. So ungefähr wie eine selbstgebastelte Atemmaske, die, mit dem gewissen etwas, von dem auch France Galle schon gesungen hat, das eben nur sie hat.

Drahtzieher Ehepaar, Altena um 1800

Mit herzlichen Dank an Prof. Dr. Gudrun M. König und Prof. Dr. Lioba Keller-Drescher für die hilfreichen Gespräche zur Anthropologie des Textilen.

 

 

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A 45 Masken aus Bali

Es war noch sehr früher Morgen, als mich folgender Text erreichte. Ein Treibgut aus meiner „Reader ist present“ Aktion, das über Spams und abgelehnte Emails zu mir mi Verspätung über eine virtuelle Datenwelle angeschwemmt wurde. Ich war gerade dabei,  die letzten Sätze für meine Zwischenbilanz „Möglichkeiten einer Region“ zu schreiben. Der Absender ist aber früh wach, habe ich gedacht und beim Lesen noch einige Schätze aus Südwestfalen entdeckt, den Verfasser inklusive.

Nach meiner Rückkehr aus Israel, ich war dorthin für meinen Zivildienst geflohen, um dem südwestfälischen Alltag zu entkommen, stellte sich sehr schnell wieder ein Alltagsgefühl ein. Obwohl ich wußte ich würde nur ein knappes Jahr bleiben um dann nach Köln zu ziehen,  zogen sich die alltäglichen Tage dahin. An einem dieser Tage kam mein Vater nach einer Waldkontrolle nach Hause und berichtete von einem merkwürdigen Fund. In einem Fichtenwald, nicht weit weg von einer Bundesstraße die zur A4 und A45 führt, hatte er einige weiße Flecken liegen sehen. Er hatte angehalten und einer der „Flecken“ offenbarte sich als asiatische Gipsmaske. Ich bin abends noch zum Fundort gefahren und habe alles ausgegraben. Sieben balinesische Masken, eine Shiva (Indien), zwei buddhistische Mönche. Alle in Gips abgegossen, alle mit sehr starken Verwitterungen, sie müssen dort lange gelegen haben.

Ich habe schon als Kind überall gegraben und etwas „besonderes“ gesucht, ohne konkrete Vorstellungen gehabt zu haben was es sein könnte. Ein so merkwürdiger Fund zum Ende meiner Zeit an diesem Ort hat mich auf besondere Weise mit ihm versöhnt.

Das ist jetzt 24Jahre her und ich habe drei der Fundstücke in meiner letzten Einzelausstellung im Kunstverein MMMIII Mönchengladbach mitausgestellt.

Hier könnt ihr die Homepage von KLAUS KLEINE entdecken!

 

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Understatement

„…wie sehr es mich immer gefreut, einen gewissermassen Geistesverwandten, engeren Landsmann zu haben- denn bis jetzt ist es sehr selten, dass unter Eisen u. Kohlen unserer Vaterstadt künstlerische Elemente sich entwickelt haben.“

Ida Gerhardi an Karl Ernst Osthaus

 

Halbzeit, und damit der Moment gekommen, Bilanz zu ziehen und darüber zu schreiben, warum Südwestfalen der beste Ort der Kultur-Förderung sein kann.

Wenn ich meinen Eindruck über die Region mit einem einzigen Wort zusammenfassen sollte, dann wäre es dieses: UNDERSTATEMENT.

Südwestfalen ist mit Sicherheit eine Region, die im Außen- und Eigenbild völlig unterschätzt wird.

Südwestfalen, das ist auf den ersten Blick eine Industrieregion mit viel Wald. Die viele und üppige Präsenz der Natur, lässt einen leicht an Landwirtschaft denken. Man stellt sich dann Bauern vor, die Kühe hüten, Frauen mit Kopftüchern, die mit Eimern in den Händen zum Melken ausziehen. Man meint, es wäre eine Gegend, in der die Menschen von ihren Händen leben, indem sie das Feld bestellen, man glaubt, sie seien abhängig vom Wetter, würden gelernt haben, sich dessen Willen beugen, wie der eines alles beherrschenden Gottes. Aber das stimmt nur zu Hälfte. Von der Landwirtschaft allein haben die Menschen in Südwestfalen nie leben können.

Viele Vorurteile existieren bezüglich dieser Gegend, die kulturell gesehen, nicht viel von sich reden macht. Die zahlreichen Schützenvereine lassen an die Vorliebe für Tradition und Folklore denken. Heimat ist ein wichtiges Wort. Und das alles erinnert schmerzhaft doch auch an eine andere Zeit in Deutschland, die wir gerne vergessen wollen. So wurde ich zu Beginn des Stipendiums auch oft gefragt, was ich denn in Südwestfalen erforschen wolle, vielleicht Nazis? Rechtsradikale? AFD-Mitglieder? Den Rechtsdruck gibt es leider aktuell in sehr vielen Regionen Deutschlands und meines Wissens nach nicht herausragend mehr in Südwestfalen als in anderen Gegenden.

Religion ist ein anderes Stichwort, das immer wieder fiel. Dies oft im selben Atemzug mit Max Weber genannt, der ausführlich über den Geist des Kapitalismus im Zusammenhang mit religiöser Tradition geschrieben hat. Es wird nicht selten vermutet, der Reichtum der Region läge an einer gewissen pietistischen Lebensweise. Selbstverständlich hängt religiöse Praxis und Akkumulation von Reichtum zusammen. Dies nicht nur auf Seiten des Protestantismus.

Der Reichtum der Region kommt aber nicht vom Beten, sondern ursprünglich aus den Bergen. Er war lange versteckt in dem unterirdischen Labyrinth, einer Welt, die der des Minotaurus gleicht.

Es gibt überhaupt sehr viele versteckte Schätze in der Region. Vielleicht liegt dieser Zustand an der Gegenwertigkeit der Bergwerke, sie sind zwar stillgelegt, aber immer noch da, wenigstens im kulturellen Gedächtnis der Region. Bergwerke haben es so an sich, das man tief graben muss, um, was Leuchtet ans Licht zu bringen. Vielleicht haben sich die Menschen in Südwestfalen deswegen angewöhnt, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen, sich genügsam zu geben, nicht auffällig jedenfalls, denn sie kennen sich aus mit vergrabenen Werten.

Während im Rheinland Kohle abgebaut wurde, waren es in Südwestfalen Erz, Kupfer und Silber. Hier wurde Eisen und Stahl produziert. Altena gilt als die Wiege der Drahtproduktion.

Die Historiker Peregrine Horden und Nicholas Purcell haben in ihrem Werk „The Corrupting Sea“ die Beziehung zwischen Menschen und ihrer Umwelt im Mittelmeer über gut dreitausend Jahre hinweg analysiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass es eine lokale Form der „langen Dauer“ gibt. Traditionen, die sich mit der Zeit zwar verändern, aber auch eine lokale Hartnäckigkeit aufweisen. Der Begriff der „langen Dauer“, longue durée ist von Ferdnand Braudel geprägt worden, einem Historiker der Annalen Schule.

Für Braudel verläuft die menschliche Geschichte nicht gradlinig, sondern auf verschiedenen Ebenen, wobei die Ereignisse, die für uns meist zu den wichtigsten historischen Zeitmessern werden, wie der 11. September oder die aktuelle Coronakrise, eben nur Wellen auf der Oberfläche des langen Stroms der Geschichte sind, und der viel tiefere Grund darunter meist verborgen liegt.

Wenn ich nun diese von Braudel geprägte, und von Horden und Purcell weiter entwickelte Theorie auf Südwestfalen anwende, so erklärt sich das lokale verankerte „Understatement“ als ein zeitloses Phänomen, als ein historischer Tatbestand, der in den lokalen geographischen Besonderheiten und im kulturellen Gedächtnis seiner Bewohner verankert ist. Bereits die Kelten sollen dort den Wald gerodet und das Erz aus den Bergen geholt haben. Lange muss man nicht überlegen, um sich vorzustellen, wie diese Art der lokalen Produktion die Menschen formt. Die Schätze der Region befinden sich in der Tiefe ihres Seins.

Die nachhaltige Tradition der Waldrodung (Hauberge) ist eine der vielen Schätze der Region, von denen kaum jemand über die Grenzen hinaus Notiz nimmt. Südwestfalen ist still und unauffällig, mit nicht wenigen Global Players im Unternehmensbereich, ist es auch eine reiche Region. Reich und verschwiegen, wie Heinrich Vormweg in seinem Film „Siegen, Notizen einer Stadt“, erzählte. Der Film entstand 1966 und wurde nur einmal im Fernsehen gezeigt, er ist unerkannt geblieben, wie die Region, über die er berichtet.

Industrie bedeutet Kreativität und Produktivität, doch was ist mit der anderen Produktion, die eigentlich auch systemrelevant ist, die der Kunst? Auch darüber wurde bereits im Film von Vormweg reflektiert, dort ist von Verachtung gegenüber jener Produktivität die Rede, die nichts Verwertbares hervorbringt, also Kunst.

Dabei kann Südwestfalen auf eine eigene glorreiche Epoche in der Kunstgeschichte zurück schauen, der sogenannte „Hagener Impuls“, der hauptsächlich von Karl Ernst Osthaus (1874-1921) beeinflusst wurde. Zu dieser Epoche gehört auch Ida Gerhardi (1862-1921), die in Hagen geborene Künstlerin wurde von mir bereits in einer Youtube-Lesung vorgestellt. Sie ist, genauso wie Karl Ernst Osthaus, das weibliche Beispiel für die Modernität und Aufgeschlossenheit der Region. Ohne Ida Gerhardi hätte Karl Ernst Osthaus zu deutlich weniger französischen Künstlern Kontakt gehabt.

Osthaus-Museum-Hagen, Bild von Simone Scharbert

Von den ambitionierten künstlerischen Projekten des Karl Ernst Osthaus in Südwestfalen sind die architektonisch herausragenden Gebäude geblieben, wie der Hohenhof, das von Henry Van de Velde geplante Wohnhaus der Familie.

Der „Hagener Impuls“ ist kaum über den ihm eigenen Begriff des Antriebs hinausgegangen. Es ist bei einem Anstoß geblieben, das weltweit bekannte Folkwang-Museum steht heute im Ruhrgebiet, das aus diesem Impuls entstandene Bauhaus glänzt heute nicht in Südwestfalen. Dabei hatte Karl Ernst Osthaus angeregt, das soziale Leben durch Kunst zu gestalten. Er wollte die Versöhnung schaffen von Kunst und Sozialem. Eine Künstlerkolonie, Werkstätten und ein Lehrinstitut sollte gegründet werden, sie alle sind nur noch Teile eines Museums. Aber auch davon ist nichts geblieben, als die Gebäude, leere Räume, die heute dort ausgestellt sind wie Sammelstücke, schön anzusehen, beeindruckend sogar, aber leblos. Eine heute tote Utopie.

Osthaus schreibt, dass im Westfalen des 19. Jahrhunderts die künstlerische Tradition nicht wirklich veranker ist: „Kleine Malertalente, die hie und da auftauchten, verließen den Boden der Heimat und suchten in Düsseldorf oder Italien ein Milieu, das ihnen Anregung und Förderung gab.“

Doch ist die künstlerische Produktivität Südwestfalens nicht nur Vergangenheit. Auch heute noch gibt es in der Region viele Perlen künstlerischer Produktion, die still und leise vor sich hin glitzern.

Unter Eisen entwickeln sich auch künstlerische Elemente, wie Ida Gerhardi an Karl Ernst Osthaus schreibt.

Ein Künstler, der Eisen zu seinem künstlerischen Element gemacht hat, ist Eberhard Stroot. Der ehemalige Olympiasportler lebt schon lange in Kreuztal. Viele seine Kunstwerke sind aus Stahl. Das Grundmetall für Stahl ist Eisen.

Kunstwerke von Eberhard Stroot, mit freundlicher Genehmigung vom Künstler

Zu Eberhard Stroot gehört seine Frau, Karin Stroot. Die ist Tänzerin und ist im Siegerland mit ihrem Tanztheater bekannt geworden.

Tanztheater Karin Stroot, mit freundlicher Genehmigung von der Künstlerin

Das Besondere an den Stroots ist auch, dass sie als Künstlerpaar vier Kinder haben. Ich erinnere mich noch genau, wie ich, schwanger mit meinem ersten Kind, bei Karin Stroot in der Küche saß, und mir von ihr erzählen ließ, wie das so geht, Künstlersein und Kinderhaben. Es ist nicht leicht. Die Stroots sind als kinderreiche Künstlerfamilie eine Ausnahme.

Die Performance-Künstlerin Marina Abromavic beispielsweise wurde schwer angegriffen, als sie in ihrer Biographie schrieb, sie habe in ihrem Leben drei Abtreibungen gehabt. Abromavic hat nicht Unrecht, wenn sie behauptet, eine Karriere in der Kunst und Kinder seien nicht vereinbar. Ihre Aktion „The Artist is Present“ stand für meine Aktion „The Reader is Present“ in diesem Blog Pate.

Das Künstlerpaar Stroot hat nicht nur vier Kinder, sondern sich nie gescheut, damit auch offen in der Kunstwelt hervorzutreten. Als das Paar gemeinsam 1981 im Sportstudio auftrat, war ihr erstes Kind dabei und wurde von Bern Heller auf den Arm genommen.

Vierzig Jahre später sind Kunst und Kinder immer noch nicht besonders gut miteinander vereinbar. Frauen sind in der Kunst  weiterhin unterrepräsentiert. Stipendien, die Künstler mit Kindern fördern sind eher die Ausnahme. Es lässt sich nicht von einer familienfreundlichen Nachwuchsförderung sprechen, denn in der Landschaft der Preise, Förderungen und Stipendien wird oft 35 als Altersgrenze angesetzt. Erziehungszeiten werden nirgendwo angerechnet. 2014 hat Julia Franck darauf hingewiesen, dass es in Deutschland eigentlich keine Vereinbarkeit für Kinder und Kunst gibt.

Dies heißt, das Künstler, die sich eine Familie wünschen, sehr gut ihr Leben im Voraus planen müssen, was eigentlich unmöglich, und damit kontraproduktiv ist, denn weder Kinderkriegen noch Familienglück oder das Leben überhaupt sind wirklich planbar. KünstlerInnen zahlen oft einen hohen Preis für dieses familienfeindliche System der Kunstförderung.

In ihrem Roman schildert Isabelle Lehn berührend den Zustand der Zerrissenheit zwischen biologischer Reproduktion und künstlerischer Karriere einer Autorin.

Heute würde eine Kusntperformance mit Kind wie die der Stroots im Sportstudio damals, als Beispiel der Vereinbarkeit gefeiert. Damals gehörte der Auftritt lediglich zum diskreten Charme der Stroots aus Südwestfalen.

Es ist also durchaus eine fortschrittliche Region, die sich wohl selbst unterschätzt und auch von außen unterschätzt wird. Dabei steht sie den urbanen Zentren mit wenig nach, wie religiöses Miteinander, Industrie, Kunst und Kultur zeigen. Aber doch hält sich die Region selbst hinterm Berg und dies hat sicher mit dem zu tun, was der Historiker Fernand Braudel „lange Dauer“ nannte.

Möglichkeit einer Region, so habe ich mein Projekt genannt und eine Möglichkeit ist für mich die Kunst- und Kulturförderung. Eine Option ist an die Ideen von Karl Ernst Osthaus anzuknüpfen. „Folkwang“ kommt aus dem nordischen und bedeutet so viel wie „Halle des Volkes“. Osthaus wollte Kunst allen zugänglich machen und auch Künstlerresidenzen schaffen.

Eine Möglichkeit wäre eine Künstlerkolonie zu gründen, eine, die explizit KünstlerInnen aller Sparten mit Kindern fördert und damit eines der ersten nicht nur in Deutschland, sondern auch Weltweit wäre. Dafür wäre die Region nicht mal auf den Staat angewiesen, eine von UnternehmerInnen gegründete Stiftung könnte dazu eine Alternative bieten. Ein Ort der sich dafür anbieten würde, wäre beispielsweise Altena, eine Stadt mit großer Abwanderung in der Region, aber auch eine Stadt mit einem bedeutenden künstlerischen Erbe, wie das Apollo-Kino.

Südwestfalen könnte Vorbild  und Vorreiter in Deutschland für eine familienfreundliche Kulturförderung sein. KünstlerInnen würden nicht nur eine Unterkunft und Förderung, sondern auch Kinderbetreuung geboten, indem die Kinder für die Zeit des Aufenthaltes in die lokalen Schul- und Betreuungseinrichtungen integriert werden. Daraus könnte eine Win-Win-Situation entstehen, denn indem die Kinder betreut werden, können sich Künstler selbstverständlich auch in das lokale Geschehen miteinbringen.

Ein ambitioniertes Projekt mit dem ich, mit einem großen Bogen zwar, an die Ideen von Karl Ernst Osthaus anknüpfe. Ein Projekt, das einer Region würdig ist, die viel leistet, sich aber selbst gerne unter den Scheffel stellt. Ein Projekt, mit dem aus einem Understatement, ein Statement werden könnte, auf das die deutsche Kulturlandschaft wartet.

Osthaus, Hagen, Bilder von Simone Scharbert, ganz HERZLICHEN DANK dafür!

 

Tanztheater Karin Stroot, Bilder von Karin Strooh, Herzlichen Dank dafür!

 

 

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