Das Geräusch des Wartens

Als ich höre, dass es in Attendorn eine Moschee gibt, bin ich überrascht. Das hätte ich nicht erwartet, mitten im ländlich geprägten Südwestfalen. Noch weniger hätte ich es von einer Stadt erwartet, in der katholische Osterbräuche eine identitätsbildende Tradition haben. Die Ditib Moschee in Attendorn wurde 2017 eröffnet, im selben Jahr wie die Moschee in Köln. Die Hansestadt ist mit der Zeit gegangen und hat ihrer 1986 in Attendorn gegründeter und derzeit mitgliederstärksten Migrantenorganisation eine Heimat geboten. Nur wenige Wochen nach Ostern hat der Ramadan, die muslimische Fastenzeit, angefangen. Es ist ein Monat, der das Leben auf den Kopf stellt, gegessen wird mit dem Mond, gefastet mit der Sonne.

Ein wenig Bedauern spüre ich schon von Seiten des Vereins in Attendorn, dass sie nicht, wie in vielen anderen Städten Deutschlands, wie in Berlin oder Dortmund beispielsweise, die Unterstützung bekommen haben, um den Gebetsruf in der Coronakrise als Zeichen des Zusammenhalts und der Solidarität erschallen zu lassen. In Attendorn bleibt es allein den Glocken überlassen, täglich mit ihrem Läuten, Hoffnung und Zuversicht in der Krise zu verbreiten.

Den Ruf des Muezzins kenne ich gut aus dem Libanon, denn auch dort lebt, wie in Südwestfalen, ein Teil meiner Familie. Es ist ein schönes Gefühl am frühen Morgen vom Gebet geweckt zu werden, wenn langsam über dem Gebirge die Sonne aufgeht, sich tastend vorstreckt, als wäre sie noch unentschieden ob sie auch an diesem Tag leuchten soll. Doch mit dem Gesang steigt sie auf in den Himmel und mit ihr kommt die Wärme, schleicht sich langsam über die Hügel ins Tal, um sich mit dem Geruch von Jasmin, von Olivenzweigen und Zedern zu vermischen. Die ersten Sonnenstrahlen blitzen im Takt eines knackenden Lautsprechers über die grünen Hügel. Manchmal beginnt auch ein Hahn zu schreien und macht dem Muezzin Konkurrenz, aber meist gelingt es beiden auf eine gewisse Harmonie zu kommen und da das Morgengebet sehr früh ist, flüchtete ich mich beim Hören von Hahnenschrei und Gebetsruf oft wieder in einen ruhigen und angenehmen Schlaf. Der Gebetsruf des Muezzins hat für mich auch etwas Mystisches. So hat er mich bei unseren Reisen im Libanon immer in neue Träume entführt, bis dann am Morgen die Glocken durch die Straßen klangen und es Zeit war aufzustehen.

Glocken sind ursprünglich auch magische Bedeutungsträger. China gilt als das Ursprungsland der Glocke und auch dort wurde sie für rituelle Zwecke eingesetzt. Doch ist der Klang der Glocken mit der Erfindung und Verbreitung des modernen Zeitverständnisses immer mehr zu einer rhythmischen Maßeinheit geworden, die unsere Vorfahren vom Feld in die Kirche rief, uns ankündigte wann es Zeit war Mittag zu essen oder ins Bett zu gehen. Das mystische und magische im Glockenklang ist längst der präzisen Zeitmessung und ihrem Verständnis einer absoluten Naturbeherrschung gewichen.

Der Vater meiner Kinder ist im Libanon zwischen Glockenschlag und Gebetsruf aufgewachsen und als ich ihm von meinen Gedanken zum Glockenschlag erzähle, behauptet er, für ihn wäre es mit dem Gesang des Muezzins nicht anders. Auch der Ruf vom Minarett bedeutet für ihn im Alltag ein Zeitmesser und kein mystischer Klang höherer Sphären.

Er erzählt mir diese Geschichte aus seiner Kindheit, denn er ist in einem ganz anderen Libanon aufgewachsen, als wir ihn heute kennen. Als Papst Paul VI 1965 den Libanon besuchte, war der Vater meiner Kinder ein Erstklässler und seine multikonfessionelle Heimat noch Hoffnungsträger für den Weltfrieden. Damals war er Schüler in Beirut.

In der Schule lernte er Französisch und kann sich noch gut an seinen Nachhilfelehrer erinnern, einem Mann aus der christlichen Nachbarschaft, der ihn mit dem Partizip und den unregelmäßigen Verben quälte. Lange Stunden musste er als Schüler sitzen, verzweifelt darauf wartend, dass der Unterricht ein Ende nehmen würde. Und dann war da dieser Moment, als er meinte, gar nicht mehr weiter zu können. Es nicht mehr auszuhalten, die Buchstaben verschwommen zu einer undurchsichtigen Masse, wie der Rauch der Pfeife des Lehrers neben ihm, der Kopf wurde ihm schwer. Im Libanon wird noch heute viel geraucht, auch in den Wohnungen, einige vermuten sogar, der Coronavirus hätte wegen der vielen Raucher in der Region nicht so hart zuschlagen können.

Aber zurück zu unserem Schüler und seinem Lehrer. Der Mann war etwas übergewichtig, schwitzte viel, der Junge fühlte sich in seiner Anwesenheit eigentlich nie wohl, was eben nicht nur an den französischen Verben lag. Es war etwa fünf Uhr am Nachmittag, dem Schüler kam es vor, als würde er nie aus dieser Hölle des Lernens entkommen. Sein Lehrer hielt den Finger auf die Seite gepresst, als fürchtete er, all die Formeln, Adjektive und Verben, könnten plötzlich davonlaufen. Der Gebetsruf war für den Schüler eine schlichte Zeitansage, und die verriet ihm, dass er mindestens noch eine Stunde mit Lernen, Schweiß und Rauch aushalten müsste. Doch als der Klang des Muezzins erklang, hielt der Nachhilfelehrer plötzlich inne, nahm die Hand vom Buch, atmete durch, klopfte seine Pfeife aus und lauschte dem Gesang, und sagte dem Schüler, er höre diesen Gesang so gerne, es gebe ihm das Gefühl des Friedens. Der Mann war Christ, Schüler und Lehrer gehörten nicht derselben Religionsgemeinschaft an und nun saßen sie dort und lauschten und während der Muezzin sang, schwiegen die Verben, die regelmäßigen und die unregelmäßigen, und auch die Partizipien kamen zur Ruhe.

Danach war alles viel leichter, die letzte Stunde verging wie im Flug und die Glocken läuteten und so war es nun am Schüler mit dem Lehrer gemeinsam dem Klang der Glocken zu lauschen und auch er sagte dann, wie schön und wie friedlich der Gebetsruf der anderen, fremden Religion klänge.

Sie umarmen sich, sagt man im Libanon zu den unterschiedlichen Gebetsrufen, sie sprechen miteinander, Glocken und Gesang lösen sich ab, hören sich zu und lauschen einander und so lange sie miteinander reden, ist alles noch gut.

Jahre später war der Bürgerkrieg ausgebrochen, jeder zog sich in sein Viertel zurück, Muslime und Christen lebten in Beirut nicht mehr eng zusammen, alle versuchte den Ruf zum Gebet des anderen zu übertönen, mit dem eigenen Lautsprecher oder Glockenschlag den Glauben des anderen zu ersticken.

Das ist das Schlimmste für mich, sagt der ehemalige Schüler, der heute mein Mann ist, wenn ich den Ruf des Muezzins höre, ihm aber nicht das Läuten der Glocken ihm folgt, sondern nur diese Stille. Dann weiß ich, es gibt keinen Frieden und immer warte ich dann auf das Läuten der Glocken. Und wenn ihm etwas von seinem christlichen Lehrer geblieben ist, dann nicht nur, dass er heute perfekt Französisch spricht, sondern auch, dass ihm der Klang der Glocken und Gesang des Muezzins in seinem Gedächtnis gleichwertig sind.

Er erzählt mir von der libanesischen Sängerin Fairuz und ihrem Mann Assy Rahbani, die in ihren Liedern oft die beiden Gebetsklänge miteinander erklingen ließen. Ein Lied von ihnen hänge ich hier an. Die Sängerin Fairuz ist Christin und steht für einen vereinten Libanon, der seit langem unter Spannungen leidet, aber mit seinen achtzehn unterschiedlichen Religionsgemeinschaften auch als Vorbild eines friedlichen Zusammenlebens galt.

Es wird noch lange dauern, bis der Vater meiner Kinder wieder in den Libanon reisen kann, um seine Familie zu sehen. Die Region war schon vor Corona in einer großen Krise, der Syrienkrieg, die Flüchtlinge haben das Land in einen Abgrund gestoßen.

Aber es wird auch für viele Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland lange dauern, bis sie ihre Heimat und die dort lebenden Verwandten jenseits europäischer Grenzen wiedersehen können. Die Coronakrise hat die Welt in einen Winterschlaf versetzt und wir alle müssen warten, bis es weitergeht. So lange lauschen wir, hören den Klang des Wartens, auch wenn es nichts ist, als die Stille, die uns umgibt.

Die muslimische Gemeinde der Hansestadt Attendorns hat gut dreißig Jahre auf ihre Moschee gewartet, eine lange Zeit für einen einzelnen Menschen, aber weniger lang für die menschliche Historie an sich. Kaum jemand weiß besser als die Südwestfalen, was Zeit und ihr Verlauf bedeutet. Es können gut vierzig Jahre vergehen, bis eine Eiche zum ersten Mal Früchte trägt. Und es braucht seine ganz eigene Zeit, bis aus multiplen Gemeinschaften eine Harmonie entsteht, damit schließlich und endlich die unterschiedlichen Stimmen harmonisch zusammen erklingen.

 

Damit das Warten schneller vergeht, hier noch ein Lied von Fairuz, in dem es auch ums Warten geht. Habbaytak bel sayif (حبیتك بالصیف), „Ich liebte dich im Sommer“, erzählt die Geschichte zweier Liebender, die aufeinander warten, im Sommer, im Winter, so lange, bis sich beide zu Fremden geworden sind.

 

 

Die beiden Bilder im Beitrag zeigen die Moschee in Attendorn, mit freundlicher Genehmigung des Vereins.

Das Beitragsbild zeigt Moschee und Kirche in Beirut, Libanon.

 

 

 

 

 

 

Mehr von Barbara Peveling

A45 Gezeitenwandeln

THE READER IS PRESENT

Oft geht es einem so, dass man über Orte hinweggeht, ohne zu wissen, was sie bedeuten oder woher ihr Name wirklich kommt. Doch wenn man die Herkunft der Orte, sowie ihre Geschichte kennt, dann fühlt man sich ihnen gleich viel vertrauter, so, als wäre man schon wieder ein Stück mehr in ihnen zu Hause, man hat an etwas hinzugwonnen, selbst wenn es nur ein Teil des kollektiven Gedächtnisses ist. So habe ich heute Morgen im Homeschooling mit einem meiner Kinder mich lange mit Ludwig dem IX beschäftigen müssen, und endlich verstanden, woher der Name kommt,  Île Saint-Louis, diese schöne kleine Insel, mitten in Paris, auf der auch Notre Dame steht und ich habe auch erfahren, das die Kathedrale schon vor Ludwig IX angefangen und zu seinen Lebzeiten auch nicht mehr fertig gebaut wurde. So ist es eben mit den Orten, sie wandeln durch die Gezeiten und die beiden Beiträge aus Geschichte und Poesie verbinden sehr schön die Gegenwart mit derVergangenheit, den Lesern sei dank!

Die Ginsberger Heide war ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt von Heinz Bensberg

 Bereits schon in der vorchristlichen Zeit sollte die Ginsberger Heide strategisch gesehen ein wichtiger Punkt gewesen sein. Denn die damaligen Herren des Eisenlandes, des Siegerlandes, ließen hier eine starke militärische Schutzanlage  gegen eine von Osten drohende Gefahr bauen. So entstand eine Verbindung nach Osten. Ein wichtiger natürlicher Zugang zu den vorgeschobenen Befestigungen der Wallburgen bei Aue und Laasphe. Aber auch die vorgeschichtliche Burg auf dem Schlossberg bei Vormwald.

Gleichzeitig hatte diese Burg vermutlich eine Verbindung zu den Wallburgen, der Alten Burg bei Obernau und der bei Rittershausen. Die aus Süden von Main und Rhein kommende über den Westerwald führende alte Höhenstraße, deren Siegerländer Strecke unter dem Namen Eisenstraße bekannt war, gehörte Wahrscheinlich auch hierzu. Es sprach vieles dafür, dass diese Straße nördlich der Ginsberger Heide in nordöstlicher Richtung über den Kamm des Rothaargebirges weiter führte. So musste die Ginsberger Heide der Treffpunkt von drei wichtigen Verkehrswegen gewesen sein.

Die auf natürlichen Gegebenheiten ruhende Bedeutung der Ginsberger Heide erkannte auch das Mittelalter. Nicht lange, nachdem die Nassauer Grafen im Siegerland sesshaft geworden waren, errichteten sie um 1250 in der ehemaligen Wallburg die Ginsburg. 1384 hatte König Wenzel den Grafen von Nassau die Einrichtung eines Femgerichts (Freistuhl) auf der Ginsburg erlaubt. Im Jahre 1389 erneuerte er dieses Angebot. Der Oberfreistuhl Arnsberg widerrief die Erlaubnis 1424. Mehr als 300 Jahre diente diese Burg zum Schutz gegen Wittgenstein und Kurköln. Kurz vor dem Verfall hatte sie eine große Bedeutung.

Im Jahre 1568 trafen sich auf dem Giller Wilhelm der Schweiger, mit deutschen und niederländischen Patrioten, um die letzten Vorbereitungen für den Befreiungskampf der Niederlande gegen Spanien zu treffen. Monate später war die Ginsberger Heide Sammelplatz von mehreren Heeren. Sie marschierten unter dem Befehl Ludwig von Nassau von hier nach den Niederlanden. Übrigens verlief über den Giller ein Abschnitt der langen Rhein-Weser-Wasserscheide, welche die Einzugsgebiete vom Rhein im Westen und von der Weser im Osten trennten.

Der Verfall der Burg erfolgte in den folgenden Jahrhunderten. Jung Stilling hatte in seiner Jugend noch die überwuchernden Reste der Burg gesehen. Sie waren bis zu den Ausgrabungen 1960 verschwunden. Jung Stilling erzählte weiter, als das Rittertum langsam zu Ende ging, sollten die Bewohner Übergriffe auf andere gemacht haben. Beispielsweise ein gewisser Johann Hübner, der den Leuten in Grund und Umgebung das Vieh geraubt haben sollte. Auch seien Reiter, die in der Nähe des Weges kamen, überfallen worden. Man habe ihnen die Rosse und ihre Habseligkeiten abgenommen und sie dann an einen Baum gefesselt. Aber auch seine Vorfahren hätte man, wenn sie mit Frucht aus dem Hessenland kamen, überfallen. Um sicher zu sein hätte man nachts Wachen mit geladenen Gewehren aufgestellt. Ein wackerer Fürst aus dem Hessenland, der „schwarze Christian“, hätte Johann Hübner besiegt und die Burg zum Teil zerstört, wodurch der Zerfall nach und nach eingetreten war.

Die verkehrsgeographische Lage der Heide zeigte sich im Mittelalter klarer als in der Wallburgenzeit. Diesen Charakter hatte sie bis ins 19. Jahrhundert bewahrt. Erst durch die Erbauung der Landstraße von Hilchenbach nach Erndtebrück und die dazu passende Eisenbahnlinie, die beide um die Heide herum führten, hatten sich die alten Wegeverhältnisse grundlegend verändert. In den 1960er Jahren war die Burg freigelegt und restauriert worden. Heute ist die Anlage mit dem im Zuge der Restaurierung wieder auf gemauertem Rundturm Ausflugsziel und Aussichtspunkt. Die Innenräume des Turmes wurden auch als Festsaal und Trauzimmer von Heimatfreunden genutzt.

Die Verlängerung der Eisenstraße lief östlich und nördlich am Giller vorbei über die Heide zum Forsthaus, dann entlang der Ferndorfquelle zur oberen Lenne weiter nach Meschede  bzw. Arnsberg, wo der Anschluss an wichtige nordwestliche Straßen erreicht wurde. Ihr südlicher Ableger ging über Dillenburg bzw. den Westerwald zum Mittelrhein über Wetterau nach Frankfurt. Weiterhin war auf alten Karten ersichtlich, dass sie noch an einer bedeuteten Verkehrsstraße lag, die von den Niederlanden über Frankfurt nach Süddeutschland verlief.

Hieraus kann man erkennen, dass die Ginsberger Heide seinerzeit keine einsame Waldidylle war, was wir heute in ihr sehen. Die Heide war Jahrhunderte lang ein echter Verkehrsknotenpunkt. Wenn der Straßenschutz hier oben versagte machte sich ein Straßenräuberwesen breit. Man erzählte sich, dass öffters kölnische Bauern räuberische Überfälle auf dem auf der Heide gelegenen Wirtschaftshof unternommen hätten. Der Hof lag in der Nähe des heutigen Forsthauses. Er war erst zu Beginn des 19. Jahrhundert aufgegeben worden. Es war eine größere Ansiedlung gewesen was den Namen nach dem dort entspringenden Bach Wegebach gleich Webach führte. So sollten 1479 sogar zwölf Steuerpflichtige dort oben erwähnt worden sein. Zum Vergleich der Größe, Brauersdorf hatte 9, Oberholzklau 8, Eckmannshausen 8 und Oberfischbach 7 Steuerpflichtige zur damaligen Zeit.

Bereits 1319 sollte laut einer Urkunde dort auch eine Kirche gestanden haben. Diese ging in jenen Jahren aus dem Besitz des Klosters Keppel an die Grafen von Nassau. Es war die durch eine Flurkarte nachgewiesene Antoniuskapelle. Sie sollte in der vorreformierten Zeit ein beliebter Wallfahrtsort gewesen sein. Die Überlieferung sprach auch von einem Friedhof westlich des Forsthauses. Aber auch von einer Mühle sprachen die Urkunden, die nördlich der Heide gestanden haben sollte. Später war sie vermutlich nach Grund verlegt worden.

Anfang der 1900er Jahre wurde ein Sportplatz auf dem Giller gebaut. Hier fand das jährliche Gillerbergfest bis heute statt, was erstmals 1907 ausgerichtet wurde. Es ist heute das größte deutsche Bergturnfest. Im Jahre 1925 wurde die erste Gillerbergschanze erbaut. Sie wurde 1949 tüchtig umgebaut bzw. verbessert. Den Schanzenrekord von 43 Metern erzielte der mehrfache deutsche Meister, vielfacher Vierschanzentournee- und Olympiateilnehmer Alfred Grosche. Die Schanze wurde bis 2003 genutzt und 2012 abgebrochen. In den 1960 Jahren wurde ein Skilift neben die Schanze gebaut der heute noch besteht.

Seit 1991 war Hilchenbach und die Region Siegen Wittgenstein um ein kulturelles Großereignis auf der Ginsburger Heide reicher geworden. Immer zu Pfingsten entstand in einer außergewöhnlichen Landschaft eine Zelttheaterstadt. Der Giller bildet für fünf Tage dann immer die Kulisse für ein internationales Musik- und Theaterfestival der ganz besonderen Art. Jedes Jahr strömten über 50.000 Besucher in dieser Zeit auf den Giller um das abwechslungsreiche Programm Kultur Pur zu sehen.

Der Rothaarsteig, einer der bedeutensten Wanderwege in NRW, wurde am 6. Mai 2001 ausgerechnet auf der Ginsburg eröffnet. Sein Hauptweg führt von Brilon nach Dillenburg, überquerte den Giller und ist 156,8 Km lang. Das Wanderzeichen des Rothaarsteiges war ein auf dem Rücken liegendes weißes R auf rotem Grund. Er verläuft  zumeist entlang der Rhein-Weser-Wasserscheide durch bewaldete Berge.

Aber auch weitere Veranstaltungen, Begegnungen und Zeltlager finden heute noch jährlich auf dem Giller statt. Somit ist die Ginsberger Heide seit vielen Jahrhunderten ein Mittelpunkt und Zentrum das seines Gleichen sucht.

Literaturnachweis:Dr. Hermann Böttger: Die Ginsberger Heide – eine historische Stätte

 

 

Wassermassen waren für Weidenau erst hemmend dann ein Segen von Heinz Bensberg

Am 21. Dezember 1333 wurde Weidenau erstmals urkundlich erwähnt und zwar unter dem Namen Wydenouwe und 1441 unter Wydenauw. Auf Siegerländer Platt wurde Weidenau als Wirenau bezeichnet. Zusammen mit den Ortsteilen Buschgotthardshütten, Fickenhütten, Haardt, Meinhaardt, Münkershütten, Müsenershütten und Schneppenkauten bildeten diese Gemeinden Jahrhunderte lang einen Schwerpunkt von der Eisenindustrie und dem Bergbau.

Durch den Erlass des deutschen Kaisers Wilhelm II. wurde 1888 festgelegt, dass alle Ortsteile den Namen Weidenau führen sollten. Am 10. Mai 1939 bekam Weidenau durch den Oberpräsidenten der preußischen Provinz Westfalen ein Wappen verliehen. Es war in Silber (Weiß). Ein blauer Wellenbalken ging quer durchs Bild und stand für die Flüsse Sieg und Ferndorf. Über dem blauen Balken war in der Mitte ein roter Hochofen mit schwarzer Öffnung. Links und rechts davon je drei rote Werkshallen. Unter dem Balken war eine bewurzelte Kopfweide mit rotem Stamm und acht grün beblätterten Zweigen, die für die Ortsnamen standen.

1955 bekam Weidenau die Bezeichnung Stadt von der NRW Landesregierung verliehen. Hier lag kein Gnadenakt eines Kaisers, keine Auswertungen landesherrlicher Spannungen oder wirtschaftliche Interessen eines Fürsten, wie bei den drei älteren Siegerländer Städten Siegen, Hilchenbach und Freudenberg, vor. Ab 1. Juli 1966 gehörte der Ort zur Stadt Hüttental, die am 1. Januar 1975 im Rahmen der kommunalen Neugliederung nach Siegen eingemeindet wurde. Bei der Eingemeindung nach Hüttental hatte Weidenau eine Fläche von 7,07 km² und über 16.000 Einwohner. Somit lebten 2.273 Personen je km² in Weidenau.

Vor der ersten Besiedlung im Weidenauer Raum gab es eine große sumpfige Fläche des Ferndorf- und des Siegtales. Diese Flüsse waren seinerzeit noch ungezähmt und gruben sich wohl zur Regenzeit und nach der Schneeschmelze auch ab und zu ein neues Bett. Auch die Hüttenleute, die durch Schlackenvorkommen im Weidenauer Raum nachweißbar waren, wurden noch nicht Herr über diese Wassermassen. Denn das früheste Abgabenverzeichnis, das um 1300 anzusetzen war, erwähnte in Weidenau nur vier sehr bescheidene Bauernhöfe. Noch 150 Jahre später 1461 erschienen erst 12 Zahlungspflichtige in Weidenau, unter denen sich drei Pächter von größeren Hofgütern befanden. Es waren 1. der landesherrliche Hof, 2. ein kirchlicher Hof auch Spitalshof genannt da er dem Hospital in Siegen gehörte und 3. der adlige-wildenburgische Hof.

Die Spuren jener Menschen die einst als die Ersten Land von den Ufern von Ferndorf und Sieg abrangen, was sie für die Erhaltung ihres Daseins benötigten, verlieren sich im Dunkel der Vergangenheit. Erwähnenswert ist noch, dass bei der Einmündung in Weidenau, wo sich das Wasser der Ferndorf mit der Sieg vereinte, die Ferndorf größer war und mehr Wasser brachte als die Sieg. Das Einzugsgebiet der Sieg war bis hierhin 134,2 km² und der Ferndorfbach hatte ein Einzugsgebiet von 153,2 km². Wegen den Städten Siegen und Siegburg sowie dem Siegerland wurde der Name Sieg natürlich beibehalten.

Ein großer Teil der versumpften Talsohle war inzwischen entwässert aber sie blieb im Landes oder kirchlichem Besitz. Die landwirtschaftliche Lage hatte sich wohl kaum verbessert. Denn das Dörfchen war seinerzeit nicht größer als Beienbach oder Feuersbach aber kleiner als Nenkersdorf oder Walpersdof mit 21, Rudersdorf mit 24 und Wilnsdorf mit 28 Steuerzahlern. Niemand hatte damals ahnen können, dass ein vollkommener Wandel in der Entwicklung bevor stand. Was weit über 100 Jahre ein gewaltiges Hemmnis gewesen war wurde nun ein Segen, nämlich der Wasserreichtum.

Man hatte inzwischen gelernt, die Kraft des fliesenden Wasser für die Eisenindustrie durch die Wasserräder zu nutzen. Überall entstanden an den größeren Bächen Blashütten, die Vorläufer der Hammerhütten und Hochöfen. Das Lied der Hämmer zog die Menschen mehr und mehr in seinen Bann. Zu den Weidenauern kamen andere kräftige Männer aus dem Siegerland. Die Blütezeit der Eisenindustrie brach an. Es begann das Wachstum der Hüttendörfer an Ferndorf und Sieg, denn der Mensch hatte es gelernt die Wasserkraft der Flussläufe in seinen Dienst zu stellen. Fleiß, Können und Schaffensdrang der Siegerländer Menschen begründeten die Hammer- und Hüttenblühte von damals.

1417 wurden sie erstmals erfasst. Am Ende des Jahrhunderts gab es im Siegerland 38 Eisenwerke, von denen zehn Stück im Weidenauer Raum waren, nämlich drei Blashütten und sieben Hammerhütten. Dadurch wurde der Weidenauer Raum industrieller Mittelpunkt des Siegerlandes. Als ob diese Ansiedlungen noch nicht genug gewesen wären baute man gegen Ende des 17. Jahrhundert noch ein Hammerwerk in Schneppenkauten. Es hatte aber nicht lange bestanden, da man wegen der Wasserentnahme große Schwierigkeiten hatte.

Auf einer Karte waren alle die unzähligen Gräben von den Wasserläufen aufgelistet. Wenn man die Karte betrachtete dachte man es wäre ein Bild der Grachten von Amsterdam. Durch all diese Gräben waren Ferndorf und Sieg gut entwässert und man konnte dadurch die von Menschen erschaffene Bewässerung der Wiesen gut durchführen. Bereits 1566 wurde in Weidenau ein Wiesenknecht erwähnt. Er stand in den gräflichen Diensten und war für die Bewässerung und Pflege der Wiesen zuständig.

Kurz nach dem Bau der Hüttenwerke entstanden in kurzer Zeit sieben neue Dörfer auf der entwässerten Fläche aber immer noch voneinander getrennt. Damit war der Weidenauer Raum auch der dicht besiedelste des Siegerlandes. Wohlhabende Hammer- und Hüttengewerke zeigten die Steuerlisten des 16. Jahrhundert. Die Kasse des Grafen war durch die Freiheitskämpfe der Holländer geleert worden, so dass er den großen Weidenauer Hof und all seine Hauberge an zahlungskräftige Hammergewerken verkaufte. Zur selben Zeit kam das Siegener Hospital in Geldnöte und veräußerte seinen Grundbesitz in Weidenau. Damit war das linke Ferndorfufer in die Hände der Bewohner von Weidenau gelangt und die Entwicklung nahm seinen Lauf.

1566 hatte Weidenau 266 Einwohner und war damit die drittgrößte Gemeinde des Siegerlandes. Das rechte Ferndorfufer blieb aber im Besitz der Grafen, es war der Hof Füsselbach. Er wurde Witwensitz und hieß von da an Charlottental. Den Hauberg dazu erweiterte Fürst Johann Moritz zu einem Wildpark. Aber auch in Weidenau wuchsen die Bäume nicht in den Himmel wegen den eigenwilligen Landesvätern.  Noch galt der Grundsatz, dass der Fürst und sein Volk eine Religionsgemeinschaft bildeten. So war es auch 1626 als der Katholische Graf Johann der Jüngere seine Untertanen wieder katholisch machen wollte. Bei der Einführung der Revolution 1530 hatte wohl kein Ort des Johannlandes  damals so hartnäckig Widerstand geleistet wie Weidenau. Ja Weidenau wurde der Mittelpunkt des  Widerstandes gegen fürstliche Despotie. Der Fürst führte eine Misswirtschaft und presste quasi seine Untertanen durch untragbare Steuerlasten aus. Die Weidenauer Gewerken waren nicht nur wirtschaftlich unabhängig geworden, sie waren es auch weltanschaulich.

Durch die Festnahme des gehbehinderten Führers Friedrich Flender, konnten die anderen Rebellenführer sich durch einen Sprung über die Ferndorf ins evangelische Land retten. Die Ferndorf war damals so etwas wie der eiserne Vorhang. Friedrich Flender der 1707 hingerichtet wurde,  büste somit sein Eintreten für die Freiheit mit dem Tode. Die letzte Ruhestätte fand er auf dem alten Weidenauer Friedhof, wo die Gemeinde ihm ein würdiges Denkmal errichtet hatte. Aber auch die Pest hatte in den 20er Jahren des 17. Jahrhundert sehr viele Opfer gefordert. Etwa zwei Drittel der Bevölkerung erlagen ihr.

Ab 1743 wurden die Folgen der konfessionellen und politischen Wirren und das massenhafte Sterben langsam  überwunden. Die erste große Fernstraße von Elberfeld nach Frankfurt, die 1770 bis 1780 gebaut wurde, führte durch Weidenau und brachte große Vorteile. Der Absatz der Weidenauer Werke ins Märkische und Niederbergische wurde erleichtert, aber auch der Holzkohlekauf aus dem Olper Land und später die Steinkohle von der Ruhr. Mit 1.100 Einwohner war Weidenau im Jahre 1806, es war der Beginn der französischen Fremdherrschaft, der größte Ort im Lande.

Durch die Neuordnung Europas fiel das Siegerland an den aufstrebenden preußischen Staat. Auch auf dem wirtschaftlichem Gebiet brachte das 19. Jahrhundert  manche Änderung. Neue große Werke entstanden, denn aus den alten Hammerhütten wurden Puddel- und Walzwerke. Auswärtiges Kapital von der Rolands- und Bremerhütte  drohte die Macht an sich zu reisen, aber der Geist der bodenständigen kleinen und mittleren Unternehmen blieb erhalten. Aus bescheidenen Anfängen entwickelten sich die Eisen- und Walzengießereien und eine weiterverarbeitende Blechindustrie von Weltruf.

Die neugegründete Rolandshütte  trug mit dazu bei, denn sie war jahrzehntelang ein Wahrzeichen im Herzen Weidenaus. Die Bedeutung dieser Hütte brachte die Handelskammer in ihrem Jahresbericht von 1867 zum Ausdruck.  Sie schrieb, dass die neuerbauten Hochöfen der Rolandshütte dieselbe Tagesleistung hätten wie die größten Öfen dieser Art in Deutschland und England. Die Einwohnerzahl stieg in den ersten 100 Jahren unter preußischer Verwaltung um das Zehnfache.

Jahrhunderte lang hatte man auf den Hütten nur wirtschaftlich gedacht. Fleißige Arbeit an der Walze, am Puddelofen und im Hauberg, Wiese und Feld standen an erster Stelle. Geldverdienen und sparen wurden ganz groß geschrieben. Gewaltige Schornsteinriesen, mächtige Grubenfördertürme, riesige Schlackenhalden, bekannte Walzengießereien und Fabrikbauten einer leistungsfähigen Blechwarenindustrie bestimmten viele Jahrzehnte das äußere Bild dieser Gemeinde, die sich zu der größten des Siegerlandes entwickeln konnte.

Die Weidenauer Industrie kannte nicht nur Zeiten der Blüte sondern auch die der Krise. Doch die Schaffenskraft der Weidenauer Industrie blieb trotz aller Stürme ungebrochen. Den ersten großen Rückschlag brachte der 30 jährige Krieg mit dem Niedergang der deutschen Wirtschaft. Ganz langsam erholte man sich wieder. Die zweite Krise kam, so merkwürdig es klingen mag, mit dem Bau der Eisenbahnlinie. Große Mengen von Eisenerz wurden aus dem Siegerland in das Kohlegebiet zu den neuen Hochöfen gefahren. Der dritte Rückschlag brachte der erste Weltkrieg mit der großen Inflation und das Sterben der Hütten nahm seinen Lauf.

Durch die günstige Verkehrslage blühte die Siedlung Haardt immer mehr auf und drückte das namensgebende Dorf Weidenau  in den Hintergrund. Post und Bahn trugen ab 1866 den Namen Haardt (Sieg). Trotz aller Bemühungen wurde der Name Weidenau durch Kaiserlichen Erlass vom 21.7.1888 für die zusammengewachsenen Ortsteile festgelegt. Also genau 555 Jahre nach der ersten urkundlichen Erwähnung. Der Grund, dass Weidenau von allen Ortsnamen genommen wurde lag wohl daran, dass es etwa in der Mitte der Ortschaften lag und die älteste war. Knapp 50 Jahre später, nämlich am 1. April 1957, erhielt Weidenau erneut Zuwachs und zwar das nördliche Alt-Buschgotthardtshütten.

Karl Sassmann, der von 1878 bis 1916 Gemeindevorsteher war, hatte gegen großen Widerstand den Erwerb des Bismarckplatzes und den Bau der Bismarckhalle durchgesetzt. Bei seinem Ausscheiden aus dem Amt wurde er Ehrenbürger der Gemeinde. Er hatte nicht nur seiner Gemeinde sondern dem mittleren Siegerland die erste Kulturhalle geschaffen und dazu beigetragen Weidenau zum kulturellen Mittelpunkt des Siegerlandes zu machen.

Das Beitragsbild gehört zu diesem Text und zeigt den Halbachhammer, bereits 1502 in Weidenau erwähnt, 1900 stillgelegt, befindet sich im Essener Museum und die Zeichnung ist von Fritz Kraus 1971.

 

 

Karin von Gymnich schließt THE READER IS PRESENT mit diesem schönen Gedicht zur aktuellen Lage:

 

Auf Straßen und   Plätzen kein Gewimmel,

über uns klarblauer Himmel

ohne Streifen und Abgase.

Es danken  Augen sehr und Nase.

Eltern erfahren jetzt, warum Erzieher klagen,

sie müssen ganztags jetzt die eig‘ne Brut ertragen.

Sie können ihrem Auftrag nicht entflieh’n,

Die Kinder selbst mal richtig zu erzieh’n.

So hat Corona seine guten Seiten,

Vielleicht ein Übungsfeld für spät‘re Zeiten.

Mehr von Barbara Peveling

A45 Eindrücke

THE READER IS PRESENT

Ich glaube die Geschichte von Michael Ende „Das Gefängnis der Freiheit“ habe ich noch als Kind in Südwestfalen gelesen. Sie ist mir nie aus dem Kopf gegangen. Der Erzähler befindet sich darin in einem Raum voller Türen, in dem, so heißt es, er die absolute Freiheit besitzt. Dort kann er sich frei entscheiden, durch welche Tür er gehen möchte. Nun scheint es ihm plötzlich unmöglich, eine der Türen frei zu wählen. Erst als der Erzähler erkennt, dass es keinen Unterschied macht, durch welche Tür er geht, da hinter jeder von ihnen ein ihm unbekanntes Schicksal liegt, verschwinden die Türen und er ist frei. Letztlich, so erzählt er, hat nur der die freie Wahl, der genau die Folgen seiner Entscheidung kennt und das ist unmöglich. Und so ist der, der sich dem eigenen Schicksal fügt, ein freier Mensch. Viele der Beiträge hier vermitteln das Gefühl von Freiheit in dieser Region, vermischt mit dem Gedanken an eine ungewisse Zukunft.

 

Die Heimat neu vermessen von Christoph

Ich bin viel auf den Autobahnen der Republik und darüber hinaus unterwegs. Die vollen Straßen und die vielen Baustellen nerven dabei sehr. Aber jedesmal, wenn ich auf die A45 biege – egal wie weit noch von der Heimat Freudenberg entfernt – ob im Norden bei Dortmund („jetzt sind's nur noch 100km, die sitz ich locker ab“), oder im Süden am Seligenstädter Dreieck („astrein, Bahn meistens leer, die 160km schaffe ich mit Vollgas easy in 1 Std.“) ist die Freude groß. A45 = mein ganz persönliches Synonym für 'Heimat'. Egal, ob es mittlerweile mehr als 3 Dutzend Baustellen und Brückenerneuerungen gibt, oder – wie gerade gestern – wieder ein LKW bei Dillenburg umgekippt ist und eine Vollsperrung zur Folge hat: Selbst die Umleitung durch die heimatlichen Berge macht im Allrad-getriebenen Audi noch Spaß. Aber bitte hier und nur hier, auf keiner anderen Autobahn und in keiner anderen Region empfinde ich so. Geht das wohl dem Ulmer auf der A7 oder dem Oberhausener auf der A3 genauso wie mir?

Sicher, denn das gleiche Gefühl stellt sich ein, wenn ich im kleineren Mikrokosmos mit meinem Cannondale MTB im Wildenburger Land vor der Haustüre unterwegs bin. Jeder Weg und jeder Pfad wird erkundet und bindet mich mental immer stärker an dieses schöne Fleckchen Erde, sofern man sich gut fühlt und Land und Leute mag, wo man unterwegs ist. Die Sieger- und Sauerländer (bin selbst einer aus Elspe) sind ja speziell. Wohl dem, der dies weiß und verinnerlicht. Der kann den 'Locals' nicht böse sein, wenn man freundlich nach dem Weg fragt , oder manchmal einen Unbekannten vom Rad aus auch nur freundlich grüßt und als Antwort teils rüde angeblufft wird – wenn überhaupt eine Antwort kommt. Dann fühle ich ich mich wieder zu Hause.

Gedanken zu Postcorona schreibt Anja

A45: Schon beim Erwähnen stehe ich gefühlt im Stau, in einer der vielen, vielen Baustellen, Normalerweise ist das immer so …!!

Aber jetzt zu Coronazeiten erlebe ich die A45 plötzlich wunderbar leer und das Gefühl im Sonnenschein über die unendlich vielen Brücken mit den schönen Landschaften fahren zu dürfen, stimmt mich versöhnlich mit der ganzen Region. Wir können uns glücklich schätzen mit unseren großen Gärten und der schönen Natur. Positiv Abstand voneinander halten, das Leben umarmen 😎, ist hier momentan nicht schwer.

Und plötzlich kommt dann diese Dankbarkeit in mir hoch, dass ich nicht in einer kleinen Stadtwohnung fristen muss und mich frei bewegen kann…

Ich wünsche mir, dass ich dieses Gefühl noch lange in mir tragen darf, auch nach Coronazeiten, hoffentlich …

 

Für Sonja Sternitzke aus Iserlohn spielt auch die Natur und das Gefühl der Freiheit eine große Rolle:

Heimat ist für mich das Wandern, Gehen, Laufen, Atmen in den Wäldern unserer Waldstadt. Gerade in diesen Zeiten entdecke ich bei jedem Spaziergang neue Wege, kleine Fluchten, neue Ausblicke, erlebe intensive Gedanken oder denke auch mühelos an nichts. Beobachte genauer, fühle mich geerdet und bin trotz dieser Krise frei.

Die waldreiche Umgebung berührt mich immer wieder neu und inspiriert …

der laut der amsel berührt spitzen von grün. steigt empor. hinterher fliegt mein herz. keine möglichkeit zu entfliehen

We’ll meet again von Sabine Hinterberger

Bald.
Bald wieder.
Bald wieder werden wir uns treffen können. Wir stellen, den gelben, den blauen, den roten und den grünen Stuhl nebeneinander aufs Meer.
Wir schweigen, nachdem wir uns alle lange in den Arm genommen haben. Eine gefühlte Ewigkeit haben wir uns nicht gesehen. Wir schauen weiter aufs Meer und Roland lässt Scrabbies Hand nicht mehr los, Scrabbie seine Hand auch nicht. Sie sind endlich wieder zusammen.
Scrabbie, Roland, Max und Henni. Wir sind endlich wieder zusammen.
Bald.
Bald wieder.
Bald wieder werden wir uns treffen.
Ich freue mich auf euch und darauf.

Hartmut erzählt von Sportgeschäften und Corona in dieser Zeit,

„Meine Frau und ich, wenige Tage vor dem 60. und wenige Tage nach dem 61.Geburtstag, radelten heute analog (ohne E-Motor-Unterstützung) von Olsberg nach Usseln über sauerländer und upländer Höhen. Das Ziel war ein kleines Sportgeschäft. Meine Frau liebt Sportgeschäfte. In dieser Corona-Zeit haben wir die letzte Chance vor der Maskenpflicht ab Montag genutzt, noch einmal ohne Gesichtsmaske shoppen zu können. Zum Glück waren nicht viele Kunden im Geschäft. Enttäuscht waren wir darüber, dass diese nicht das Bedürfnis hatten, den vorgeschriebenen Mindestabstand einzuhalten und wir darauf angewiesen waren, allein darauf zu achten.“

 

Auch diese Frau macht sich wichtige Gedanken, zu dem was die Region heute ist und uns nun erwartet

Ist die Luft wieder rein?

Eine Freundin, die vor gefühlten Urzeiten das Siegerland verlies, um in einer weltoffenen und quirligen Großstadt zu leben, sagte mehr als einmal: „Wenn ich nachhause fahre, dann habe ich das Gefühl, ich komme unter eine Dunstglocke“. So ganz genau weiß ich den Wortlaut nicht mehr, aber die Dunstglocke beschäftigt mich seitdem. Seitdem umfasst gut und gerne 25 Jahre. Damals rührte diese Äußerung in mir was an, sie traf ins Schwarze – wobei ich nur eine vage Ahnung von der Beschaffenheit, Größe und Hintergrund dieses „Schwarzen“ hatte. Bei mir löste der Begriff Dunstglocke auch direkt eine körperliche Erinnerung aus. Als Kind wurde ich bisweilen von asthmatischen Anfällen geplagt. Den Zustand diese Anfälle empfand ich selbst immer so also hätte jemand eine Glasglocke über mich gestülpt, die mir die Luft zum Atmen nahm und dieses beängstigende Gefühl der Enge erzeugte. Der Geist vergisst und verdrängt, der Körper vergisst niemals. Glocken, egal ob aus Dunst oder Glas, scheinen die Umwelt zusammenzuschnüren und erdrückend wirken zu lassen. Also könnte die Dunstglocke auch einfach für dieVersinnbildlichung heimatlicher Enge stehen, eben dieser Enge, die junge Menschen spüren, wenn sie dem Ort ihrer Kindheit entwachsen sind.

Möglicherweise könnte die Dunstglocke auch sehr konkret sein. Denn die Luft im Siegerland ist nicht so rein wie sie eigentlich sein sollte oder sein müsste bei all dem Grün. Mir persönlich verschlagen bisweilen die bodennahen Ozonwerte den Atem, ich spüre es direkt, wenn die Luft schlecht wird. Aber Gefühle, Gespür und Intuition sind irrelevant – denn alles muss konkret bewiesen und belegt werden, alles muss einen Sinn haben, muss zu irgendetwas nütze und zielgerichtet sein. Gefühle und Intuition sind nicht greifbar, sind Lichtgestalten, darüber nachzudenken und zu philosophieren ist Zeitvergeudung, führt zu nichts, ist zu transzendent. Bloß nicht zu viel Spiritualität und Muse zulassen, das lenkt ab vom eigentlich Tun. Zeit ist schließlich Geld und jeder ist seines Glückes Schmied, wenn du nicht zurecht kommst, dann bist du selbst schuld, es nicht erlaubt, ein nur so „zu sein“.

Ja, die Luft ist manchmal recht miefig und abgestanden in der Heimat, das ist einem Blick auf die interaktive Luftwertekarte des Bundesamtes für Umweltschutz tatsächlich klar zu belegen.

Leider auch wieder so ein sehr pragmatischer und beweisschwangerer Erklärungsansatz für die Dunstglocke. Aber so einfach ist dieser Fall nicht.

Die feinstofflichen Teilchen, aus denen sich die Dunstglocke zusammensetzt, haben sich über Jahrhunderte herausgebildet und sind von verschiedener Beschaffenheit und Natur. Sie setzen sich zusammen aus der spezifischen historischen Entwicklung der Region, aus religiösen Vorstellungen, aus dem eigenen familiären und sozialen Umfeld, aus rein persönlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen. Jeder Region hat eine eigene, eine andere Dunstglocke und entweder man kommt damit mehr oder weniger zurecht oder man bekommt eben keine Luft. Alternativ kann man sich eine unsichtbare Atemschutzmaske anlegen und dabei hinnehmen, dass die Stimme dadurch gedämpft wird.

Zum Glück ist nichts von Dauer und hat nichts Bestand, auch Dunstglocken nicht: Unsere Dunstglocke ist in den letzten Jahrzehnten sicht- und merkbar von etlichen Schadstoffen gereinigt worden. Umfangreiche Umdenkprozesse, Zuzügler und eine neue Generation haben für frischen Wind und damit für frische Luft in der Heimat gesorgt. Viele reflektierte Menschen haben daran mitgearbeitet, die Dunstglocke zu klären. Sie verweht…

Und ich hoffe, dass sich bei uns keine neue Dunstglocke aufbaut, die das Klima hier vergiftet. Die Gefahr ist groß, atmen wir darum tief durch.

 

Schließlich noch die Erinnerung einer Leserin zu der A45, bevor es Mitternacht schlägt und die „Reader ist present“ Zeit schon wieder vorbei ist:

Wenn ich mich recht erinnere, bin ich vor 30 Jahren zum ersten Mal über die A45 gefahren. Das war kurz nachdem mir von der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze (ZVS) ein Studienplatz in Siegen zugewiesen worden war. Zuerst musste ich übrigens nachschauen, wo dieses Siegen überhaupt liegt und wie ich dahin komme. Die Enttäuschung war groß, Siegen hat mein Herz bis heute nicht richtig erobern können. Vielleicht liegen die Mentalitäten von Rheinländern und Westfalen doch zu weit auseinander.

Das Kürzel der ZVS mutierte unter uns (auswärtigen) Studenten schnell zu der Bezeichnung „Zwangsverschickung Siegen“, der zweite Schnack, den wir uns erlaubten hieß folgerichtig „Frage: Was ist das schönste an Siegen? Antwort: Die Autobahn nach Köln“. Und das war A 45 dann auch für mich. Ein Zubringer, der mich notwendig nach Siegen führte, um mein Studium anzutreten. Fluchtweg, wenn die Vorlesungswoche vorbei war und ich mit dem Auto wieder Richtung Heimat davonbrausen konnte. Irgendwann bin ich dann in Siegen hängen geblieben, Mann kennengelernt, Kinder bekommen, Arbeitsplatz …. Heimat ist es mir trotzdem nicht geworden. Heute ärgern mich an der Autobahn hauptsächlich die Baustellen, sie hindern mich daran, schnell an einen Ort zu gelangen, der mir mehr am Herzen liegt.

Also als Zubringer nah Köln, ins Rheinland, Zubringer in den Süden, dort zumeist nach München. Dabei vermeide ich es, über die sehr hohe Talbrücke Eiserfeld zu fahren, das ist mir unheimlich. Lieber ein paar Kilometer über die Landstraße und dann erst drauf. Vermutlich ist diese Autobahn für das Siegerland und Sauerland ein Segen. Anbindung an große Städte wie Frankfurt oder Dortmund und der Anschluss an die A4, meine Fluchtwege eben.

 

Mehr von Barbara Peveling

A45 Spaziergang

THE READER IS PRESENT

An das merkwürdige Klackern, wenn die Autos über die einzelnen Segmente der Autobahnbrücke rollen, kann ich mich auch noch gut erinnern. Nur habe ich sie in einem anderen Haus, an einem anderen Ort gehört, diese Autos, die unablässig über die A45 brausten, doch vielleicht waren es genau die Wagen, die auch die Ana Regeniter hörte, nur an einer anderen Stelle, aber in derselben Zeit, und nun sind wir beide eingeschlossen, an fernen Orten, die zu Europa hörten oder noch gehören, sie in Manchester, ich in Paris, und erinnern uns an Südwestfalen.

Spaziergang von Ana Regeniter

„Schon seit 15 Jahren lebe ich in Manchester in Nordengland, aber meine Vorfahren kamen alle aus dem Sauerland, aus Arnsberg und der Gegend um Rüthen herum. Vor einigen Jahren stellten wir einen Familienstammbaum auf. Während wir bei der Familie meines Vaters nach wenigen Generationen nicht weiter kamen, konnten wir die Vorfahren meiner Mutter bis ins 16. Jahrhundert verfolgen. Sie waren nicht viel herumgekommen – bis auf wenige Ausnahmen hatten sie in der unmittelbaren Umgebung von Rüthen gelebt. Wenn ab und zu der Name eines Ortes auftauchte, den ich nicht gekannt hatte, Kellinghausen zum Beispiel oder Eickhoff, dann hatte sich jedes Mal schnell herausgestellt, dass es sich um eine Siedlung nur wenige Kilometer von Rüthen gehandelt hatte. „Ein Westfale lässt sich nicht gern verpflanzen“, hatte meine Großtante früher öfters gesagt. Gestern begegnete ich aber hier in Manchester genau so einem Westfalen, der vor zweihundert Jahren in einem Haus in der Hagener Innenstadt geboren worden und dann mehr oder weniger zufällig in Manchester gelandet war.

Ähnlich wie in Deutschland dürfen wir in England während der jetzigen Ausgangssperre jeden Tag einen kurzen Spaziergang machen. Die Regeln lassen ziemlich viel Freiraum für Interpretation – man soll eigentlich nur aus dem Haus, wenn es wirklich nicht anders möglich ist, darf aber für Spaziergänge mit dem Auto anfahren, solange der Spaziergang deutlich mehr Zeit in Anspruch nimmt als die Anfahrt. Man darf sich sogar zum Ausruhen auf eine Bank setzen, aber nur, wenn man vorher schon länger gelaufen ist – ein kurzer Spaziergang speziell zu einer Bank ist hingegen streng verboten.

In den letzten vier Wochen haben wir uns fast ohne Ausnahme an diese Regeln gehalten und waren nur im Vernon Park um die Ecke von uns unterwegs. Manchmal gehen wir im Uhrzeigersinn über das Parkgelände, machmal gegen den Uhrzeigersinn.  Manchmal laufen wir auf dem Pfad unter den alten Buchen, die gerade ausgeschlagen sind und in einem wunderschönen Grünton leuchten, manchmal laufen wir auf dem Wiesenweg, um möglichst viel Sonne zu tanken. Ich kann mich an keinen Frühling in Nordengland erinnern, in der der Himmel so oft so sattblau strahlte wie in diesem.

Gestern habe ich die Regeln zum ersten Mal gebrochen und habe mich auf eine Fahrt aufgemacht, die nicht wirklich nötig war. Ich hatte eine schreckliche Sehnsucht nach Weite – nach der Freiheit, einfach ins Auto zu steigen und irgendwo hin zu fahren, nach Meer, nach etwas Neuem. Bis zur Küste sind es von Manchester aus immerhin noch 80 Kilomter, also fuhr ich stattdessen zu den Salford Quays, dem alten Binnenhafen der Stadt, von dem aus man das Meer schon ein bisschen ahnen kann. An dem weiten Hafenbecken wehte eine starke Brise und über mir kreisten Lachmöwen, deren Geschrei die unglaubliche Stille zerbrach, die sich in den letzten Wochen über das Land gelegt hat. Kein Flugzeuglärm, kaum Autolärm mehr, und selbst das Gezänk der Betrunkenen am Freitagabend blieb nun aus.

Ich lief entlang des Wassers, immer weiter und weiter, vorbei an dem glänzenden Glasgebäude der BBC und dem scherbenförmigen Bau des Imperial War Museums. Kaum jemand war unterwegs, und mich überkam das gleiche Gefühl von Leere, dass mich als Kind in Deutschland immer an Sonntagnachmittagen überkommen hatte, wenn die Zeit stehengeblieben und sich beim Blick aus dem Fenster nichts zu bewegen schien. Bald ließ ich die die teuren Luxuswohnungen der Salford Quays hinter und mir und erreichte einen Teil der Stadt, an dem die Gentrifizierung gänzlich vorbeigegangen war. In den Vorgärten der kleinen Reihenhäuser lagen leere Bierdosen, der rote Putz schälte sich ab wie die Haut nach einem Sonnebrand. Mein Ziel meines heutigen Spaziergangs war der Weaste Cemetery, ein Friedhof, der früher zur Zeit Königin Victorias für die reichen Industriellen angelegt worden war. Am Eingang warf ich einen Blick auf das Notizbrett, das an einem knorrigen Ahorn befestigt war. Beerdigung für eine Leiche über 18 Jahren £ 970, Leichen von 16 bis 17 Jahren £ 250, unter 17 Jahren kostenlos. £ 260 extra für Beerdigungen an Wochenenden und Feiertagen. Nicht weit von hier im Industriegebiet Trafford Park war letzte Woche eine Lagerhalle in eine Leichenhalle umgebaut worden, weil die vielen Opfer des Coronavirus nicht mehr schnell genug beerdigt werden können.

Es dauerte eine Weile, bis ich Karl Halles Grabstein fand. Auf einer von Flechten grünlich gefärbten Säule war eine Büste gemeißelt, die einen vornehmen, ernsten Mann im gehobenen Alter zeigte. Neben seinem Geburts- und Sterbejahr erfuhr man nichts Weiteres über den Mann, der als Karl Halle in Hagen geboren worden und 76 Jahre später als Sir Charles Hallé in Manchester gestorben war. Karl Halle ist heute in Deutschland so gut wie vergessen. In seiner Heimatstadt Hagen steht auf dem Johannisplatz eine Statue von ihm, aber anders als in Manchester, wo das heimische Orchester und einige Straßen und Plätze nach ihm benannt sind, kennt ihn kaum noch jemand. In der Stadtbibliothek von Manchester hatte ich vor kurzem eine Biografie über ihn ausgeliehen.  Ich hatte gelesen, wie er am Johanniskirchplatz aufgewachsen war, gleich neben der Kirche, in der sein Vater als Organist tätig war, und schon mit drei Jahren Klavierunterricht bekommen hatte; wie er sich als Achtjähriger eine schwere Augenkrankheit eingefangen hatte, wegen der er wochenlang nicht sein verdunkeltes Zimmer verlassen durfte, in dem aber zum Glück ein Klavier stand, auf dem er um der Leere und der Langeweile Einhalt zu gebieten Stunde um Stunde übte.

Ich las, wie er mit 17 Jahren nach Paris gezogen war und dort bald erste Erfolge als Musiker verbuchte und mit Komponisten wie Frédéric Chopin und Franz Liszt zusammenarbeitete, aber zehn Jahre später wegen der Französischen Revolution nach England fliehen musste, erst nach London und dann nach Manchester, wo er sich schließlich niederließ und zu einem der einflussreichsten Musiker im England des 19. Jahrhunderts werden sollte. 1858 gründete er das Hallé-Orchester, das noch heute als eines der besten Ensembles Großbritanniens gilt, wurde von Königin Victoria zu ihrem geliebten Osborne House auf der Isle of Wight eingeladen und später wegen seiner Verdienste um das englische Musikleben sogar zum Ritter geschlagen wurde. Hatte Halle sich in Manchester wirklich zu Hause gefühlt oder hatte er sich oft nach seinem heimischen Westfalen gesehnt? Elf Jahre vor seinem Tod machte sich Karl Halle ein letztes Mal auf eine Heimreise nach Deutschland auf und besuchte seine Heimatstadt Hagen.  Am 22. Juli 1884 schrieb Halle von Hagen aus an eine seiner Töchter:

„Ich bin noch immer hier. Nachdem mein Gepäck gestern Abend schon zum Bahnhof gebracht worden war, fühlte ich mich, als ob ich mich nicht losreißen könne, und sandte B., um meinen Koffer wiederzuholen. Ich werde nie jemandem auch nur einen Hauch davon vermitteln können, wie ich mich hier fühle, von dieser riesigen Sehnsucht nach der Vergangenheit und all den lieben Gesichtern, die alle entschlafen sind… Ich denke wirklich manchmal, dass ich glücklich wäre, wenn ich wieder richtig hier leben könnte, also kannst du dir vielleicht vorstellen, dass es mir schwerfällt, zu gehen.“

Seine Mutter war in diesem Sommer in Hagen verstorben, und Halle hatte von nun an keinen Grund mehr, Westfalen zu besuchen. Noch ein einziges Mal reiste er noch zu seiner Schwester, die später zu ihm nach Manchester zog. Dann sah er seine Heimat nie wieder.

Ich stand lange an seinem Grab und dachte über das Heimweh nach und sagte die Namen der Orte, die ich seit der früsten Kindheit immer wieder gehört hatte, auf wie eine Litanei – Meschede, Anröchte, Erwitte, Affeln. Schwerte, Holzwickede, Meiste, Brilon. Ich wohne schon so lange in England, dass Deutschland mir in vieler Hinsicht fremd geworden ist. Als mein Vater, der das Sauerland über alles geliebt hatte, vor zwei Jahren verstarb, habe ich mich auf eine Wanderung von der Ruhrquelle entlang der Ruhr zurück in meine Heimatstadt Schwerte aufgemacht. Es war die letzte Oktoberwoche und ich wollte an Allerseelen zur Grabsegnung sein Grab erreichen. Es war merkwürdig, durch Orte zu laufen, die meinen Eltern und Großeltern so viel bedeutet hatten, die mir selber aber fremd waren. In Arnsberg machte ich in der Propsteikirche Halt, in der schon meine Urgroßmutter Johanna getauft worden war, saß neben eben dem Taufstein, in den sie als kleines Kind getaucht worden war, und lief den steilen Weg zur Burgruine hoch, den sie und ihre Eltern vor ihr sicherlich etliche Male erklommen hatten. Aber wirklich zu Hause hatte ich mich dort nicht gefühlt, genauso wenig, wie es sich wie ein Nach-Hause-Kommen angefühlt hatte, als ich nach einer Woche das Haus in Schwerte, in dem ich aufgewachsen war, erreichte. Erst nachts – da hatte ich in meinem alten Kinderzimmer gelegen und zugehört, wie die Autos auf der nahen Autobahn am Westhofener Kreuz über die Ruhrbrücke donnerten, und es war das Geräusch gewesen, das für mich Heimat bedeutete  – das merkwürdige Klacken, wenn die Autos über die einzelnen Segmente der Brücke rollten, ein Geräusch, das schwer zu beschreiben war und mich sofort in meine Kindheit zurückversetzte.

Und so stand ich hier auf diesem Friedhof in Manchester, hörte zu wie die Amseln an diesem Aprilmorgen trotz allem so tröstend sangen, aber in meinem Kopf hörte ich nichts als das merkwürdige Geräusch der A45, das man so nur nachts im Ruhrtal in Schwerte hören kann, wenn alle anderen Geräusche verstummt sind, und ich bekam großes Heimweh. Und so stand ich noch eine Weile an Karl Halles Grab und sehnte mich wie er nach Westfalen, nickte noch einmal seiner Büste zu, und machte mich dann auf den Rückweg.“

Mehr von Barbara Peveling

A45 KUNST!

THE READER IS PRESENT

Nach der Lyrik erreicht mich die Kunst. Ich denke oft darüber nach, was zuerst da war, bei uns Menschen, der sprachliche oder der bildliche Ausdruck. Vielleicht aber, muss man es auch gleichsetzen, denn Worte bestehen aus Zeichen, Bilder sind Zeichen und Zeichen sind Bilder. Zu dem Ursprung menschlicher Kreativität wurde sich bereits in der Antike Gedanken gemacht und Inspiration auf göttliche Einflüße zurück geführt. Auch die Moderne reflektiert über die Dialektik von Ordnung und Chaos und so schreibt Nietzsche: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern zu gebären“. In der Schule haben wir gelernt, dass die Zeichnungen auf Höhlenwänden aus der Prähistorie Überreste ritueller Handlungen waren. Aber heute wird das zum Glück anders gesehen, und so besuche ich, sofern wir in Frankreich über die A6 oder A7 reisen, mit den Kindern immer die Grotte Chauvet in der Ardeche. Denn Chauvet besuchen, bedeutet, über die Ursprünge menschlicher Kreativität meditieren. In der naturgetreuen Nachbildung werden einem keine rituellen oder primitiven Höhlenmalereien gezeigt, sondern die Besucher:innen entdecken die ersten Künstler der Menschheitsgeschichte.

Umso größer die Freude, heute mit THE READER IS PRESENT die Künstler Südwestfalens entdecken zu dürfen:

 

Albrecht Thomas aus Siegen fabriziert belegte (bebildert/betextet) Würstchenpappen, z.T. mit
versteckten Zitaten.

(Umlauftext, falls auf dem Kopf nicht lesbar:Wann immer seine

Blutsbrüder vom Stamme Elspe es ihm möglich machten, ritt Winnetou

zur Erholung an den Biggesee. Er zerrte das dort in einem Gebüsch

versteckte Kanu Warhols (d.h. Kriegsferien) hervor, ließ es

zu Wasser und pflügte kraftvoll den ruhenden See)

Ferien am Biggesee: Einer aus dem Stamme Elspe

Du willst Dich einmal gut  erhol’n?

Dann fahr zu Bigges Seen.

Vielleicht siehst du die Maid aus Pol’n

Im Wasser Runden dreh’n.

Und hast du dann besond’res Glück,

Es kommt mitunter vor,

Erlebst du dort ein starkes Stück,

Traust weder Aug’ noch Ohr.

Es skullt der große Winnetou

In Warhols Südfruchtboot

Und spricht mit seinem Manitu

Von Kimme, Korn und Schrot.

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A45 LyriX

THE READER IS PRESENT

Wunderbar, wenn die erste Lektüre am Morgen Gedichte sein dürfen!

Vor allem, wo gerade die Dichtkunst in Deutschland es besonders schwer hat, wie unlängst Moritz Asslinger in seinem fabelhaften Artikel  „Der Klang von Muschlkalk“ zu Nico Bleutge schrieb. Den Artikel habe ich gerade erst entdeckt, denn er befindet sich in der aktuellen Ausgabe der BOOKs . Das ist die französische Zeitschrift, deren Monatsabo ich mit auf eine einsame Insel nehmen würde. Denn so würde ich nichts verpassen und könnte trotzdem in absoluter Isolation leben, denn BOOKs gelingt es, jeden Monat die Aktualität der Welt auf den Punkt zu bringen, und das über Bücher! In diesem Monat geht es um Entscheidungsfindung und wenn die Frage auf: Kann man noch als Dichter leben mit dem „Klang von Muschelkalk“ beantwortet wird, dann ist schon alles gesagt und zwar weltweit! Leider kämpft auch BOOKs in diesen „systemgesteuerten“ Zeiten, immer ums Überleben, auch deswegen würde ich im Abo bleiben.

Nun aber weiter mit THE READER IS PRESENT und die poetische Kraft aus Südwestfalen:

 

Hier kommen ein paar Fünfzeiler aus dem Buchprojekt von Bernd Sondermann:

 

Vorbild

 

‚Ne Bäuerin vom Deipenbrink

mal zum Juweliere ging.

Sie liebte die Tiere –

besonders die Stiere –

und wollte auch ’nen Nasenring.

 

Deipenbrink, Deutschland, NW 51° 18’ N, 7° 33’ O

 

Schwungvoll

 

Da war eine Landfrau aus Holte,

per Trecker zum Lover sie wollte,

wollte viel Spaß,

gab zu viel Gas

und unversehens über ihn rollte.

 

Holte, Deutschland, NW 51° 11 N, 7° 45 O

 

Fehlentwicklung

 

Ein Bauernkind aus Kalberschnacke,

das hatte eine echte Macke:

Statt Förmchen und Sand

hielt’s in der Hand

viel lieber frische Hühnerkacke.

 

Kalberschnacke, Deutschland, NW 51° 4′ N, 7° 49′ O

 

Bumm!

Da war ’ne Dame in Werdohl,

die aß zu viel vom rohen Kohl.

Das Kleid sich erst blähte,

bald platzten die Nähte,

und dann war’s das wohl.

 

Werdohl, Deutschland, NW 51° 16 N, 7° 46 O

 

Seniorensport

 

‚Ne Rentnerin aus Wiebelsaatschritt

beim Hausputz rasch zur Tat.

Der Aufnehmer flutschte,

die Rentnerin rutschte

und beherrscht jetzt den Spagat.

 

Wiebelsaat, Deutschland, NW 51° 7 N, 7° 39 O

 

Ein Gedicht zur aktuellen Coronalage schickt Olaf Hähner aus Olpe:

Corona Primavera

wochenlang das Auto

nicht angerührt

die Spatzen werden frecher

und beschimpfen die Menschen

zurecht

suchen die Menschen einen Weg

zwischen ängstlich und freundlich

die Kondensstreifen der letzten

Flugzeuge verblassen ins Blaue, so

dass der Himmel gewinnt.

Mehr von Barbara Peveling