WINNING

 

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„Nein, nein. Sie müssen da ganz anders rangehen, Frau Meyer. Wir im Reinvention Center reden nicht von weakness. Von Versagen. Von Verfall. Nein!“ Ihr Personal Improvement Adviser, kurz PIA, haut auf den Tisch. „Wir reden von marketable skills, ja? Ihre Schwächen sind Ihre Stärken, Frau Meyer. Unsichtbar ist das neue vermittelbar.“ Er fixiert etwas knapp über ihrem Kopf. Frau Meyer dreht sich um und sieht einen hageren Mann mit schulterlangem blondem Haar, der mit gesenktem Blick einen Teleprompter in die Höhe hält.
„Invisible is the new black, ja?,“ verkündet der PIA weiter. „Wer will behaupten, dass Sie keinen Wert mehr für diese Gesellschaft haben? Wer? Das ist doch unverschämt, machen Sie sich doch nicht so klein, ja?“ Ihr Personal Improvement Adviser streicht sich über seine Glatze und haut ein weiteres Mal auf den Tisch.
„Die Geisteswissenschaften mögen abgeschafft sein, aber das muss ja nicht das Ende Ihrer Karriere bedeuten, Frau Meyer. Bücher und Kunst und so sind ja schön und gut, aber wissen Sie was auch wichtig ist? Hotpants!“
„Ja?“, fragt Frau Meyer und schaut auf ihre großen Oberschenkel, die durch eine Cordjeans in Form gebracht auf der Sitzfläche des Stuhls liegen.
„Ja, Frau Meyer. Hot is the new smart. Skin over looks!“
Skin over looks? Renate Meyer dreht sich skeptisch zum Teleprompter um. „SKIN OVER BOOKS!“, steht dort in großen, selbstbewussten Buchstaben.
„Wir reden hier nicht zwangsläufig von Ihnen in Hotpants, gewiss nicht, aber profitieren wir nicht alle von Schönheit in der Welt? Ist das kein ehrenwerter Beitrag, den Sie leisten können, Frau Meyer?“ Sie nickt unsicher.
„Sie können als Personal Optimization Worker arbeiten, als POW, Frau Meyer. Sie können die Welt im wahrsten Sinne des Wortes heißer machen!“ Frau Meyer hört auf zu nicken.
„Spitze! Ich finde es spitze! Monday beginnt Ihr POW-Trainingscamp in Winning, vormals Siegen – alle Infos kriegen Sie an der Rezeption“, ruft der PIA und klatscht dynamisch in die Hände, woraufhin die Tür hinter Frau Meyer aufschwingt. Sie steht benommen auf, nickt dem Mann hinter dem Teleprompter zu und tritt durch die Tür in ihre berufliche Zukunft.
Drei Wochen zuvor wurden die Geisteswissenschaften an der Universität Siegen abgeschafft. Nach den Kirchen und Museen, hätte die Schließung der Philosophischen Fakultät keine Überraschung mehr sein dürfen. Frau Meyer war trotzdem überrascht. Einige Tage traf sie sich noch morgens mit früheren Kollegen der Geschichtswissenschaft vorm Fakultätsgebäude. Zusammen starrten sie auf die Werbetafeln, die nun ihren ehemaligen Arbeitsplatz verkleideten und lasen die Leuchtbotschaften, die dort in Dauerschleife über die Bildschirme liefen: „WIR LEBEN IM JETZT!!!“, „NEUES LIEBLINGSFACH: ZUKUNFT“, „LIEBER GESCHICHTE SCHREIBEN ALS GESCHICHTE STUDIEREN“. Sie waren ratlos. Ihre Demonstrationen blieben unbesucht, ihre handgemalten Poster sahen mickrig aus im Vergleich zu der Neonleuchtschrift, die hinter ihnen thronte, und schnell fühlten sie sich wie ewig Gestrige, wenn Studenten sie verlegen und nicht ohne Mitleid im Vorbeigehen anlächelten. Die Studenten der Geisteswissenschaften hatten die Wahl auf eines der Fächer, die es noch gab – Maschinenbau, Medizin, Mechantronik… – umzusatteln, oder eine Umschulung zum Personal Optimization Worker zu machen. Den Lehrenden blieb keine Wahl: Sie wurden in ihren Kündigungsemails gebeten, beim örtlichen Reinvention Center vorstellig zu werden.
Die ersten Wochen übte Frau Meyer ihren neuen Job aus wie in Trance. Nachdenken war ohnehin nicht gefordert, und so latschte sie wie ein Zombie mit der Heizplatte in den Händen ihrer Klientin, Princess Unicorn, hinterher, damit diese ungeachtet der Außentemperatur winzige Hotpants und Miniröcke tragen konnte. Sie betrachtete sich und die anderen Personal Optimization Worker – die beiden Texter, das Windkind, den Make-Up Artist, die Frau mit dem Teleprompter, die Parfumbeauftragte und die Beleuchterin – wie sie früher desinteressiert nach einem langen Tag eine Sendung im Fernsehen geschaut hatte. Sie sah zu, wie die POWs um ihre Klientin, „Princess Unicorn“, eine ehemalige Sozialversicherungsfachangestellte, nun Influencerin, schwirrten, sah zu, wie sie ihr Leben ausleuchteten, einparfümierten und schrieben und war sich sicher, dass das alles a) nicht wahr sein konnte und b) im Falle, dass es doch wahr war, unmöglich etwas mit ihr, Renate Meyer, zu tun haben konnte. Diese ersten Wochen, in denen sie ihr Leben wie durch eine Milchglasscheibe betrachtete hinter der alles unwirklich war, wichen ungefilterter Panik. Tagelang rang sie um Luft, und konnte kaum laufen. Am Ende dieser mehrtägigen Panikattacke, gab einer der Texter ihrer Unit ihr wortlos eine Jumbopackung Prozac mit der Aufschrift „1x täglich 40mg“.
Seitdem ist nichts mehr kompliziert. Sie ist taub, aber die Welt hat wieder Ordnung. Nach drei Monaten als Personal Optimization Worker genießt Renate Meyer beinahe, wie ihre Welt auf Grundbedürfnisse zusammengeschrumpft ist. Verdichtet zu „satt“, „ausgeschlafen“, „schmerzfrei“, „wohltemperiert“. Um so tragischer, wenn eines der Bedürfnisse unerfüllt bleibt. Vorne schwitzt sie, hinten friert sie. Wie eine lebende Glasfabrik. Einfach Siliziumoxid, Natriumoxid und Calciumoxid schlucken und kleine hübsche Kugeln ausscheiden. Vielleicht könnte das ein Nebenverdienst werden – optimization und so.
An das Gewicht der Heizplatte hat sie sich mittlerweile gewöhnt, die Hitze bleibt unerträglich. Diese neue Arbeit ist nicht einfach, aber sie ist unkompliziert. Das einzige was sie aus der Fassung bringt, sind Störungen im Tagesablauf und hartnäckige Erinnerungen an früher, die wie ein immerwährender Mückenstich durch Jucken um Aufmerksamkeit winseln. Kratzen macht es schlimmer, das weiß sie selbst. Die einzige Strategie ist, die Erinnerungen zu ignorieren und der Versuchung zu widerstehen.
Sie bleibt hinter Princess Unicorn stehen, stellt die Heizplatte ab und senkt den Blick. Princess Unicorns goldglänzenden Beine stecken heute in hohen, pink-glitzernden Stiefeln, ihre kurzen Jeans-Hotpants bedecken nur knapp ihre Pobacken – alles sieht aus wie immer, aber irgendetwas stimmt nicht. Renate Meyer lässt ihren Blick über Princess Unicorns Pelzjacke gleiten, über die winzige rote Lackhandtasche, die verloren von ihrer Schulter baumelt. Etwas fehlt. Frau Meyer wird nervös, heißer Schweiß läuft ihren fröstelnden Rücken herab. Sie konzentriert sich auf Princess Unicorns schillernde Fingernägel, die das künstliche Licht reflektieren wie die Mistkäfer vergangener Zeiten – alle Insekten außer Schmetterlinge wurden auf Wunsch der Influencer ausgerottet. Der Personal Optimization Worker, der für die Beleuchtung (Sierra-Filter wird derzeit gewünscht) zuständig ist, hat heute ganze Arbeit geleistet. Auf Princess Unicorns Wangen schimmern verschiedene Rosatöne in wohldurchdachtem Farbverlauf, sie sieht aus wie in goldenes Licht getaucht. Sie betrachtet anerkennend den Make-Up-Artist ihrer Unit, einen unscheinbaren Mann Mitte 40, der ihr vage bekannt vorkommt – vielleicht auch ein ehemaliger Dozent? Vielleicht ein Mitglied des Französischclubs oder der Elterngruppe?
Auch nach drei Monaten kennt sie die Namen der übrigen POWs nicht – wie Bekannte, die sich im Wartezimmer des Psychotherapeuten begegnen, nicken sie sich morgens höflich und verstohlen zu und ignorieren sich ansonsten. Sie betrachtet das babyblaue Haar, wie es träge auf Princess Unicorns Schultern liegt und da fällt es ihr auf: Das Windkind fehlt. Mit weichen Knien und offenem Mund starrt sie auf den Ort, circa einen Meter vor ihrem Client, an dem das Windkind stehen und ausgerüstet mit einem lautlosen Föhn für kontinuierliches Wehen sorgen sollte. Ursprünglich wurden Kleinwüchsige für diesen Job genutzt, da diese die ideale Größe haben, rückwärts vor dem Klient zu laufen ohne diesem dabei die Sicht zu versperren. Aber diese Ressource war schnell erschöpft – „Uns gehen die Zwerge aus“, titelte die BILD-Zeitung. Fortan wurden Kinder als Windmaschinen genutzt. Das anfängliche Unwohlsein der Clients mit diesem Arrangement war schnell vergessen und nun wundert sich niemand mehr, über vorsichtig rückwärts laufende 7-Jährige.
Jetzt scheint auch Princess Unicorn das Fehlen zu bemerken und blickt auf ihr Haar, das leblos auf ihren Schultern liegt. „Where the Windkind?“, fragt sie in dem Pidgin-Englisch, das schnell zur der einzigen Sprache geworden ist, die die Clients ohne Hilfe eines Teleprompters sprechen können. Der Texter und der Teleprompter schauen sich betroffen an. Die beiden scheinen etwas zu wissen und Renate Meyer merkt, wie Schweiß ihre Hände nässt. Störungen im Ablauf kann sie heute nicht vertragen, und vor allem nicht hier auf dem Siegberg, wo ihre Kirche stand.
„The Windkind dead, sorry“, sagt der Texter und senkt das Haupt. „No wind?“ Fette Tränen rollen aus Princess Unicorns kugelrund operierten Augen; die schweren falschen Wimpern senken sich wie langsam herabstürzende Vögel. Das Windkind ist tot. Angstschweiß wärmt Renate Meyers Hintern, aber sie kann die neue Wärme nicht genießen.
Benommen geht sie weiter bergauf, stolpert, und lässt beinahe ihre Heizplatte fallen. Sie blickt herunter und entdeckt einen Stein, daneben noch einen – einige Meter weiter eine winzige Steinmauer. Das muss sie sein, ein Stück immerhin. Panisch sucht sie weitere Steine, versucht, sie in ihrem Kopf zu dem sechseckigen Grundriss der Nikolaikirche zusammenzusetzen.
Sie gibt auf. Erst das Windkind, jetzt die Nikolaikirche – ihre Selbstbeherrschung ist gebrochen. Das Jucken ist unerträglich. Renate Meyer wird kratzen bis es blutet.
Sie erlaubt sich fünf Sekunden. Dann muss sie die Erinnerungen mit Gewalt zurückdrängen, wie das Ersatzfederbett in die zu kleine Bettschublade.
5. Henner und Frieder, die beiden Statuen, die sie auf dem Weg zur Kirche begrüßten.
4. Die 9Bar, mit deren Eisbechern sie ihre Söhne bestochen hat, mit zum Gottesdienst zu kommen. Schöne Abende dort mit Kolleginnen aus der Universität und Freunden.
3. Der bemalte Stromkasten zu dem die Jungs immer Wettrennen gemacht haben, als sie noch klein waren.
2. Der linke Türflügel, verziert mit einem Löwen.
1. Auf der Spitze des Turms das Krönchen, ihr Krönchen.
Stop!

Es juckt nicht mehr. Das hier ist nicht aufgeben. Das hier ist Hingabe, denkt Renate Meyer und fühlt Tränen über ihre Wangen rollen.
„You sad? Poor POW, you want candy?“, fragt Princess Unicorn und zupft rosa Zuckerwatte aus der Tasche ihres Pelzjäckchens. Frau Meyer öffnet den Mund – die süße Watte klebt an ihrem Gaumen.
Sie blickt mit ihren verheulten, ungeschminkten Augen in Princess Unicorns schimmerndes Gesicht und fühlt Wärme und Glück durch ihren Körper strömen. „Me happy when you happy. And when not cold“, antwortet Renate Meyer und weiß, dass sie Recht hat.

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