Unterwegs mit dem Narrenschiff

Die Figur des Narren fasziniert die Welt schon lange. Ob Clown, dummer August, Till Eulenspiegel, Joker, Harlekin, die Gesichter des Narren sind vielfältig und haben doch alle die gleiche Motivation: der Menschheit einen Spiegel vorzuhalten.

Das Narrenschiff von Hieronymus Bosch entstand zwischen 1490 und 1510

Einen Spiegel hält uns gerade die Coronakrise vor, sie hat unseren Alltag in einen Narrentanz verwandelt, dank ihr sind wir nun worldwide reduziert auf das Nötigste und das ist nicht mehr viel. Ein paar online Kontakte, die Familie, ansonsten Abstand halten, vor allem in freier Natur. Wir sitzen seit vier Wochen zu Hause und es ist kein Ende in Sicht, gleichzeitig fühlt es sich an, als wäre das schon immer so.

Letzte Woche schrieb mir ein Freund, er würde weiter täglich arbeiten gehen müssen. Jeden Morgen fährt er mit der Bahn in die Institution, dessen Angestellter er ist, plant Veranstaltungen, die wahrscheinlich niemals stattfinden und sagt die bereits geplanten ab. Millionen Menschen sitzen in Homeoffices und versuchen Meetings zu realisieren, um Ressourcen zu planen, von denen niemand weiß, ob sie gebraucht werden, sie erstellen Statistiken, die sich vielleicht nie bewahrheiten werden. Die Gegenwart ist auf unbestimmte Zeit aus den Angeln gehoben.

Meine hat sich inzwischen auf die Quadratmeter unserer Wohnfläche reduziert.

Ich bin erschrocken über diese eigene Wahrnehmung, in der ein geregelter Alltag jenseits der eigenen vier Wände schon als absurde Utopie erscheint.

Als wäre, das Leben von früher, die Welt wie wir sie kennen, nur ein Witz gewesen, eine Idiotie, ein Motor, der ins Leere lief, mit dem Sinn, sich vor allem selbst produktiv zu halten. Eine Wirtschaft, deren Ziel es war, sich ins Unendliche aufzublasen und dabei darauf bedacht war, den Kollateralschaden am Planeten Erde erfolgreich zu übersehen. Diesem absurden Lauf ins Leere hat Corona ein abruptes Ende bereitet und seitdem befinden wir uns im freien Fall.

Oder ist unsere Reise nach Narragonien nur einfach noch sichtbarer geworden?

 

Systemrelevant, ist das Wort der Zeit, und bezeichnet, welche Berufe notwendig sind und welche nicht. Pflegeberufe, Mediziner, Müllmänner, Handwerker, Bankangestellte Reinigungskolonnen in Krankenhäusern und Verkäufer:innen. Der Rest wird nicht mehr gebraucht.

Der Anthropologe David Graeber hat mit seinen Bullshitjobs schon lange darauf aufmerksam gemacht, dass wir eine Gesellschaft der Lächerlichkeit sind, in der Jobs erfunden werden, um mehr zu arbeiten, um ein perfides System anzutreiben, indem es nur darum geht, immer schneller, immer weiter zu kommen. In Wirklichkeit treiben wir ins Leere, treiben die Motoren an, die zu unserem eigenen Untergang führen. Das war für Graeber schon seit der Wirtschaftskrise 2008 klar. Aber die wurde erfolgreich ignoriert, mit immer neuen Schuldenbergen überdeckt, Akten geführt, angesammelt und sortiert, voll mit sinnlosen Tätigkeiten, die ein Wirtschaftssystem erzeugt, das wir gemeinhin Kapitalismus nennen. Die Zeichen für den Untergang haben wir allerdings übersehen.

Corona zwingt uns nicht nur zum Anhalten, sondern auch dazu, genau Hinzusehen.

„Unendlicher Spaß“ schrieb der Ethnologe Thomas Hauschild in der Welt 2016 und stellte dabei die Überlegung an, woher plötzlich die ganzen Clowns auftauchten, die sich damals gerade mithilfe rechtsorientierter Bewegungen weltweit etablierten. Hauschild erinnerte daran, dass Spaßvögel, wie wir sie aus dem Karneval oder von Halloween kennen, dazu dienen, die soziale Ordnung herzustellen, nicht aber, die Welt zu regieren. Heute, nur vier Jahre später, und nicht nur nach Hanau, gehören die rechten Fratzen zum Establishment, sind zum Common Sense geworden. Haben wir den Spaß vielleicht zu weit getrieben?

 

Unsere Welt hat sich extrem schnell und extrem rasant angepasst, was bisher Netflix, Uber oder Airbnb nur virtuell leisteten, schafft nun der Virus in real. Um unsere Finanzmärkte zu schützen, das System am Atmen zu erhalten, haben wir zugeschaut, wie sich ein Virus in unglaublicher Geschwindigkeit auf der ganzen Welt verteilte, ohne uns klar zu machen, dass es unser eigenes Tempo war, mit dem wir das Virus in alle Ecken dieses Planeten geblasen wurde.

Unsere Blindheit, die dafür sorgt, dass wir lieber Billigware von Großkonzernen kaufen, auch wenn für die Produktion, Menschenrechte missachtet werden. Unsere Bequemlichkeit, mit der wir uns lieber nach Hause liefern lassen, und dafür in Kauf nehmen, dass die Umwelt zerstört und Menschen mit Dumpinglöhnen ruiniert werden. Unsere Ignoranz, die uns dazu bringt, Diktaturen zu dulden, die dafür sorgen, dass Menschen, die die Wahrheit sprechen, das Wort verboten wird. Schlimmer noch, wir akzeptieren eine falsifizierte Wirklichkeit, um ruhigen Gewissens zu sein und zu bleiben. Wir halten uns selbst zum Narren.

Hätten wir nur aufgeschrien, als in Wuhan die Whistleblower-Ärzte mundtot gemacht wurden, dann müssten wir uns heute nicht verzweifelt neuartige Schutzmasken auf Amazon aus China bestellen, nur, um damit den den alten Wahnsinn wieder neu in Gang zu bringen

Wir treiben in geistiger Armut und wissen nicht wohin.

Wir sind unterwegs auf dem Narrenschiff nach Narragonien.

Sebastian Brant hat darüber ein Buch geschrieben. Sein Werk wurde 1494 gedruckt und gilt noch heute als eines der großen Werke deutscher Literaturgeschichte.

Der Verleger des ersten deutschen Bestseller kam nirgendwo anders her als aus Südwestfalen, noch genauer aus Olpe. Auch ein historischer Tatbestand, der uns einlädt, die Zusammenhänge zwischen Stadt und Land neu zu denken.

Hier schließt sich der Kreis zu unserer Region Südwestfalen, die sich zwar gern dezent und beschaulich gibt, aber schon früh an dem großen Rad der Kulturgeschichte mitdrehte.

Johann Bergmann, ein Olper, gab das erste bedeutende literarische Werk seit Erfindung des Buchdrucks heraus. Ein Oeuvre, das, „seine symbolische Bedeutung über 500 Jahre hinweg bewahrt hat.“ Das Buch erschien in seiner deutschen Fassung zur Fastnacht 1494 in Basel, verlegt von Johann Bergmann von Olpe, zu der Zeit Dekan am Basler Münster.

 

Das es zur Fastnacht erschien, hatte wohl auch seine unübersehbaren Gründe, wenn wir uns an den weiter oben zitierten Text von dem Ethnologen Thomas Hauschild erinnern.

 

Sebastian Brant war Jurist, Politiker und Poet . Das Narrenschiff war der größte Erfolg in der deutschen Literatur bis zu Goethes „Werther“ und erlebte, vor allem in der lateinischen Übersetzung des Brant-Schülers Jakob Lochner, europaweite Verbreitung.

„Das Narrenschiff ist eine Moralsatire, eine einzige große Ermahnung, die in 112 Kapiteln alle nur erdenklichen Narrheiten der Menschheit, insbesondere die sieben Todsünden, in Versen anprangert“, so der Heidelberger Experte Thomas Wilhelmi.

Jedes Kapitel ist mit einem Holzschnitt versehen, davon einige auch vom jungen Albrecht Dürer, der vermutlich bis zum Pestwinter 1492/93 in Basel arbeitete.

 

Das Narrenschiff ist also ein kritisches Werk der Literaturgeschichte von langer Dauer, das unter dem Eindruck einer Pandemie geschrieben wurde. Zur Fastnacht veröffentlicht, ein Ritus, indem Schrecken und Trauma im Witz gebannt wird, sollte es die Menschheit erinnern, was Wesentlich, was Systemrelevant ist.

 

Der Brant-Spezialist und Germanist, Thomas Wilhelmi, kennt sich aus mit dem Leben des Johann Bergmanns von Olpe. Bergmann war Dekan am Münster, er besaß einige sehr einträgliche Altäre und konnte sich ein stattliches Anwesen auf dem Münsterhügel leisten, seinerzeit das Reichenviertel. Die Herausgabe des Narrenschiffs entsprang mehr literarisch-theologischem, denn finanziellem Interesse. Es ging darum, eine Botschaft zu verbreiten, die bis heute an Zugkraft nicht verloren hat. Intention war, kritisch zu zeigen, was überhaupt relevant ist.

Bergmann, der Name gehörte vielleicht Grubenbesitzern, es könnte sogar sein, dass es sich dabei um die Grube in Rhonard handelt (siehe meinen zweiten Beitrag Bullerbü und Borkenkäfer). Doch das kann nur vermutet werden, denn der Bergbau in Rhonard ist erst ab 1562 urkundlich belegt.

Was wir aber wissen, ist dass wir dieser Region einen großen Verleger zu verdanken haben. Einer, der es verstanden hat, einer wichtigen Stimme seiner Zeit, ein Sprachrohr zu geben, eingebunden zwischen zwei Buchdeckel, ein Text, der uns lesen lässt, was wirklich relevant ist, der uns zum Nachdenken und Weiterdenken auffordert.

Worte eines Autors, der uns aufruft, systemkritisch zu denken.

Hoffen wir, dass unsere Weltgesellschaft noch die Kurve in die richtige Richtung kriegt.

Dass es uns gelingt, jetzt, die Laufrichtung zu ändern, bevor Kafkas Katze uns fängt!

 

Rheinhard Mey hat 1998 ein Lied „Narrenschiff“ heraus gebracht,  hier ist es zu hören.

Der Geschichtsbrunnen in Olpe

 

Die Bilder aus Olpe sind von Magdalena Bechheim, Herzlichen Dank dafür!

Mehr von Barbara Peveling

Alles aus einem Topf

Nicht nur die Südwestfalen aus meiner Geschichte im Beitrag Zur Soziologie der Mahlzeit träumen von Paris, von Austern und Champagner. Der Germanist und Schriftsteller Hans-Josef Ortheil erzählt in seiner Hommage für Roland Barthes, wie er sich letzteres in einer Pariser Brasserie bestellt. Dies geschieht in der elsässischen Brasserie Bofinger, in der Barthes selbst weder Austern und Champagner, sondern Bier und Sauerkraut zu sich genommen hat.

Ortheil reflektiert über diesen Regressmoment des französischen Philosophen, der mit dem Verzehr von Speisen und Getränken, die an seine Herkunft anknüpfen, in die Ursprungskammer der Lebenslinien begibt. Diese Kammern, denen man seine Existenz verdankt.

In der Liebe zur Brasserie ist also nichts anderes als eine atavistische Neigung zu sehen, eine Rückkehr zu den Wurzeln, ein sich Fortträumen in Kindertage, an denen sich das Kind bei den Großeltern an den Tisch setzte.

Auch ich befinde mich in den von Ortheil beschriebenen atavistischen Zustand, als ich Sylviis „Tischlein deck dich“ in Altena das erste Mal betrete. Ein in sich geducktes Fachwerkhaus, ein Lokal wie ein Wohnzimmer, die Tische mit feinen Tischdecken gedeckt, der Geruch von gekochten Kartoffeln, Kohl und Fleisch, ein lächelndes Gesicht hinter der Theke.

Das kleine Restaurant von Sylvia Schmerder wirkt wie ein Lichtfleck im Trist der Arbeiterstadt, die sehr große Abwanderungszahlen zu verkraften hat. In der es Tradition war, dass die Männer in den Kneipen nach dem Schaffen noch was trinken gingen, damit die Frauen sie dann nach Hause holten, bevor der ganze Lohn an der Theke blieb. Dabei wirkt Altena gar nicht so grau und trist, wie sein Ruf.

Die Fahrt durchs Rahmedetal ist sehr schön. Die zwölf Kilometer am Fluss entlang fühlen sich an, als jage mein Wagen durch ein aufgeschlagenes Geschichtsbuch, eine Zeitreise rückwärts. Am Ufer liegen rostige Fabrikgebäude, man könnte meinen, sie wären den Bildern von Bernd und Hilla Becher entflohen, aber dann würde man völlig übersehen, dass hier schon vor tausend Jahren Menschen Eisen und Draht herstellten.

Der Fluss hier hat ältere Geschichten zu erzählen, von drehenden Rädern, die die Blasebalge der Schmiedefeuer und die Fallhämmer in Gang brachten, um das Erz, das aus den Bergen Südwestfalens geschürft wurde, zu schmelzen und zu Eisen zu verarbeiten.

Wovon mögen sie sich wohl ernährt haben, die Schmiede, die sich dort bereits seit dem Mittelalter auf das Drahtziehen spezialisiert hatten? Ihnen diente als Nahrung das, was in der Region zu finden war, der aus dem Mittelmeer eingewanderte Kohl, die aus Amerika kommende Kartoffel, Karotten und das Fleisch vom Hof oder aus den Wäldern.

Landwirtschaft war niemals primärer Produktionssektor der Region, hier wurden von den Männern die Metalle aus den Bergwerken geschafft, während die Frauen Kinder, Haus und Hof versorgten, gemeinsam wurden die Felder bestellt, das Nötigste eben, was zum Leben gebraucht wurde, der Kosmos des Alltags reduzierte sich auf Arbeit, Familie, Nachbarschaft. In dieser Reihenfolge. Und so ist es heute noch.

Die Zeit ist stehen geblieben in Südwestfalen, was vor allem auch daran liegt, dass sie hier niemals gezählt wurde. Als um Dortmund und Essen noch Äcker standen, gab es hier bereits eine frühe Form der industriellen Produktion, und die Industrie gibt es heute noch. Die Region passt sich an, sie produziert immer weiter, ohne davon viel Aufheben zu machen.

Ernährung gehört zu den menschlichen Grundbedürfnissen. Aber Essen, so die Sozialanthropologin Mary Douglas, beinhaltet auch immer eine soziale Botschaft. Es erzeugt Nähe und Distanz, ist Faktor der Inklusion, genauso wie der Exklusion. Und das Lokale ist in der Region wichtig.

„Ohne das“, meint auch Sylvia Schmerder, „ginge es hier gar nicht.“

Die Herkunft spielt eine wichtige Rolle im Verständnis der Menschen. Was der Südwestfale nicht kennt, frisst er nicht? Nicht wirklich, denn die Gerichte im „Tischlein deck dich“, sind zwar vom Lokalen inspiriert, weisen aber eine hohe Qualität auf. Regionale Küche der haut de gamme, sozusagen. Doch es findet keine soziale Hierarchisierung statt. Für Sylvia Schmerder es wichtig ist, alle Menschen in Altena mit ihrer Küche anzusprechen und zu erreichen und so passt sie auch ihr Angebot an die unterschiedlichen Bedürfnisse an.

„Alles in einem Topf“, ist nicht nur ein sehr beliebtes Gericht bei ihr, sondern auch Devise. Überhaupt sind Eintöpfe in der Region sehr beliebt.

Denn sie ist sich bewusst darüber, dass der Stand der Bürger im Teller abzulesen ist, Wirsingroulade für die Reichen, Weißkohlroulade für die arme Bevölkerung. Nicht nur in Indien ist die Nahrung ein Marker für die Positionierung in der gesellschaftlichen Hierarchie. Mahlzeiten, so Mary Douglas, haben auch immer eine ordnende Funktion.

Foto: Dirk Vogel

Im Tischlein deck dich gibt es für alle etwas und alle werden auf dieselbe freundliche Art bedient. Kartoffeln in allen Variationen, über Püree zu Reibeplätzchen bis zum Salat. Leberkäse, Mettwurst, Fleischwurst, Bockwurst, Rind, Kalb, Wild. Alles kommt in den Topf und auf die Teller.

Für Sylvia Schmerder ist Toleranz sehr wichtig. Alle sollen bei ihr satt werden. Und so gehören auch die köstlichen Torten und Kuchen, die sie selbst macht dazu. Überhaupt, macht sie alles selbst.

Die Kartoffeln werden abends geschält und eingelegt, genau wie die Brötchen für die Bouletten. Ab morgens früh steht sie in der Küche um mittags ihre Gäste zu bedienen. Sie serviert täglich zwanzig Gedecke, plus den Mahlzeiten zum Abholen. Bei Sylviis gibt es übrigens kein Einweggeschirr. Wer nicht seine eigene Tupperware oder Kochtopf zum Abholen oder Mitnehmen mitbringt, dem wird ein Topf zum Mitnehmen ausgeliehen und das ohne Pfand. Für die Gründerin ist das Restaurant wie eine Großfamilie, die sie täglich versorgt.

Es ist ein modernes Ein-Frau-Unternehmen und gleichzeitig eine lokale Fortsetzung der Region vertrauter Traditionen. In der zwar noch die traditionelle Arbeitsteilung vorherrscht, mit dem Mann auf der Arbeit, der Frau im Haus, die doch auch nur wieder die große Leistung der Frauen für die Gesellschaft verschleiert. Das Los der Care-Arbeit, verkannt und missachtet. Sylvia Schmerder steht als Gründerin allein hinter der Theke, sie bedient, kocht und macht den Abwasch und den Einkauf selbst.

Früher, erzählt sie, hatte ihre Familie noch den eigenen Garten und die Selbstversorgungskultur der Großfamilie sie entscheidend geprägt.

Auch Roland Barthes entdeckt, wie Mary Douglas, in der Ernährung eine Art der Kommunikation. Ein sozialer Code, der sich entschlüsselt indem er wie ein Zeichensystem dechiffriert wird. Essen ist Mythos des Alltags und transportiert sich im kulturellen Gedächtnis.

Die Selbstversorgermentalität ist den Südwestfalen geblieben, doch auch hier wurde sich angepasst. Statt des eigenen Gartens, wird die lokale Küche bevorzugt.

Meine Mutter hat auch oft von dem Garten ihrer Eltern gesprochen und auch sie hat für uns Kinder aus ihrem eigenen Garten gekocht. Eigentlich hatten fast alle unsere Nachbarn einen. Wenn ich hier Garten schreibe, dann dürft ihr euch nicht ein paar Tomatenstauden und Erdbeerbüschel vorstellen, wie man das heute so aus unseren Vor- und Stadtgarten kennt.

Sondern Salat-, Karotten- und Kartoffelfelder, Kräuterbeete, Tomaten und Paprika, Zucchini, Gurken, eben alles was eine gute Küche so braucht, dazu Rhababerfelder, Stachel-, Him- und Blaubeeren. Apfel-, Birnen- und Kirschbäume.

Ein richtiger Garten eben, zu dem auch Hühner gehören und Schafe, Ziegen, vielleicht sogar Bienen. Mit selbstgemachter Marmelade. Nachhaltigkeit ist in der Region von langer Dauer und keine Modeerscheinung.

Das alles gehört der Vergangenheit an, für Hühner hat heute kaum noch jemand Zeit. Aber bei Sylviis kann man sie noch schmecken. Um einen solchen Garten zu halten, müssen mindestens drei Generationen unter einem Dach leben und zusammenarbeiten. Doch dem steht der große Bevölkerungsschwund eben im Weg. Es fehlt an Kulturangeboten, damit die Region attraktiver wird und zum Bleiben einlädt. Dabei gehört Sylviis Tischlein deck dich definitiv zu einem gehobenen kulturellen Angebot, doch nur, wenn dies aus der richtigen Perspektive betrachtet wird, wenn sich bewußt gemacht wird, dass auch Roland Barthes sich gerne Avitarismus hingab, dass daran nichts negatives ist, neben Austern kann auch Sauerkraut und Kohl bestehen, wie bei der Brasserie Bofinger in Paris.

Sylvia Schmerder, die Gründerin von Sylviis Tischlein deck dich

Foto: Dirk Vogel

Bei ihr werden alle satt, und es schmeckt ganz wunderbar.

Foto: Dirk Vogel

Wenn Corona vorbei ist, dürfen wir uns auf köstliche Kuchen freuen.

Foto: Dirk Vogel

Zur Zeit leider, wegen der Coronakrise geschlossen, doch hoffentlich bald wieder offen!

Die Bilder im Beitrag sind von Dirk Vogel, ganz herzlichen Dank!

 

Mehr von Barbara Peveling

Soziologie der Mahlzeit in Südwestfalen

Eine Einführung

 

Schlausmen, sagt man im lokaken Platt zu Mahlzeit, oder Festmahl. Es gehörte zu der Geheimsprache der Sauerländer, die Handel mit der Grafschaft Mark trieben. Sie waren es, die Holz- und Eisenwaren vertrieben. Das lese ich in Grimmes Erzählung zur Eröffnung der Eisenbahn in Südwestfalen von 1871.

Bei der Eisenbahn, da ist die ganze Region  aus dem Häuschen!

Endlich ist die Region über Eisen, was ja bei ihnen gewonnen und hergestellt wird, mit der Welt, mit Berlin und Paris verbunden.

Zu dieser Gelegenheit gibt es einen Schlausmen, aber dazu keinen Reibekuchen, Grünkohl oder Mettwurst, sondern Austern und Schnecken, genau wie in Paris. Und gegessen wird natürlich auch nicht zu Mittag, wie es sich gehört in der Region, sondern um vier Uhr am Nachmittag, wie das die Franzosen machen. Alle sind glücklich und halten lange Reden, bis auf ein altes Mütterchen, dem das Pfeifen der Lokomotive nicht geheuer ist. Wenn Menschen jetzt den Wind machen, wo kommen wir da hin? Am nächsten Morgen rückt sie mit einem Topf selbstgekochter Mettwurst und Sauerkraut beim Stationsvorsteher an, um die Mahlzeit nach Frankreich zu schicken, wo ihr Sohn Soldat ist. Ihr Hans soll mal wieder was Richtiges zwischen die Rippen kriegen.

Der Bahnvorsteher schickt die Frau weg, die Bahn transportiert doch nur Bestellungen und Briefe und kein gekochtes Essen.

Das Mütterchen entrüstet sich: Was nutzt die ganze Angeberei mit der Eisenbahn, wenn die ihrem Hänschen nicht mal was Ordentliches in den Magen schickt, besser er kommt schnell nach Hause!

 

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Kochen, schreibt der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss in seinem Aufsatz „Das kulinarische Dreieck“ („Le triangle culinaire“, 1965), ist eine universelle menschliche Handlung. Das Dreieck ist die Transformation des Rohen in das Gekochte bis hin zum Verfaulten, angesiedelt zwischen Natur und Kultur, befindet sich Nahrung und ihre Zubereitung in einer ständigen Wandlung. Die Zubereitung der Nahrung ist Kultur und transportiert sich im Geschmack und im Genuss, manifestiert sich im kulturellen Gedächtnis jeder Region als lokaler Eigensinn. So auch in Südwestfalen. Fortsetzung folgt!

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Zeichnungen in dem Beitrag von Lou Peveling, Herzlichen Dank!

Mehr von Barbara Peveling

Iconoclash im Zeitalter von Corona

Unter der heiligen Agatha habe ich früher oft gestanden.

Eine goldene Statue, die auf einem hohen Sockel steht und den Kircheneingang bewacht. Ihren Blick hat sie weder auf die vorbeieilende Gemeinde, noch gen Himmel gerichtet. Sie starrt ins Ungewisse, ihre rechte Hand zur Seite gestreckt, eine unbestimmte Geste, mit der sie die, dort unter sich scheint schützen zu wollen, mit der Linken hält sie das Kreuz vor der Brust.

 

Wenn wir aus der Messe kamen, die Erwachsenen stehen blieben, um sich zu verabschieden, noch ein paar Worte tauschten, ihre sozialen Kontakte pflegten, dann drehte ich meine Runden um die heilige Agatha. Es gab ja sonst nichts. Keinen Spielplatz weit und breit, nur ein Parkplatz auf der anderen Seite, dort ein weiteres Denkmal, der Pannenklöpper, der an das Schmiedehandwerk erinnert, Reichtum der Region. Aber zum Pannenklöpper durfte ich nicht, denn ich musste in Sichtweite bleiben. Also drehte ich Kreise um die Schutzpatronin Agatha, die der Stadt und auch darüber hinaus, in Attendorn schützt sie die Schmiede.

Der Unachtsamkeit von Schmieden ist auch einer der schlimmen Brände zu verdanken, die die Stadt erfahren hat, das war 1634, und wenn man sich klar macht, dass die Region auch Eisenland genannt wird, wird einem klar, warum Schmiede hier so wichtig waren. Bränden fiel die Stadt öfter zum Opfer, zuletzt im zweiten Weltkrieg.

 

Wegen Corona verbringe ich meine Zeit zu Hause und damit im Netz, dabei, Informationen über Krankheit und Quarantäne in der Region Südwestfalen zu suchen. Bis auf Läuse habe ich keine eigene Erinnerung an Zeiten, in denen wir jemals zu Hause bleiben mussten. Meine Mutter erzählt mir von Kinderlähmung, Zeitungsberichte erinnern an den Pockenausbruch vor fünfzig Jahre in Meschede, die ein Reisender aus Pakistan mitbrachte. Die Viren gelangten damals durch das Treppenhaus, den Essensaufzug, infizierten Menschen auch ohne direkten Kontakt.

Pandemie ist ein Zustand, der an Mittelalter erinnert, an Pest, an Hilflosigkeit, an katastrophale Zustände. Das ausgebrochene Chaos, bei dem nichts mehr hilft, außer vielleicht noch Beten. Der schwarze Tod hat auch in Südwestfalen gewütet und gegen ihn gab es für die meisten Menschen keine andere Rettung als den Glauben. Gelübde, Beten, Hoffen.

Als Kind konnte ich die Agatha nie in ganzer Person sehen, so hoch steht die Statue auf ihrem Sockel. Aber die vier Tafeln, die ihre Stele umgeben, waren damals genau auf meiner kindlichen Höhe. Und so lief ich wartend von einer Seite zur anderen, sah mir die Bilder an, war schockiert. Das Verlassen der Kirche nach dem Messegang am Sonntag wurde zum kindlichen Horrortrip. Bilder, heute im Internet für sensible Gemüter zensiert, waren meine Wegbegleiter nach dem Gottessegen. Jede Tafel eine menschliche Katastrophe.

Zu Füßen der Agatha sind Feuer, Wasser, Flucht und Hunger zu sehen.

 

Die Hungertafel habe ich nie vergessen. Die leeren Augen und hohlen Münder haben sich in mein Gedächtnis geprägt, leichter abrufbar als Munchs Schrei und immer verbunden mit einer Angst, die mich als Kind befiel, ob wir wohl verschont bleiben würden, wenn das Unglück kam, die potentielle Wirklichkeit von Krise und Konflikt schien  mir als Kind realer, das Ozonloch wuchs, die Bitterkeit des Krieges stand meiner Großmutter noch im Gesicht, die Berliner Mauer war  Zeichen des kalten Krieges und nicht zuletzt mussten wir wegen Tschernobyl auch mal zu Hause bleiben. Aber das alles wuchs sich dann aus, mit der Zeit verschwammen die Ängste zum von der Erwachsenen bewältigten Kindheitstrauma.

Und ohne die aktuelle Schockerfahrung hätte ich mich wohl auch nicht an sie erinnert. Corona hat die profane Sicherheit, in der man sich in in unserer Wohlstandsgesellschaft sonst befindet, plötzlich und ohne Vorwarnung umgestoßen.

Ich habe lange nicht mehr an die heilige Agatha meiner Kindheit in Olpe gedacht, aber wenn ich heute an sie zurückdenke, dann wird mir bewusst, wie weit sie und ich uns doch in meinem Leben nicht nur räumlich, sondern auch im Bewusstsein voneinander entfernt haben.

Gerne würde ich wieder an sie, oder einen anderen Heiligen glauben, ein Gelübde ablegen, an dem ich mich festhalten kann, bis zum Schluss. Ich könnte sie fragen, wie sie das ganze sieht mit Corona. Aber ich weiß, ich würde keine Antwort bekommen, Agatha schweigt und steht, streckt eine Hand schützend über die Gemeinde und umklammert mit der anderen das Kreuz. Das wird sie tun, solange sie auf ihrem Sockel steht.

Wir sind einander fremd geworden, Agatha und ich. Noch vor wenigen Wochen bin ich dort an ihrer ikonischen Figur selbst vorbei gelaufen, als es noch selbstverständlich war, sich draußen frei zu bewegen, unachtsam und unaufmerksam, was wollte ich schon mit Kirchen und Gedenken, das kam mir überflüssig und unmodern vor. Ich suchte nach mehr, was Besonderem, etwas, das richtig überrascht, der Clash, die Einzigartigkeit, aber bitte keine religiöse Ikone. Und die Bilder zur ihren Füßen, die mich früher als Kind in Angst und Schrecken versetzten, haben mich zu dem Zeitpunkt sowas von gar nicht interessiert.

Das überrascht mich jetzt, weil ich mir bewusst mache, wie aktuell sie doch sind, diese Bilder der menschlichen Plagen, heute noch, die Brände in Australien sind kaum gelöscht, die geflohenen Massen verzweifeln vor Europa, nicht nur die Wege am Rhein sind immer wieder überflutet, aus Angst vor dem Hunger reißen wir uns gerade die Nudelpackungen aus den Händen.

Wie kam es, dass Agatha und ich, oder zumindest das, was die Ikone, ihre bildliche Darstellung transportiert, die Sehnsucht nach Schutz vor Katastrophen, soweit voneinander entfernt haben?

„Das Heilige und das Profane“ so schreibt Mircea Eliade, „bilden zwei existentielle Situationen, die der Mensch im Laufe seiner Geschichte ausgebildet hat.“ Und so frage ich mich, ob es sein könnte, dass ich die Seinsweise, des modernen, areligiösen Menschen, so völlig in mich aufgenommen habe, dass ich nichts mehr von dem spüren konnte, was Eliade als heilig beschreibt, die Entwicklung von strukturell religiösen Symbolen, die universell in ganz unterschiedlichen Gesellschaften zu finden sind, so wie die Präsenz einer Schutzpatronin eben.

Noch vor meinem Studium bin ich aus der Kirche ausgetreten. Es kam mir vor wie eine logische Konsequenz, nach den Jahren in Israel und dann doch wieder zurück in Deutschland, stellte mein Austritt aus der Religion eine gewisse persönliche Ordnung her.

Heute kann ich nicht mal vor die Tür treten, draußen lauert das Coronachaos, und mit ihm der Tod, nicht unbedingt für mich, sondern vor allem für die vielen Menschen, an die ich es weiter geben könnte. Und ich verstehe nicht mehr, wie ich das alles so von mir habe fort halten können, und glauben, dass es nicht mehr möglich sei, vor einer solchen Katastrophe zu stehen, dass eine Krankenversicherung, der Gesundheitscheck, die Altersversicherung, das Arbeitslosengeld, die moderne Gesellschaft, einfach der gesunde Menschenverstand schon dafür sorgen würde, dass hier in unserer modernen Zivilisation schon alles so weiter laufen würde.

Was Eliade suchte, war die vergessene Wahrheit, er wollte, „dem entsakralisierten Menschen von heute die Bedeutung und den Inhalt der traditionellen Schöpfungen enthüllen“. Im Sakralen sieht Eliade die Notwendigkeit aus dem von Menschen Erlebten Chaos eine Ordnung wiederherzustellen, dabei helfen eben Gelübde, Gebete und Rituale.

Warum Fetische zerstört werden, überlegt der französische Soziologe Bruno Latour mit seiner Arbeit zu Iconoclash und hinterfragt damit die Praxis des Ikonoklasmus, Bildersturm, oder einfacher, wie können die weiter existieren, die die bildlichen Strukturen dessen zerstörten, was die Welt solange zusammen hielt.

Du sollst dir kein Bildnis machen, das erste göttliche Gebot bezieht sich auf das Unfassbare jeglicher Existenz, oft als das Verbot jeglicher Repräsentation, missverstanden. Denn ein Bild von etwas haben, bedeutet auch, eine feste Vorstellung von etwas zu haben.

Die Vorstellung vielleicht, dass wir als moderne Zivilisation vor Chaos und Katastrophen geschützt sind, abgesichert in unserem Hightech-Raum.

Für Latour ist die Menschheit nie modern gewesen, Viren, Umweltverschmutzung, künstliche Reproduktion, in alledem sieht er den Fehlglauben des Postmodernen sich jenseits traditioneller Grenzen zu bewegen. Wir haben uns von der Welt lediglich ein falsches Bild gemacht.

Und wenn die Bilder fallen, fallen dann auch wir selbst?

Sind wir verrückt geworden“, fragt sich Latour in seinem Text zu der Ausstellung Iconoclash, die 2002 in Karlsruhe zu sehen war. Die Mediatoren des Heiligen, so Latour, sind fragile, sie werden heute angebetet und morgen zerstört.

 

Mich hat die heilige Agatha für immer verloren, ich kann sie nicht anbeten, kein Gelübde ablegen, um den Schrecken heute abzuwehren, denn daran glaube ich nicht. Doch was Agatha und mich heute näher bringt, ist das Wissen, das ihre ausgestreckte Hand transportiert. Und zwar die Erkenntnis, dass wir Menschen immer schon Katastrophen und Chaos ausgesetzt waren und es weiter sind, und dass wir diese, mithilfe unserer uns eigenen Kreativität überwunden haben und werden. Der Mensch trägt das Chaos in sich, und gebärt daraus neue Sterne, wie Nietzsche schreibt. Unsere Kreativität ist das, an dem wir festhalten können, mit der wir Bilder und Beschützer schaffen, nur um sie wieder zu zerstören, Formeln finden, um sie wieder zu verwerfen, nur vergessen sollten wir nicht, dass dieser ewige Kreislauf aus Fort- und Rückschritt, aus Stirb und Werde, niemals zu durchbrechen sein wird, niemals, bis zum Schluss.

 

 

Wasser, Feuer, Flucht

Die Bilder wurden von Magdalena Bechheim zur Verfügung gestellt, Herzlichen Dank!

 

 

Mehr von Barbara Peveling

Vermessung der Welt

Napoleon in Nordhelle:

Beim Hinauffahren werde ich mit Blitz fotografiert. Dabei war ich gerade so froh, den Dränglern endlich davon fahren zu können. Aber die Drängler wissen eben, wo hier die Blitzer stehen. Jetzt bleibt mir nur zu hoffen, dass das Foto hübsch wird, für den Preis immerhin, kann man doch wenigstens ein schönes Selfie erwarten.

Es ist erstaunlich, wie sehr man sich erst daran gewöhnen muss, in einer fremden Umgebung umher zu fahren, das Klima, die Straßen, alles ist nun eine große Unbekannte für mich, hier in dieser Gegend sitze ich zum ersten Mal selbst am Steuer, und so ist es doch normal, sich dieses besondere Event für die Ewigkeit auch auf einem Foto festhalten zu wollen. Etwas, das bleibt, was man dann mit nach Hause nehmen kann, der Familie zeigen. Schließlich kann man sich nicht selbst im fahrenden Auto fotografieren, dafür gibt es eben Blitzanlagen.

Sich in einer fremden Umgebung zurecht zu finden, fällt leichter, wenn man eine Karte hat, einen Plan, wie überhaupt alles im Leben. Es geht leichter mit Struktur. Dann findet man seinen Weg, und genauso hat das auch Napoleon gesehen, als er die Vermessung Südwestfalens in Auftrag gegeben hat.  Es ging darum, eine topographische Aufnahme des Unbekannten zu erstellen, sich das Fremde auf diese Weise strukturell vertraut zu machen.

 

Man darf es mir nicht übel nehmen, dass ich wieder mit dem französischen Kaiser auch wieder meinen südwestfälischen Großvater ins Spiel bringe, der  ja bekanntlich darauf bestanden hat, dass die Menschen in dieser Region von Napoleon abstammen, dass seine Worte eigentlich kein Spaß, sondern eine Form des kulturellen Gedächtnisses waren, die der Region Südwestfalen zu eigen ist, habe ich erst mit diesem Reisebuch verstanden und es erstaunt mich immer wieder, denn nicht nur an Geschichten und Gedächtnis hat Napoleon uns viel hinterlassen, sondern auch Mittel, um uns in der Gegend zurecht zu finden. Er ordnete die Anlegung von Katastern im Rheinland an.

Angefangen mit der Vermessung der Gegend wurde am höchsten Punkt. Und so hat auch die Nordhelle ihre napoleonische Vergangenheit. Denn sie ist hier der Höhepunkt. Davon zeugt heute noch der Aussichtsturm. An seiner Stelle wurde damals ein trigonometrisches Mal in Form eines stabilen Holzgerüstes gebaut, nachdem es dann später zusammengestürzt war, wurde an seiner Stelle der Robert-Kolb-Turm gebaut, benannt nach dem Initiator des ersten Wanderwegenetzes. Und der steht heute noch da.

Einen Turm ließ Napoleon dort errichten, um mit dem Spiegeltelegraph möglichst schnell Nachrichten übermitteln zu können. Heute ist es der WDR, der hier seine Übertragungsanlage hat.

Sie steht direkt gegenüber des Robert-Kolb-Turms und es ist, als würden die beiden Gebäude in der Weite der Landschaft einträchtig miteinander kommunizieren, oder auch nur darüber nachsinnen, wie still und ruhig es hier ist. Wald und Wälder und sonst nichts.

 

Von dem Turm lässt sich bei gutem Wetter weit über Siebengebirge und Münsterland schauen. Mit 663 Metern ü NN ist dies der höchste Punkt Südwestfalens. Von der Nordhelle bis zu Nordsee gibt es keinen höheren Gipfel. Von hier oben aus lässt sich der Raum Südwestfalen aus der Vogelperspektive betrachten.

Roland Barthes schreibt in seiner Studie über den Eiffelturm: Die Vogelperspektive… ermöglicht es, über die unmittelbare Wahrnehmung hinauszugelangen und die Dinge in ihrer Struktur zu sehen.

Der panoramatische Blick bringt die zerstreuten Teile zusammen und mit einem Mal, lässt sich die Struktur des großen Ganzen, das Gesamtbild erkennen. Die Tätigkeit des Geistes, schreibt Barthes, ausgeübt durch den bescheidenen Blick des Touristen, hat einen Namen: Entziffern.

Die Gegend ist ein dem Menschen zu entschlüsselnder Text. Darin liest sich die A45 wie eine polare Achse durch die gesamte Region. Sie ist das Rückenmark im Koordinatensystem aus Industriekultur, Waldbestand und Flächennutzung.

Eine Landschaft, deren Einzigartigkeit ich mit meinem Notizen schreibend zu entziffern suche.

An regnerischen Tagen wie diesen bleiben Aussichtsturm und die neben ihr liegende Gaststätte geschlossen. Kurz nach meiner Ankunft werden Türe und Tore versperrt und ein PKW braust eilig davon. Er wird mit ziemlicher Sicherheit weiter unten auf Höhe der Radarfalle rechtzeitig abbremsen. Da lässt sich jemand ein schönes Selfie entgehen, denke ich. Planung und Struktur werden hier eben von Klima und Wetter bestimmt. Und das ist gerne wechselhaft. Am besten wissen das die Drängler.

 

Mehr von Barbara Peveling

Bullerbü und Borkenkäfer

Rhonard war immer mein Bullerbü in Südwestfalen.

Die Tage in Rhonard rochen schon beim Aufwachen nach Heu, Stroh, Mist und frischer Milch. Noch bevor wir überhaupt ins Auto stiegen, um nach Rhonard zu fahren, war ich als Kind aufgeregt und ganz besonders glücklich. Dabei gab es eigentlich in Rhonard nichts als eine Straße, bei der man immer aufpassen musste, weil die Autos so schnell fuhren, eine Handvoll weitläufige Bauernhöfe, sehr viele Wiesen, Tiere und Wald. Ich fuhr so gerne nach Rhonard. Denn Rhonard war das Bullerbü meiner Kindheit, nicht nur wegen dem Geruch, sondern auch wegen dem Heu, in das wir krochen, um verstecken zu spielen, Räuber zu jagen oder nach Mäusen zu suchen, wegen den Räumen aus Holz und aus Stein gebaut, so ganz ohne Beton, in denen wir saßen und ungeduldig auf die frische Milch am Abend warteten.

Und nun ist da wieder dieser Geruch, als ich die Autotür öffne und sofort fühlt es sich an wie immer, wenn ich hier in Rhonard war und schon bin ich wieder in Bullerbü und alles ist gut. Ein Auto fährt vorbei, sehr schnell und ohne überhaupt die schöne Buche wahr zu nehmen, neben der ich gerade stehe und die ich frage, ob sie mich noch kennt, sich noch an mich erinnert, wie ich hier war, mit einer einstelligen Alterszahl an Jahren und immer so glücklich und aufgeregt. Die Buche antwortet nicht, sie hat ihre eigenen Sorgen, ein wenig zu viel Moos hat sich auf ihrem Stamm gesammelt, die Winter sind ihr zu warm geworden, aber das ist nichts im Vergleich zu den Fichten, die zur Jahnschaft gehören und die am Borkenkäfer leiden, „wie noch nie“. So stand es 2018 in der Zeitung und da stand auch, dass das Umweltministerium Nothilfen ablehnt. Denn 2018 war ein Jahrhundertsommer, besonders heiß, trocken, mit wenig Niederschlag, Trockenstress für Fichten und für Borkenkäfer leichtes Spiel.

Bullerbü, das war einmal, heute ist der Borkenkäfer da und macht den Menschen das Leben schwer.

 

Die Arbeitswelt des Borkenkäfers, Foto: Susanne Thomas

 

Für viele Waldbauern waren die Fichten die Altersvorsorge, es braucht Generationen, bis ein Baum auswächst, und die, die damals noch Kinder waren, als ihre Väter hier die Bäume pflanzten, sind schon längst nicht mehr da, abgewandert vom Land in die Stadt, da wo es Arbeit gibt. Von ein Dutzend Höfen in Rhonard gibt es heute nur noch zwei, die von der Landwirtschaft leben. Aber Rhonard ist immer noch wunderschön, ein heller Fleck Erde mit viel Licht, das findet auch die Buche und erzählt mir, das Rhonard gerodeter Hard (Bergwald) bedeutet, dass es schon lange hier Menschen gibt, ungefähr im Jahr 1000 n.Chr, Menschen, die schon immer vom Holz und Land leben, wenigstens so lange die Buche da ist und dabei betont sie, wie froh sie ist, dass sie hier immer noch steht.

Und sie erzählt mir von dem Forstschutzgesetz, das 1810 erlassen wurde, um „unabsehbares Leid“ abzuwenden. Die Berge mehrerer Orte wurden zu einer Jahnschaft vereinigt.

Ich staune, da mir klar wird, dass die von Menschen verursachte Rodung kein neues Problem des Klimawandels ist, sondern bereits mit den frühen Zivilisationen entstand.

In Rhonard waren sich die Bewohner sehr wohl der Abhängigkeit zur Natur bewusst, Landwirtschaft stand immer im Mittelpunkt, obwohl es schwer war, seine Existenz aus der Bearbeitung des Bodens zu sichern. Besonders in Zeiten als die Pächter noch den Zins an den Fürsten zahlen mussten. Die Arbeit in der Kupfergrube brachte zusätzliche Einnahmen. In Rhonard befindet sich eine der ältesten Gruben der Gegend.

Auch das alles wusste ich nicht als Kind, es war mir egal.

Du hast mir halt nie wirklich zugehört, beschwert sich die Buche, immer nur gespielt, die Zeit vergessen und alles was sie beinhaltet, das Heute und vor allem das was war.

Früher gab es regen Verkehr in dem heute so verlassenen  Ort an der alten Straße. Die lag nämlich mal am Haupthandelsweg zwischen Siegerland und der Grafschaft Mark. Das Gewerbe von Gaststätten, Fuhrmann und Vorspannbetrieb kam so richtig in Schwung, nachdem Napoleon 1818 die Straße hatte neu bauen lassen.

Ich muss lachen, und als die Buche wissen will, warum, erzähle ich ihr, dass mein Großvater immer behauptet hat, wir würden alle von Napoleon abstammen, ich habe immer geglaubt, das läge lediglich an seiner Leidenschaft fürs Nachbarland, für die Sprache und die Kultur.

Aber vielleicht hatte er gar nicht so unrecht, das wirst du noch sehen auf deiner Reise durch Südwestfalen, die Spuren der Franzosenzeit findest du hier noch überall antwortet die Buche.

Das Gewerbe aus Gaststätten und Vorspanndiensten an dieser ersten Straße in Westfalen gelegen, kam schließlich durch den Bau der Eisenbahnstrecke Ruhr-Sieg zum Erliegen.

Fast schon meine ich die Karren zu hören, die hier früher über die Hügel kamen. Aber es ist nur der Wind, der ein wenig mit den Zweigen spielt.

In Rhonard ist die Zeit stehen geblieben, erklärt die Buche und gähnt, sie ist müde geworden, jetzt läuten auch die Glocken der kleinen Kapelle und so weiß jeder im Land, dass es jetzt schon sechs Uhr Abend ist.

Warte mal, sage ich und laufe den kurzen Weg hinunter, um mir die Kapelle anzusehen. Auch sie sieht aus wie einer Geschichte von Astrid Lindgren nachgezeichnet. Wenn gleich hier Michels Mutter stände, um hinein zu gehen und für ihren Michel zu beten, mich würde es nicht wundern. Herum stehen aber nur ein paar grasende Schafe, die nicht mal aufblicken, als ich vorbeigehe.

 

Schafe von hinten

 

Die Kapelle steht offen, als hätte sie nur auf mich gewartet, oder als gebe es einfach nichts zu fürchten in dieser Welt. Sie wurde 1842 von den Dorfbewohnern gebaut, und als sie 1921 renoviert werden musste, da wurde das von dem Verkauf von Fichten bezahlt. Damals, als der Borkenkäfer noch nicht die Bestände fraß.

 

Kapelle

Besonders schön ist die spätgotische Pieta in der Kapelle, von der unklar ist, woher sie genau kommt, aber sicher, dass sie ungefähr 1460 entstand, auch sie war immer schon da, hier, an ihrem Platz hat, von dem sie über die kleine Gemeinde wacht.

Pieta, Meister unbekannt

 

Auf dem Rückweg zur Buche komme ich am Backhaus vorbei, auch das hat seine Geschichten zu erzählen, genau wie der Mühlstein davor. Überall in Rhonard springt einem die Vergangenheit von Südwestfalen entgegen, so als hätte man ein Geschichtsbuch aufgeschlagen.

Backhaus, hier mit Jesus

Rhonard präsentiert auch alles, was ich meinen Kindern nicht mehr zeigen kann. Der Geruch von den Kälbern unter der Küche. Der Geschmack von frischer Milch. Das Muhen der Kühe, wenn sie darauf warten, gemolken zu werden. Auf Heuballen klettern und herunterspringen. Wenn ich heute will, dass sie mal Landwirtschaft erleben, dann muss ich einen Urlaub auf einem Erlebnishof buchen. Die Idylle eines genügsamen Landlebens hat einem Industriepark Platz gemacht, der von Profitwirtschaft angetrieben wird. Die Menschen sind fort, vor allem die Jungen, das Stadtleben hält sie fest im Griff, die Ballungszentren der Stressgeneration, Klimazerstörung und Gesundheitskiller geben den Takt an.

Was für ein Humbug stöhnt die Buche, das alles hast du dir nur ausgedacht. Bullerbü ist nicht mehr und vielleicht hat es das auch nie gegeben, nur in deinem Kopf, in deiner kindlichen Fantasie, du hast es dir so zurecht gedacht, das Leben für die Menschen, die hier erwachsen waren als du noch klein warst, war doch schwerer als du dachtest. Auflagen, Abgaben, schau dich doch um.

Ein wenig übel nehme ich es der alten Buche, dass sie sich wichtigmachen muss, indem sie mit Humbug Anette von Droste-Hülshoff zitiert.

Aber Recht hat sie, die Buche, noch steht alles, sieht schön und ordentlich aus, doch wenn irgendwann alle fort sind, niemand mehr da ist, dann kann sich auch diese Siedlung zu einem Stück Geisterort verwandeln, dem Verfall überlassen. Sie wird dann nur einer von vielen verlassenen Orten, wie es heute schon so viele gibt an französischen Landstraßen, wo alles noch zentralisierter ist.

Kinder werden diesen Ort dann nur aus dem Autofenster wahrnehmen, wenn sie in eines der Erholungszentren transportiert werden.

Trotzdem, widerspreche ich, mein Bullerbü existierte mal, ich konnte es anfassen, es war nicht nur eine visuelle Welt, ein Onlinespiel oder ein Film auf Amazon Prime. Ich weiß, wie es sich anfühlt, schmeckt und wie es riecht und das nicht nur in meiner Fantasie, sondern ganz genau in meiner Erinnerung.

Die Buche antwortet nicht mehr, sie lächelt, als wäre auch sie in ihrem Gedächtnis verschwunden.

Ich komme wieder, verspreche ich der Buche und will wissen, ob sie dann auch noch da sein wird.

Das hoffe ich, flüstert sie.

Ein Auto rast vorbei, der Fahrtwind lässt ihre Krone leicht zittern, als würde sie mir noch einmal zum Abschied winken.

 

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