Fehlerjäger

„Mein Deutsch ist perfekt, außer meinen Fehler…“- Gino Chiellino

In der Aachener Buslinie 46, die zum Hauptbahnhof fährt, belausche ich das Gespräch zweier dunkelhäutiger Männer. Sie sind jung, dünn, tragen abgewetzte Jeans. Sie sprechen über einen Film in Youtube, der ihre Flucht über die Balkanroute detailgetreu beschreibt. „Früher uns Leute gut verstehen…“, sagt einer. Der andere nickt: „Ja, jetzt alle denken, wir kriminell…“

Ihre Augen glühen, ihr rudimentäres Deutsch stockt, doch die Sprache ihres Gastlandes scheint sie zusammen mit ihren ähnlichen Schicksalen jetzt zu verbinden, wo auch immer sie herstammen, und was auch immer sie früher gewesen sind.

Wie damals vor 20 Jahren in Augsburg.

„Ich fühle mich wie ein Behinderter, wie ein Sprachbehinderter“, beschwerte sich mein frustrierter Kommilitone aus Helsinki, mit dem ich Mitte der 90er Jahre an der Augsburger philosophischen Fakultät Deutsch als Fremdsprache zu studieren begann. Ich lachte über seiner Ehrlichkeit, auch weil er mir treffend aus der Seele sprach. Ich litt an den gleichen Unbeholfenheiten, den Sprachkrämpfen und Geburtswehen, sich und seine Gefühle und Gedanken nie klar, nie reif in der neuen, schweren deutschen Sprache auszudrücken zu können. Wie ein Erwachsener in Kinderschuhen, versuchte ich die Schritte von sieben Meilen und fiel immer wieder auf die Nase. Ein neugieriges Kind das alles sehen, hören, riechen und erleben will, aber noch nicht einen einzigen perfekte Schritt gemacht hat. Hundertmal fällt das Kind auf den Boden, seine Nase blutet, seine Knie schmerzen, alles schmerzt bis es endlich mal auf dem Beinen steht und läuft und spricht und lacht. Das Kind lernt aus seinen Fehler. Dank seiner Fehlerjäger, die hinter ihm rennen und eifrig, protokollarisch, mit der roten Tinte seine Makel, Mankos und Unvollkommenheit korrigieren. Das Sprachnasenbluten, an dem das Kind, ich, noch leide, sind der Beweis, dass uns die Fehlerjäger wie unser eigener Schatten, noch nicht aufgegeben haben.

 Akzente, konserviert

Meinen Akzent werde ich aber, selbst wenn ich noch so viel versuche, nicht mehr los. Den habe ich Ende der 90er, als ich in Berlin für ein frisch gebackenes Multikulti-Radioprojekt ausgewählt wurde, konserviert. Mein Akzent wurde zu meinem Markenzeichnen. Die deutschen Radiochefs machten sich damals auf die Suche nach mehr „Farbe in den Medien“. Authentizität und Akzente wurden als Chance entdeckt, die deutsche Gesellschaft wollte nach dem Vorbild von Schweden, Holland und England in uns Fremde mehr investieren und von uns und unseren Kulturen lernen. Uns, den Quotenausländerinnen, wurden die Türen in die neuen, offenen deutschen Radioprogramme für einen Augenblick weit geöffnet. Mein brüchiger Lebenslauf passte perfekt in mein neues Glück.

Die Aufträge der deutschen Rundfunkstationen in Berlin, Köln und Bremen flossen mir zu. Mit meinem konservierten Akzent erzählte ich jahrelang meine und tausend Geschichten anderer Aliens aus fernen Welten.

Ich hatte Boden unter den Füßen: Viele Ideen, Begegnungen, Formen, einige Preise, ein Gefühl der Sicherheit, wie früher zu Hause in Sarajevo vor dem Krieg.

Doch eines Tages sah ich einen Schwarzen Schwan. Das Haltbarkeitsdatum meines Glücks war abgelaufen. Die Zeit der sorgfältig erzählten Geschichten sei um, es müsse alles schneller, direkter, billiger gehen, beschließen die neuen Radiobosse. „Wie im Internet!“

Billiges Radio mit luftigen Live-Gesprächen. Möglichst akzentfrei.

Die authentischen Akzente der 90er verkrochen sich wieder unter die Erde, in die U-Bahnen, in Hinterhöfe, in die Busse auf dem Weg zu Bahnhöfen. Sie klangen wie Comedy.

Akzente wurden in den Medien zu komischen Nummern.

Ich konnte nicht lachen, als ein Türke, der in Deutschland aufwuchs, einen „Doofen aus Brasilien“ gab mit seinem unendlich gedehnten „schwaaaouuuuuu.“ Weder ihn noch einen Deutschen, der einen französischen Kochphilosophen nachmachte, konnte ich verstehen und ich fühlte mich nackt und ausgelacht.

Wieder war ich eine Behinderte, eine Sprachbehinderte. Von dem Sender, dem ich als seine Vorzeigepionierin treu wie sein Schatten blieb, bekam ich nur noch selten Aufträge. Meine deutschen Kolleginnen, die auch unter Auftragsverlusten litten, trösteten mich, es sei nicht wegen meines Akzents, sondern wegen meines Alters. Wie wunderbar! Das auch noch!

Welche Chance hat ein älter gewordener Alien im Wunderland, fragt mich jeden Morgen im Spiegel ein hübsches, ein wenig besorgtes Gesicht mit einem  konservierten Akzent aus den 90ern.  Ich ziehe die Augenbrauen hoch, öffne die neue Packung der neuen Collagen-Creme mit Bio-Stempel und fange an, eifrig wie ein Fehlerjäger,  mit beiden Zeigefingerspitzen, um meinen Augenrändern zu kreisen.

„Wer weiß, wozu das gut sein kann“, wiederhole ich  dieses Mantra meiner Mutter, mit der sie uns Kinder mitten im Krieg in die Welt entlassen hat.

„Mein Deutsch ist perfekt, außer meinen Fehler“

Vor dem Spiegel höre ich den frechen Satz meines italienischen Dozenten aus Augsburg, dem Pionier der Emigranten-Literatur, ein Begriff, den er hasst.  Als erster ausländischer Poet und Essayist erhielt er eine Professur an einer deutschen Universität, obwohl er nie gelernt hat akzentfrei zu sprechen und grammatikalisch perfekt zu schreiben.

Ich habe bei ihm studiert und von ihm gelernt: Deutsch als Herausforderung, als Liebhaber, leidenschaftlich, neugierig, offen, mit Charme, Witz und vor allem auf Augenhöhe zu erobern. Von ihm habe ich gelernt „…sich die Fremde nehmen“ – so der Titel seines Gedichtbands…

Er wirkte auf mich wie ein Steppenwolf, ungezähmt, arrogant, empfindsam. Sein Deutsch klang exotisch wie vergessene Lieder aus Kalabrien. Ich verpasste keine seiner Vorlesungen. Als ich zu studieren begann, lehrte Gino Chiellino interkulturelle Literatur an der Universität Augsburg. Er schreibt Gedichte und wissenschaftliche Bücher auf Deutsch. Seine Strategie mit der deutschen Sprache umzugehen, imponiert mir:

„
Es gibt kein größeres Glück, das kann ich sagen, nachdem ich seit 40 Jahren in der deutschen Sprache schreibe, als Glück sagen zu können, ich bin der Schriftsteller in einer Sprache, die ich mir ausgesucht habe und nicht in der Sprache in der ich hineingeboren bin. Es ist ein großes Risiko, man kann scheitern, aber man kann scheitern auch in seiner Muttersprache….“

Um Gedichte oder Literatur schreiben zu können, braucht man eine ästhetische und eine ethische Instanz. Die ästhetische Instanz kann man sich in der Sprache holen in dem man schreibt, es gibt Muster, Modele, gibt es Beispiele. Die ethische Instanz kann man nur aus der Treue zu sich selbst holen. Wenn man zu sich selbst treu ist, riskiert man das, und wenn man etwas riskiert, passt man auf, dass das, was man produziert, in sich stimmig ist. Die Inhalte bitte nicht verraten!“

Seine Einstellung zur Integration bestätigte mich im Gefühl, sich selbst treu zu bleiben:

„Nie auf das Eigene verzichten…Weil…es integriert sich nicht, wenn das Eigene unterdrückt oder aufgegeben wird, sondern wenn man das als eine Möglichkeit der Andersartigkeit auslebt.“

Exotik und Erotik  der Fremde seien die zwei Seiten der gleichen Medaille:

„Exotik hat eine Anziehungskraft, die uns vergessen lässt, was Mühe ist, diese Wiederholung, immer wieder die Wiederholung.  Der Fehler besteht darin, diese kostbare Begegnung billig auszuleben, als ein Abenteuer.“

„Sich die Fremde nehmen“- diese Metapher, ein erotisches Bild, eine Begegnung mit einer unvertrauten Sprache, habe eine erotische Komponente:

„Sie besteht darin, dass sie uns befreit, die eigene Sexualität in einer anderen Sprache auszuleben. In dem man eine zweite, dritte Sprache annimmt, ergibt sich eine Möglichkeit eigene Erotik anders zu erleben. Und wir wissen, dass Erotik in den anderen europäischen Sprachen anders kodifiziert ist. Natürlich kann man mir  als  Italiener, sobald  ich diese Worte: Exotik und Erotik ausspreche, was-weiß- der- Gott- was-alles-nicht unterstellen, aber dann wären wir in einem ganz anderem Klischeebereich…“

Mehr von Slavica Vlahovic

NACKT in Roetgen

Wie gerade von der Mutter geboren, liege ich in Roetgen auf einer grünen Wiese. Nackt. Wie siebenundzwanzig andere wildfremde Menschen um mich herum, die vor hundert Jahren eingeschlafen sind und vergessen haben, aufzustehen – Frösche, die vergeblich auf einen Kuss warten…

Der Anblick der fremden Haut auf den Plastikliegestühlen der Saunalandschaft in Roetgen -, alt, faltig, ohne Spannkraft –  verwirrt mich. Meine Augen wissen nicht, wohin sie schauen sollen. Das linke Auge blickt brav in Richtung der Köpfe, studiert die Falten und Gesichtszüge des Fleisches. Das rechte, freche, das Froschauge, rutscht nach unten, bleibt zwischen ihren Beinen, glotzend: buschige Monster, graue Ungeheuer, die einmal, vor vielen Jahren, ein junges, rosa, zartes Würmchen gewesen sind, unschuldig, verschämt, bevor sie sich auf die Jagd nach rasierten Prinzessinnen, bunten Punks, und toupierten, wilden Irokesinnen gemacht hatten.

 Adams Mutter

Die Sonne strahlt, das fluoreszierte Grün leuchtet, kein Geräusch weit und breit. Nur Dösen, in die Ferne blicken, Augen zu und wegtauchen. Die Welt versinkt in einem träumenden, halbwachen Mittagschlaf. Mit mir. Die dünne weiche Matte unter mir saugt mich ein. Vor mir taucht Adam, mein Urvater, auf.

Wie ein unglückliches Kind in der Kleidung seines älteren Bruders, das nach der Mutter sucht, setzte er sich, müde, erschöpft, verloren, auf eine weise Plastikliege.

Wie ein vom Thron gestürzter König, umfasst er seinen Kopf mit beiden Händen.

Wie die letzte Ahnung, die er nicht aufgeben will, die Zärtlichkeit, Wärme, das Vertrauen des Mutterschoßes zu finden, legt er seinen schweren Kopf, aufgeschraubt auf den wie ein Akkordeon gefaltetem Rumpf, auf die weiche Lehne und schließt die Augen.

Sein blasses Gesicht klebt an dem weißen Plastik wie verwachsen. Er umarmt seinen kahlen Schädel als ob er überlege, ob die Suche nach der Mutter noch einen Sinn mache.

Seine müden Beine, schräg übereinander gekreuzt und sein Unterkiefer, der seine Unterlippe fest beißt, scheinen in jeden Moment engültig zu entscheiden, die Suche nach der Mutter einzustellen, und alles, was er je bis jetzt gesehen, gehört, gerochen, getastet, geschmeckt, gehofft, gedacht hatte, einfach zu vergessen.

Adam schläft ein, nackt, verloren, einsam.

ln dieser gefalteten Position liegt er nun seit genau dreitausend Jahren wie der Frosch, den man vergessen hatte zu küssen, bevor man ihn gegen die Wand geworfen hatte.

Neben dem im Schlaf versunkenem Adam, wacht seine Partnerin, nicht viel jünger als er. Eine schöne Frau. Eva vielleicht. Wenn Eva versucht Adam, den Alten, zu wecken, ohne ihn zu küssen, wechselt er sie im Schlaf aus. Seine Evas werden immer jünger, attraktiver und anspruchsvoller. Leider haben sie immer weniger Lust, wenig Mitgefühl oder Liebe zu Adam, ihm, der immer älter und schlapper wird, zu küssen. Sie liegen neben ihm einsam, unglücklich, drehen ihm den Rücken zu und knurren: er solle endlich mal wieder wach werden, er solle aufhören zu schnarchen, er solle sie nicht weiter warten lassen…

Adam schläft weiter und lässt Evas kommen und gehen. Mit beiden Händen umschließt er seinen kahlen Kopf, immer fester, als ob er auf diese Welt gekommen wäre, allein, um zu üben, sich selbst in Schutz zu nehmen. Um sein Leid und alle Katastrophen zu verschlafen.

 Des Königs neue Kleider

Adam dreht sich nie um. Er will die Zukunft nicht verpassen.

Sein Haar fällt aus in Büschen und fängt woanders an zu wachsen. Ganz wild, wo man es nie erwarten würde. Wo es gar nicht hingehört: in der Nase, in Ohren, auf der Zunge, in der Suppe.

Er sucht nie das Haar in der Suppe. Er isst einfach, alles was er kriegt. Das Essen ist das einzige, was ihm, dem Greis, noch Freude macht.

Seine Freude hat Nebenwirkungen. Sie wächst in seinem Bauch. Wird immer dicker. Wie ein Kind im Bauch einer Frau, die zum erstenmal eine Frucht unter ihren Brüsten spürt, das in siebenundzwanzig Wochen auf die Welt kommen wird, spürt nun Adam die warme Milch in seinem Bauch, eine Mischung aus Lust auf die Mutter, die er nie hatte, und Angst, er könnte es ihr, so wie er ist, nie recht machen und ihre Sehnsüchte nie stillen. Genauso wie er, der Erstgeborene, es seinem Vater nicht recht machen kann, der ihm im Schlaf seine Rippen brach und eine entriss, um ihm daraus eine Frau, die Eva, zu basteln.

Adam schläft.

Seine Mutter – warum gibt es sie nicht? Warum hat er, der Adam, der Erstgeborene, keine Mutter? Was hat sein Vater ihr angetan? Was verschweigt er ihm? Warum fragt ihn keiner nach seiner Mutter? Warum tun alle so, als ob es selbstverständlich wäre, ohne Mutter auf die Welt zu kommen..

Seine Haut hängt wie ein Sack. Seine Augenringe hängen, sein Bauch hängt, seine Hoden hängen. Alles an ihm hängt. Alles um drei Nummer zu groß. Wie damals bevor er die Suche nach seiner Mutter, nach ihrer Umarmung, für immer aufgegeben hat. Wie ein betrogener König, der seinem Vater vertraut hat.

Evas Apfel

Eva liegt neben ihm . wie eine Wachsfigur, die vergeblich bei dem schlafenden Adam nach Halt sucht. Sie spürt das Bedürfnis, sich zu bewegen, frei zu sein, aus dem Paradies auszubrechen.

Sie will, gehört werden, von ihm, ihrem Partner. Er soll verstehen , was sie schmerzt .

Adam liegt neben ihr, mit von ihr abgewandten Rücken und schnarcht. Bevor sie die Sätze, die sie ihm sagen wollte, in ihrem Kopf fertig ausformulieren konnte, war er fort.

Wann wird er seine Augen endlich aufmachen, sie anschauen, ihr ein schönes Wort sagen? Sie küssen?

Die Sonne knallt. Eva im Halb-Sitz-Halb-Liegen-Position hebt den Kopf. Sie knickt ihr linkes Bein in der Mitte, das knochige Knie zieht sie zu ihrer Brust, umarmt es mit beiden Händen, ganz fest, als ob ihr drei Tausend Jahre und ein Tag langes Warten auf ihn, einem einfühlsamen Partner, in diesem Moment aufgbe. Ihr Blick wandert über die grüne Wiese, das kochende Plantschbecken, in dem das nackte faltige Fleisch einer fülligen Dame vor sich hin schmort, und landet zielstrebig auf dem hängenden Bauch ihres schnarchenden Königs, rutscht ein Stück weiter und bleiben kleben an seinen beiden in grauem Gebüsch zerknitterten Hoden. Eva beißt sich auf die Lippe, in dem Moment fällt ein Apfel auf ihren Kopf. Ihr Stirn faltet sich zu einem Fragezeichen. Der Adam neben ihr murmelt im Halb-Schlaf, er habe Hunger.

„Unterhaltung untersagt!“

 Die Überschrift in der achtzig Grad heißen Edelkristallsauna lese ich atemlos.

Die nackten Menschen, die über und unter mit mir auf den Holztreppen tapfer hocken und hauchen, machen, was sie lesen. Sagen nix.

Die Schrift bittet sie freundlich aber aufdringlich, zu schweigen.

Ich mag keine Befehle und unterhalte mich ernsthaft mit meinen Gedanken.

Nein, ich habe nichts gegen die nackte Wahrheit. Ja, aber ich bin katholisch erzogen.

Ja, wie die meisten hier im Thermalbad, in Roetgen… Aber ich gehe öfter in die Sauna als in die Kirche…

Nackt, nachdenklich und nüchtern marschiere ich, das Kind von Adam und Eva, aus dem heißen, verschwitzten Raum und springe in das kalte Brunnenbecken.

Auf der grünen Wiese mit siebenundzwanzig weisen Plastikliegestühlen suche ich mir dann einen Platz in der Sonne.

Wie von der Mutter frisch geboren, liege ich dort wie alle: unsichtbar, nackt, mürrisch, alleine.

Ich grüße niemanden. Schweigsam beobachte ich die fremden Körper.

Wie eine neue Kollektion der Königskleider.

Wie eine Modenschau, ausgestellt auf siebenundzwanzig weißen Plastik-Thron-Stühlen

Die Nacktheit, ihre, meine, unsere, verbindet uns sofort,

wie Peinlichkeit, der sich keiner entziehen kann,

Wie die neue Verschwörungstheorie kurz vor den Wahlen.

Integriert in die erzwungene Nacktheit, schläft das Kind von Adam und Eva ein und träumt von einer Burka, unter der es sich vor allen diesen nackten Menschen verstecke könnte.

 Bikini in Paradies

Am Frühstückstisch der Hoteltherme sitze ich am nächsten Morgen alleine und studiere die wildfremden Gesichter,

Befreit von der Last ihrer nackten Körper, wirken sie so ausgeschlafen, so völlig normal.

Welches Gesicht gehört aber zu welchem Körper aus der Saunalandschaft? rätsle ich vergeblich.

Welcher Frosch wurde in der Nacht geküsst?

Sie atmen den Morgenkaffeeduft ein, klopfen ihr Vier-Minuten-Frühstücksei, schneiden das Kornbrötchen in der Mitte auf, schmieren Butter und Marmelade.

Die Stille im Frühstücksraum könnte ich mit dem Messer schneiden.

Am Nachmittag sitzen im Restaurant an meinem Stammtisch zwei Katharinas: eine entspannte Bistro-Wirtin aus demNachbarort mit sehr gespannter rosa Haut, die jeden Dienstag ihren Ruhetag hier in der Sauna feiert und eine angespannte IT-Spezialistin aus Los Angeles, die ihre stressige IT-Aufgaben mit dem Familienbesuch in Deutschland zu verbinden versucht. Was ich in Roetgen, dem längsten Dorf Deutschlands suche, wollen die beiden Damen wissen.

„Die nackte Wahrheit!“, gebe ich zu: „Ich erforsche an meiner eigenen Haut, was die Menschen dazu treibt, sich bis zum letzten Kleidungsstück vor wildfremden Menschen freiwillig auszuziehen und stundenlang ohne Pieps nebeneinander herumzuhocken, zu liegen, schwitzen, schmoren. Und so tun, als ob es das Normalste auf der Welt wäre, seine Organe, sein Fett, Falten, die fade Haut, alle Monster, die Schamhaare, Hoden, Titten, wie auf einem Teller zu präsentieren“..

Ich frage,  ob das die wirkliche Freiheit sei? Oder eher die Sehnsucht nach dem verlorenen Garten Eden, dem Paradies, das uns unsere neugierige, ungeduldige, selbständige, rachsüchtige Mutter für immer gestohlen hat?

„Nackt sein – die neue Uniform? Die neue Kollektion der Könige, die wir auf unserer Haut spüren wollen?“, werfe ich meine vielen Dilemma in die Runde.

Die IT Spezialistin Katie aus Los Angeles richtet sich auf, als ob ich ihre Gedanken gelesen hätte, Sie schüttelt   entschlossen ihren Kopf: Es sei alles „Fake“, meint sie.

„Alles Show. Selbstbetrug“.

Nacktsein unter wildfremden Menschen sei alles anders als natürlich, sagt sie. Es sei eine typisch deutsche Erfindung, ihre verkrampfte, wahre Natur hinter der nackten Haut zu verstecken! Das könne sie, als geborene Deutsche, die in 16 Jahre Amerika die wahre Erfahrung mit der Freiheit habe testen können, wohl am Besten beurteilen..

„Die Amerikaner gehen in die Sauna nur im Bikini, sie sprechen aber so frei und laut, wie auf der Straße, im Büro, im Restaurant auch“, sagt sie mit triumphierendem Unterton.

„Wir, die nackten Deutschen, schweigen immer, wie im Grab…“

Katty, die Bistrochefin, deren Klientel, die Dauer-Camper aus Holland, Belgien und Deutschland sind, die ihre Freiheit nach der Pensionierung in Wohnwagen bei Hitze, Regen und Eis ausleben, nickt. Sie fühle sich auch nicht ganz wohl so nackt in der Sauna, ständig denke sie, wie sie in den Augen den anderen wirke, und sie wisse auch nicht, wohin mit ihrem Blick. Im Bikini aber, sei es bestimmt noch schlimmer…

Als die Diskussion um die nackte Haut immer heißer wird, leuchtet bei der IT-Katie das Handy. Ihr amerikanischer Chef sei es, sagt sie, und eine tiefe Falte zeichnet sich zwischen ihren Augenbrauen. Sie fühle sich wie per Mausklick über Kontinenten gesteuert, sagt sie nach dem Gespräch und geht.

Als ich am späten Nachmittag im Bademantel die Sauna wieder betrete, sehe ich über die Wiese in Richtung Plantschbecken zwei junge, schön geformten Körper, ohne ein Gramm Fett in kreischend roten Bikinis, grazil schreiten. Alle Augen kleben an den beiden jugendlichen Rebellinnen. Meine auch.

„Oh Gott, wie still es hier ist…? sagt die eine.

„Wie damals als Gott Adam erschuf“, sagt die andere.

„Ja, bevor er den ersten Fehler machte: Eva aus Adams Rippe zu basteln …“sagt die erste und sie kicheren in dem Garten Eden mit den weißen Plastikliegen…

 

„Regelmäßiges Saunabaden stärkt die Abwehrkräfte, beugt kleinen Erkältungskrankheiten vor, ist Training für Herz und Kreislauf, reinigt die Haut und last but not least bewirkt die vegetative Umstimmung eine einmalige Entspannung, die man nur beim Saunabaden erfahren kann…“

https://www.roetgentherme.de/saunadorf/

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