Ort: Beelen | Datum: Mi, 02.08.2017 und Fr/Sa, 04./05.8.2017 | Wetter: Festivalwetter (von allem etwas und davon viel)
Ich lasse das Fenster herunter. Merkwürdig ruhig ist es hier. Keine schrittfahrende Bulli-Kolonne vor mir. Keine am Straßenrand haltenden Pkw mit vollgestopften Kofferräumen: Schlafsäcke, Panzer-Tape, Dosen-Ravioli. Keine Ordner oder Parkplatzanweiser. Keine bepackten Festivalfans, Dosenbier in Händen, Taschen auf dem Rücken, Zelte unterm Arm. Keine Live-Musik, wummernden Anlagen oder Generatoren. Kein Geruch nach Gegrilltem. Vor dem letzten Hof rechts fegen eine Frau und eine Handvoll Kinder Stroh zusammen.
2 Tage, 2 Bühnen, 20 Bands, über 2000 Musikbegeisterte
Es ist das 24. Krach am Bach Festival in Beelen. Aufbauwoche. Noch zwei Tage, bis das Gelände seine Tore öffnet. Ab hier geht es während des Festivals nur zu Fuß weiter: zur Kasse, zum Zeltplatz am Festivalgelände, zum Einlass oder zum Frühstück. Heute f a h r e ich erstmals am Fliesenstudio Hartmann vorbei. Das Gebäude ist noch das, was es auch die restlichen 360 Tage im Jahr über ist – die Lagerhalle. Sie wird heute aufgeräumt und hergerichtet für den Festivalbetrieb am Wochenende. Bändchen, Programme und Pfandmarken für den Zeltplatz werden dann hier ausgegeben.
Der Backstage-Parkplatz dahinter: eine Wiese, begrenzt von Weidezaun, Maisfeld, Stallwand und Landstraße. Tine holt mich ab. Sie wird mir heute einen Einblick hinter die Kulissen des Festivals geben. Wir gehen durch den Eingang, den am Freitag und Samstag die Bands nehmen. Noch steht hier kistenweise Bühnentechnik. Zwischen ausgeräumtem Pferdestall und Koppel der Backstage-Bereich. Ein Holzsteg, um bei Regen nicht im Matsch zu versinken. Davon abgehend mehrere Pavillons. Gemütlich sieht’s hier aus. Sofas, Palettentische und Lampen mit Fransen, Bierzeltgarnitur, Kicker. Lichterketten und Deko kommen noch. WG-Party im Großformat, könnte man denken.
Vor End das größte Zelt. Tine stellt mir Sarah vor. Sie organisiert das Catering hier im Backstage-Bereich. Mehr als nur Brötchen-Schmieren für etwa 100 Leute in wechselnden Schichten. Sie managt auch die Wünsche der Bands. Das Kurioseste? Tine und Sarah überlegen. Allergien oder Unverträglichkeiten, veganes oder vegetarisches Essen – Standard. Zwei paar schwarze Baumwollsocken, sagt Sarah schließlich. Hier wird alles besorgt, was im weitesten Sinne mit Catering zu tun hat. Am Donnerstag. Großeinkauf. Für das Festival und das traditionelle Nachbarschaftsgrillen am Donnerstagabend.
Von der HIGH HORSE rüber zur WALTZING WANNERUP
Vor dem Cateringzelt beginnt das Festivalgelände. Einige Bauzäune stehen schon. Der Zeltplatz ist bereits abgetrennt. Momentan wird die große Bühne aufgebaut. Alles ehrenamtliche Helfer. Viele kommen aus dem Ort und der Umgebung. Wie Tine und Sarah haben sie sich von ihrer regulären Arbeit frei genommen, um hier beim Festival zu helfen. Dafür erhalten sie freien Eintritt. Aber allein damit, ca. 40 Euro Eintritt, sei der Einsatz auch nicht aufzurechnen, so Sarah. Man will einfach helfen, beim Festival, der Gemeinschaft dabei sein. Überhaupt habe ich den Eindruck, am Festival sind ganz Beelen und Umgebung beteiligt.
Die Einweiser an den Parkflächen stellt seit Jahren der MGV-Concordia Beelen. Auch am Freitag werden der Bulli und ich von einem der MGV-Mitglieder auf eine der Wiesen für Zelte und Pkw gelotst. Neben dem Park- und dem Catering-Team im Backstage-Bereich wären da noch das Kassen-Team, das Camping-Team, die Besetzung der Bierstände, die Stagehands, die Elektronik, Bühnenauf- und Abbau, die MEKs (das Mobile Einsatz Kommando), usw. Insgesamt etwa 200 Personen, schätzen Tine und Sarah. Dazu der Festivalausschuss, bestehend aus ca. 25 festen Helfern und Helferinnen, die zum Teil seit Beginn, zum Teil seit einigen Jahren dabei sind.
Das Team ist in den 24 Jahren Krach am Bach gewachsen. Auch dank der Musik. In den letzten Jahren hat sich der Schwerpunkt vor allem der Headliner in Richtung Stoner Rock verlagert. Was im achtköpfigen Musikausschuss irgendwie Konsens war, was selbst gern gehört wird, erklärt mir Tine. Ansonsten nach wie vor Spartenvielfalt: Postrock, Hardrock, Punk, Prog, Psych, Doom, Blues. Ein Rezept, das ankommt. Seit drei Jahren in Folge ist das Festival zum Auftakt ausverkauft. Dieses Jahr sogar erstmals bereits zwei Wochen im Voraus, keine Abendkasse.
„Und auch am Ende heißt es wieder, was übrig bleibt, geht an Menschen, die wenig haben, aber umso mehr benötigen.“
Schon von Beginn an wurde das Krach am Bach als Benefiz-Festival geplant, erklärt mir Klaus am Samstag im Backstage-Bereich. Zwischen einem Interview und dem Verabschieden von The Brew. Er ist seit der ersten Stunde dabei, beim Krach am Bach e. V. Der Erlös des Festivals geht jedes Jahr an gemeinnützige Vereine und Institutionen aus Beelen und dem Kreis Warendorf. Überwiegend regional und projektgebunden. Zu dem festen Kern von Empfängern treten jedes Jahr auch neue Projekte hinzu, da ist das Team offen für Anfragen.
Freitags, wenn alles steht, bevor das Festivalgelände offiziell öffnet, gibt es einen kleinen Sektempfang für alle Helferinnen und Helfer, die gerade eine Hand frei haben. Als ich Freitag für mein Bändchen an der ehemaligen Lagerhalle in der Schlange stehe, sehe ich im Hintergrund eine noch nicht ganz geleerte Flasche stehen. Und muss grinsen.
Nach dem Festival wird noch eine Party für all die helfenden Hände ausgerichtet. Dazwischen: das große Ausschlafen. Als ich Samstag gegen neun zu trommelndem Regen wach werde, sind Sarah und Tine schon wieder backstage auf den Beinen.
Wie seine Besucherinnen und Besucher war auch das Line-Up des diesjährigen Krach am Bach in Beelen bunt gemischt und international. 20 Bands aus Europa, den USA, Kanada und Australien. Eigentlich müssten dem Line-Up aber noch 200 weitere Namen hinzugefügt werden: die aller ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer aus Beelen und darüber hinaus, ohne die hier nur ein paar Wiesen und Stoppelfelder zu sehen wären.
Stellvertretend stehen hier die beiden, die mich mit hinter die Kulissen genommen haben: Christine Feuersträter und Sarah Austermann. Nächstes Jahr wird das Krach am Bach dann ein Vierteljahrhundert alt. Auf ein Wiedersehen!
Zehn Momentaufnahmen vom Krach am Bach 24
Aufschrift auf einem Zelt unweit des Festivalgeländes: „Camping ist ein ZUSTAND, in dem der Mensch seine eigene Verwahrlosung als ERHOLUNG begreift. – Thomas Hobbes“
Nebenan wird mit einem Autoreifen Flunkyball gespielt.
Die Durchsage auf der Hauptbühne: Bei den Fundsachen an der Kasse ist ein Jack-Russel-Terrier abzuholen.
Vor dem Auftritt von Soap Bubble Orchestra: fünf junge Männer in gestreiften Bademänteln vor der WALTZING WANNERUP Stage.
Die komplette Besetzung des Bierwagens groovt zu Schildkrötenthomas von Dyse.
Direkt vor mir filmt ein Mann mit seinem Smartphone mit ausgestrecktem Arm über die Menge hinweg zwei Songs von Causa Sui – insgesamt ca. 16 Minuten (er wechselt aber ab und zu die Hand).
Ein Junge, der mit etwa bis zur Hüfte geht, steht in kompletter Ledermontur vor der Hauptbühne und wartet auf den Auftritt von Motorpsycho.
Neben dem Technikzelt der kleinen Bühne tanzt eine Frau barfuß mit geschlossenen Augen zu The Legendary Flower Punk.
Trotz Glasverbots zwei Mülltonnen auf dem Stellplatz: eine für Buntglas, eine für Weißglas.
Zwei Männer schauen sich am Samstag auf dem abgeernteten Feld vor dem Fliesenstudio Arm in Arm den Sonnenuntergang an.
Ort: Zwischen Haus Rüschhaus und Burg Hülshoff | Datum: Sa, 29.07.2017 | Wetter: sonnig und bewölkt, 21°C
Von dem Fenster über den Ställen, links von dem weißen zweiflügeligen Tor, konnte die Droste den Hof überschauen. Ein Schritt ans kleine Fenster, ein Blick hinaus aus ihrem „Schneckenhäuschen“. Wenn Hufschlag oder Kutschengeklapper nahte, die Gräfte überquerte und auf dem Vorplatz zum Halten kam. Noch bevor die Küche unten betreten wurde und Stimmengewirr durch ein weiteres Fenster in ihre Stube drang, wusste sie bereits, wer den Hof besuchte. Heute hätte sie uns auf dem kopfsteingepflasterten Vorplatz beobachten können, wie wir die Fassade betrachten. Eine Begegnung der Blicke.
Vor uns liegt das Rüschhaus mit seinen zwei Gesichtern. Hierhin zog die Droste mit 29 Jahren nach dem Tod ihres Vaters, erzählt mir Jochen. Der Bruder Werner übernahm den Familiensitz und Geburtsort der Droste, die Burg Hülshoff. Das herrschaftliche Wasserschloss. Annette und ihre Mutter sowie ihre Schwester Jenny wurden, letztere bis zu ihrer Hochzeit, in der von Johann Conrad Schlaun gebauten Sommerresidenz sesshaft. Ein Landsitz mit großem Bauerngarten und Obstbäumen. Mit barocker Pracht im Gartensaal und westfälischem Schinken in der Küche.
Die Droste erkundete die Landschaft, machte sich oft auf zur fünf Kilometer entfernten Burg. Nicht mit der Kutsche. Jochen erklärt mir, dass das Rüschhaus keine eigene Kutsche besaß. Für besondere Gelegenheiten wurde eine geliehen. Annette war meist zu Fuß unterwegs. Ich muss an Jane Austens Stolz und Vorurteil denken. Die Droste als Lizzy Bennet mit Rocksäumen voller Erde und Kletten? Ihr Blick auf Natur und Umgebung sind in jedem Fall prägend für einen Großteil ihres literarischen Werks. Auch in ihren Briefen berichtet die Droste immer wieder von ihren Ausflügen. Wer ihr Werk kennt, kann auch heute Bezüge zur Landschaft ausmachen.
Du starrtest damals schon
So düster treu wie heut‘,
Du, unsrer Liebe Thron
Und Wächter manche Zeit;
(Aus: Die Taxuswand)
Libellen zittern über ihn,
Blaugoldne Stäbchen und Karmin,
Und auf des Sonnenbildes Glanz
Die Wasserspinne führt den Tanz;
(Aus: Der Weiher)
Während Haus Vögeding so aussieht, als könnten die Droste und Levin Schücking gleich um die Ecke biegen, um hier zu Rasten und eine Creme aus Gänseeiern zu essen, hat der Hof Hüerländer seinen Standort wegen des Baus der Autobahn seit der Erwähnung in den Briefen der Droste geändert. Hier wird Minigolf gespielt, als wir den Weg entlangkommen. Ein Stück renaturierte Münstersche Aa hingegen könnte sich dem, was die Droste damals gesehen hat, wieder annähern. Als sie dort bei Hochwasser gestanden und abgesehen hat, ob die Überquerung des Flusses auf ihrem Weg zur Burg möglich ist. Ein Raum im Wandel.
Entlang von Weihern, Wiesen und Waldstücken. Stromtrassen, Windkraftanlagen und der Autobahn. Panoramen und Details. Schweifender und fokussierter Blick. Hier wird demnächst auch ohne kundige Führung ein Einblick in Werk und Welt der Droste sowie darüber hinaus möglich sein. Zwischen Gräftenhof und Wasserschloss soll eine Droste-Landschaft entstehen. Ein Raum des Dialogs. Zwischen Landschaft und Literatur. Zwischen Werk und Rezeption sowie der künstlerischen Auseinandersetzung durch Autorinnen und Autoren der Gegenwart. Aber auch mit Blick auf die Veränderungen von Natur und Kulturlandschaft. Wandel und Brüche.
Nahe der Burg überqueren wir einen kleinen Bach. Hier hat zu Zeiten der Droste eine Wassermühle gestanden, die sie mit ihren Geschwistern in der Kindheit oft aufgesucht hatte. Sie haben in der Bruchlandschaft gespielt. Eine unbeschwerte Kindheit, wie in Bullerbü? frage ich Jochen. Na, dann aber doch auch mit einer Portion Jane Austen. Die Droste nahm auf der Burg am Unterricht ihrer jüngeren Brüder teil. Unüblich für die Zeit, aber die Eltern bestanden darauf, dass auch die Tochter gefördert wurde. Nichtsdestotrotz hatte man sich als Anna Elisabeth Franzisca Adolphine Wilhelmine Louise Maria von Droste-Hülshoff zu verhalten.
Wir folgen schließlich dem Verlauf der alten Allee des Anwesens, die auf ein weißes Tor zuläuft. Wenn die Droste-Landschaft fertig ist, wird dieses Tor geöffnet. Heute gewährt es zumindest schon mal einen Einblick in das Dahinter.
Dr. Jochen Grywatsch, Leiter der Droste-Forschungsstelle und Geschäftsführer der Annette von Droste-Gesellschaft, hat mir Einblicke in Leben und Werk der Droste und ‚ihre‘ Landschaft gegeben. Außerdem einen Ausblick in die geplante Droste-Landschaft und den Ausbau der beiden Dichterorte. Haus Rüschhaus in Münster-Nienberge und die Burg Hülshoff in Havixbeck sollen durch die Annette von Droste zu Hülshoff-Stiftung unter der Federführung des LWL zu einem Droste-Kulturzentrum und Zukunftsort Literatur ausgebaut werden.
Die Zitate aus dem Werk Annette von Droste-Hülshoffs sind dem Droste-Portal entnommen.
Das übliche Nachmittagstief. Die Arme der Wasserpflanze schwingen sanft in der kaum spürbaren Strömung. Die Schnecke am Meeresgrund zieht gemächlich ihre Bahn. Muscheln gähnen den Fischen entgegen. Letztere dümpeln im Wasser, bewegen nur leicht die Flossen. Ein Grollen. Der Blick zur Wasseroberfläche: Nichts deutet auf einen Sturm hin. Aber die Strömung schlägt um. Ein Blick in die Ferne: eine Trübung? Bewegung im Wasser. Die Muscheln schnappen zu. Die Schnecke verzieht sich in ihr Haus. Die Wasserpflanze greift krakend um sich. Flossen schlagen schneller. Die Trübung rollt heran, eine Welle aus – Dunkel.
So war das. Oder so ähnlich. Vor etwa 75 Millionen Jahren. Heute stehen wir mitten drin im Meer, auf dem Grund. Uneben von frischem Bruch. Die Werksteinbänke vor uns. Darüber verschiedene Schichten. Tonmergel, taubes Gestein. Etwa zehn Meter hoch ragt es vor uns in die Nachmittagssonne. Oben auszumachen ein paar Gräser und Buschwerk. Wir stehen in einem der letzten aktiven Steinbrüche in den Baumbergen.
Baumberger Kalksandstein. Der Marmor des Münsterlandes. Hierher kamen die Baumaterialien für den höchsten Hof im Münsterland, den wir eben passiert haben, Hof Meier. Und für das Schloss, den Dom und den Erbdrostenhof in Münster. Ohne den Sandstein sähe es wohl in weiten Teilen des Münsterlandes anders aus.
Marmor des Münsterlandes
Wir sind heute die Einzigen hier im Steinbruch. Jupp, 12 Kinder und ich. Etwa acht Kilometer von unserem Startpunkt, dem Bahnhof Billerbeck und dem Bulli entfernt. Es sind Sommerferien. Heute soll der wärmste Tag der Woche werden. Wir stehen im Schatten am Eingang des Steinbruchs. Laut Temperaturanzeige unserer GPS-Geräte wurde die 30°C-Marke soeben geknackt. Neben uns ein übermannsgroßer, feinsäuberlich abgespaltener Kalksandsteinblock. Dahinter geht es weiter bergab. Abraum, gebrochenes Gestein, Berge davon. Beige, gelblichbraun und gräulich.
Relikte aus einem Land vor unserer Zeit
Jupp zieht aus seinem Wanderrucksack die laminierte Abbildung eines Fossils. Ein Fisch, mit allem Drum und Dran. So einen hat man hier gefunden, in den Baumbergen. Ihn hatte das Seebeben überrascht. Weite Teile des Meeresbodens von einer Sekunde auf die andere eingeschlossen. Muscheln, Seeigel und Tintenfische. Unter Jupps Führung gehen wir selbst auf Erkundungstour, drehen Steine um, suchen am Boden, im Geröll. Helle Ablagerungen in der ansonsten dunkleren Bodenschicht. Zerriebene Muscheln. Jupp fährt die Linie mit dem Finger nach.
Der Steinbruch ist auf unserer Wanderung heute nur eine Station. Wir suchen nach Buchstaben. GPS-Geräte weisen uns den Weg durch die Baumberge, das Münsterländer Meer. Immer wieder blaue Fähnchen auf dem Display entlang der Strecke. Entlang von Feldern und Waldstücken. Überwachsene Hügel. Ehemalige Steinbrüche. Schließlich auch spürbar bergauf. Neben einem Meer nun auch noch Berge im Münsterland. Hier irgendwo ein weiterer Zettel, eingerollt in eine kleine Kapsel. Meist irgendwo am Wegesrand. Und schließlich, am Longinusturm, das Puzzlen nach dem Lösungswort. Im Schatten des Turms. Mit Blick aufs Meer.
Josef Räkers ist Diplom-Geograph und für die Baumbergeregion zuständiger Wegewart. Er hat als Projektleiter den Baumberger Ludgerusweg, dessen Verlauf wir heute streckenweise gefolgt sind, konzipiert und umgesetzt. Und die interaktive Schatzsuche mit GPS-Geräten. Kindern und Jugendlichen so die Geschichte der Region und ihre Natur spielerisch nahezubringen ist ihm ein besonderes Anliegen. Im Oktober führt er im Rahmen des Münsterland Festivals durch die Baumberge. Auf der Suche nach dem Meer und dem Marmor des Münsterlandes.
Ort: Zwillbrock | Datum: So, 16.07.2017 | Wetter: bewölkt, 18°C
Rosafarbene Zuckerwatte am Stiel, wie auf der Kirmes. Nur mitten in den See gesteckt, unweit des Schilfgürtels in der Ferne. Kunst? Skulptur Projekte, eine Stunde Fahrt von Münster entfernt? Über allem das Geschrei der Lachmöwen, wenn auch heute verhältnismäßig ruhig, so Bettina. Als wüssten sie, dass Sonntag ist. Da vorn eine Gans, da drei Kormorane, unbeweglich, mitten im Grau. Der Nieselregen setzt wieder ein und ein leichter Wind kommt auf. Da, plötzlich, es muss ein Geräusch gewesen sein. Unruhe auf dem See. Die Zuckerwatte fliegt auf.
Flamingos. Im Münsterland. Nicht im Zoo, nicht im Kino. In freier Wildbahn. Ja, genau. An der Palme links und dann Sandstrand voraus? Nicht ganz. Im Naturschutzgebiet Zwillbrocker Venn, mitten im Lachmöwensee, liegt die Flamingoinsel. Von Strandbar, Cocktails und Sonnenschirmen sind wir hier allerdings weit entfernt. Seit 1982 kommt jedes Jahr eine Flamingokolonie hierher. Um zu balzen, zu brüten und die Küken großzuziehen. Bis es, wenn die Jungen flügge sind, zum Überwintern in die Niederlande ans Rheindelta geht.
Do the Flamingo Dance: head-flagging, marching und wing-salute
Ich bin heute Morgen an der Biologischen Station Zwillbrock verabredet. Mit sieben Kindern und Elternanhang geht es ins Zwillbrocker Venn. Geführt von Bettina. Und Frieda und Fred. Frieda ist ein Chileflamingo. Fred ein europäischer Flamingo. An den beiden kuscheligen Miniaturausgaben können wir die Unterschiede der beiden Arten erkennen. An der Farbe der Beine, des Schnabels und der Augen. Sie begleiten uns auf unsere Expedition. Und finden zeitweise Unterschlupf in Bettinas Tasche, als wir selber erproben, wie die Flamingos zur Balz tanzen. Oder herausfinden, dass sie sehr viel müheloser auf einem Bein stehen können als wir. Beneidenswert.
Wir stoßen entlang des Lachmöwensees auf einen Wasserskorpion, daumennagelgroße Frösche – die Saison hat gerade begonnen – und Moorschnucken. Die Flamingos hingegen habe sich in Richtung Insel verzogen, hinter den Zaun. Der wurde zum Schutz vor Meister Reineke im seichten Wasser aufgestellt. Um die brütenden Flamingos nicht zu stören. Heute dürfen wir, in Begleitung von Bettina, die öffentlichen Wege verlassen und schlüpfen durch ein Tor auf der gegenüberliegenden Seite des Zauns. Der Trampelpfad ist schmal. Als es über einen Steg geht, wird deutlich, dass wir tatsächlich mitten im Moor unterwegs sind.
Seeblick-WG mit Familienanschluss
Neben einer kleinen Holzhütte klettern wir auf einen Hügel. Tatsächlich: Flamingos im Münsterland. Mitten im See. Die sechs Flamingoküken tarnen sich in der Gruppe der Lachmöwen auf der Insel. Ebenso grau-weiß. Überhaupt eine gute Partnerschaft, erklärt Bettina. Denn es müsse eher Flamingoeltern statt Rabeneltern heißen. Naht ein Feind, lassen sie alles stehen und liegen. Auch ihre Küken. Da sind die Lachmöwen sehr viel verteidigungslustiger. Und sie sorgen dafür, dass der ansonsten nährstoffarme See mitten in der Moorlandschaft genügend Futter für die Flamingos und alles, was da sonst so kreucht und fleucht, bereithält.
Woher die nördlichste freilebende Flamingokolonie im Zwillbrocker Venn kommt, weiß niemand genau. Vielleicht aus einem Zoo oder aus privater Haltung entwischt? Eine Vermisstmeldung gab es jedoch diesbezüglich nie, so Bettina. Chileflamingos und europäische Rosaflamingos kommen seit Jahren gemeinsam zum Balzen und Brüten her. Bis im letzten Jahr war sogar ein Kuba-Flamingo dabei. In Zukunft gibt es dann vielleicht den Zwillbrocker Venn Flamingo. Darauf dann einen Cocktail!
Von März bis August kann man mit etwas Glück einen Blick auf die Flamingokolonie im Zwillbrocker Venn erhaschen. Entweder auf dem sechs Kilometer langen Rundweg aus der Ferne, oder, mit einer der geführten Wanderungen des Bildungswerks der Biologischen Station Zwillbrock, von einem näher gelegenen Beobachtungsposten. Zum Beispiel in Begleitung von Bettina und Flamingo Frieda. Bettina Hüning ist Diplom-Landschaftsökologin und führt für das Bildungswerk der Biologischen Station Zwillbrock Klein und Groß durch das Zwillbrocker Venn.
Ort: Vreden | Datum: Sa, 15.07.2017 | Wetter: sonnig, 21°C
SPRACHGRENZE. GRENZE DES GUTEN GESCHMACKS. REVIERGRENZE. Ich überquere sie mit wenigen Schritten auf dem Weg in den ersten Stock. Handel und Schmuggel. Mit Kiepe, Hundekarren, Händlerwagen und Berkelzomp verkehrten die Menschen zwischen den Niederlanden und Deutschland. Vreden liegt im Westmünsterland, in unmittelbarer Nähe zur Region Achterhoek, Niederlande. Reger Austausch von Waren im Grenzgebiet. Neben Fliesen, Tabak und Pfeifen stehen heutige Exportschlager der Region. Hier schließt sich der Kreis: mein Navi stammt ebenfalls aus dem deutsch-niederländischen Grenzgebiet.
AUSGRENZUNG. EINGRENZUNG. GRENZVERKEHR. GRENZEN heißt die neue Dauerausstellung des KULT in Vreden. Die Grenze wird hier als ein Ort präsentiert, ein Raum der Bewegung und Begegnung. Ein Anlass, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu beiden Seiten der Staatsgrenze zu sinnieren. Und zu erkunden, ob auch im Alltag der Menschen – damals wie heute – ebenda eine Grenze verläuft. Alltagsgegenstände wie Holzschuhe und Hauben lassen allerdings auf ganz andere Kriterien der Grenzziehung schließen. Wirtschaftliche, soziale und religiöse.
Korn und Frikandel. Frau Antje und der Kiepenkerl.
Es geht auch an die eigenen Grenzen. Automatische Zuordnungen hinterfragen. Stereotype entlarven. Deutsche? Münsterländer? Niederländer? Nach dem Rundgang sitze ich im zukünftigen Sonderausstellungsbereich. Heute gibt’s hier Kaffee und Kuchen. Neben mir am Tisch unterhalten sich zwei Paare lebhaft. Auf – ja, auf was eigentlich? Einzelne Wörter erkenne ich als Deutsch, andere als Niederländisch. Und dazwischen? Platt! Sie stammen, so entnehme ich dem Gespräch, aus der Region. Aber ob von deutscher oder niederländischer Seite kann ich auch nach einem Stück Donauwelle nicht sagen.
Zwischen Zwillbrock und Eibergen
Jetzt will ich sie aber auch sehen, die Staatsgrenze. Spätnachmittags erreichen der Bulli und ich einen kleinen Flachdachbau. Keine Vorhänge, keine Rollladen, keine Hausnummer. Drinnen: eine leere Kakaoglasflasche im Fenster und ein Sicherungskasten, dessen Tür offensteht und in den weißen Raum hineinragt. Draußen, unweit des Baus: ein von hohem Gras und Sträuchern umrankter Grenzstein mit zwei Wappen. Auf der einen Seite drei Balken, auf der gegenüberliegenden zwei Löwen.
Auf der anderen Straßenseite das blaue Schild mit gelbem Sternenkreis und der weißen Aufschrift „Nederland“. Daneben ein Schild „Berkelland“. Daneben: eine freistehende Skulptur. Der Rasen hier ist kurzgeschoren. Durch eine Edelstahllinse folgt der Blick einem schmalen Graben. Links davon Weidezaun und Gehöft, rechts davon Weidezaun und Gehöft. Open Schakel / Offenes Kettenglied von Piet Slegers wurde als gemeinsames Projekt der Städte Vreden und Eibergen 1995 zur Öffnung der Grenze zwischen den Niederlanden und Deutschland aufgestellt.
GRENZEN heißt die neu eröffnete Dauerausstellung des KULT in Vreden. Anhand der Region Westmünsterland wird aufgezeigt, welche Bedeutungen einer Grenze im Alltag zukommen können. Und wie der oder die Einzelne damit umgeht. Stichwort Schmuggel. Originale sind zu diesem Thema übrigens leider noch nicht zu sehen. Trotz mehrfacher Aufrufe in der Lokalzeitung. Ein in Aussicht gestellter Schmuggel-BH wurde in letzter Minute doch noch zurückgezogen. Hier also nochmals der Aufruf: Wer doch noch ein Schmuggler-Unikat in den Dienst der Wissenschaft geben möchte, melde sich beim KULT in Vreden. No questions asked…
Ort: Bauerschaft Schmedehausen, jetzt aber wirklich | Datum: So, 09.07.2017 | Wetter: sonnig, 24°C
Hohlweg, das klingt nach Mutproben bei Neumond, dem Ruf eines Uhus und sich im Schutz der Nacht anschleichenden Räubern. Hinter dieser Wallhecke oder jenem Erdwall könnten sie gelegen haben. Gleich neben dem Sandweg, leicht erhöht, verborgen hinter Brombeerranken oder üppigen Maisstangen. Lauernd auf die Händler, die mit ihren Packtieren auf dem Weg in die Niederlande an der Eselsfüchte Halt gemacht haben. Oder auf die Wallfahrer, die entlang der Hofkreuze durch die Wald-und Felderlandschaft gen Telgte zogen. Und noch heute ziehen. Eine Kulturlandschaft, die, so Hubert, an anderen Stellen des Münsterlandes aufgrund von Flurbereinigung verschwunden ist.
Flurbereinigung, die: „Zusammenlegung und Neueinteilung von zersplittertem landwirtschaftlichem Grundbesitz.“ Sagt Duden. Auf meiner Karte heißt das: gelbliche Linien, wie mit dem Lineal gezogen. Ein Setzkasten aus weißen und hellgrünen ordentlich-rechteckigen Feldern. Das gibt es hier nicht. Ich bin in der Bauerschaft Schmedehausen bei Greven, „Wo vorbei an alten Höfen / Sich die Glane schlängelt hin“. Oder die schmalen Landstraßen. Hubert, hier in der Gegend aufgewachsen, hat mich vorgewarnt: Selbst mit Navi finden hier Viele nicht mehr heraus, geschweige denn hinein.
Hier gibt es sie noch, kleinparzellige landwirtschaftliche Flächen, gerahmt von Wällen und Waldstücken. Und Geschichte(n). Hubert Brockötter zeigt mir beides. Während unserer Tour über Wirtschafts- und Forstwege füllt sich meine Karte sowohl mit Eindrücken als auch mit Erzählungen. Ich überschreibe die zweidimensionale Karte der Region auf meinen Knien. Blasse Linien werden farbig. Vernetzungen von einem Ort zum anderen tun sich auf.
Spuren- und Fährtenlesen mal anders.
Die Wallhecken und Erdwälle markierten früher die Besitzverhältnisse. Bis hier her ist es mein Stück Land, da drüben kannst du walten. Hubert erzählt, dass in seiner Kindheit dann die Bundeswehr hier Manöver geübt hätte. Und die Kinder von den umliegenden Höfen natürlich alle hin und gucken. Heimlich. Die Dorfjugend traf sich bei den Pümpelbänken. Holzbänke, mitten in der Schonung aufgebaut. An einer Bank befand sich eine Kiste mit einem kleinen Büchlein, zum Unterschreiben, Nachrichten hinterlassen. Wie das Zettelchen-Schreiben in der Schule. Oder die Messenger-App. Es gibt sie wohl noch, aber sie werden nicht mehr aufgestellt.
Der Gertrudensee – „Angeln, Baden und Lagern für Unbefugte verboten!“ – gehört dem ASV-Greven 1933 e. V. Was heute ein See ist, war früher Lehmgrube. Mit einer Lorenbahn wurde der Lehm damals in Richtung Kanal transportiert. Da in der Nähe wurden dann die Ziegel gebrannt. Viele der umliegenden Höfe sind aus dem typisch gelben Backstein gebaut. Heute liegt der Lehm unter der grünspiegelnden Wasserfläche, in zehn Metern Tiefe. Munkelt man. Genau kann man es schließlich nicht wissen.
Wir haben heute die Bauernschaft Schmedehausen, Bockholt und die Haselheide durchquert. Sind sogar an der Grenze zum Kreis Warendorf gewesen. Sagt meine Karte. Und in natura? Da ist die Grenze nur sichtbar, wenn der eine Kreis den Grünstreifen an der Landstraße ein paar Tage später mäht als der andere. Wir fahren an einem Stück Staatswald entlang. Auch hier suche ich vergeblich einen schwarz-rot-goldenen Schlagbaum, einen Zaun oder ein offizielles Siegel. An den liegengelassenen Baumstämmen erkenne ich stattdessen den Übergang von Holz, Rinde und Blättern zu Humus, spinnenvernetztes Gewebe und schwarz-schillernde Bewegung.
Hubert Brockötter ist, wie sein Vater, Zimmermann mit Meisterbrief. Im Nebenerwerb ist er Landwirt. Schon sein Großvater bewirtschaftete den Hof in der Bauerschaft Schmedehausen, allerdings noch an anderem Standort. Den Fremdenführer gibt er nur in Ausnahmefällen. So beispielsweise, um auf die ihm gut bekannte Kulturlandschaft aufmerksam zu machen. Der Bau von mehreren Windenergieanlagen hätte viele der Wege und Orte, die wir heute besucht haben, verschwinden lassen. Mit den Münsterland-Safaris kann man diese Orte geführt besuchen. Oder einfach auf eigene Faust – zu Fuß oder mit dem Rad.
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