Halten, Hagen, heimisch

 

Letzte Eindrücke aus Südwestfalen

In Südwestfalen habe ich das Wort Bedarfshalt zum ersten Mal gehört. Schönes Wort. Fand mein Körper auch und schrie: „Halt! Geht mir alles zu schnell, jetzt wird Pause gemacht.“

Auf der Befarfshalttaste lag ich einige Wochen, war krank, blieb krank, erholte mich in meiner Auszeitwohnung mit staatlich anerkanntem Erholungsort in Gehweite. 

Das hier kommt von ganz oben. Antreten, Ausatmen, Entspannen! 

Wiblingwerde ©lka

Ich habe mich in Hagen verliebt. Hagen ist nicht ganz leicht zu lieben. Und trotzdem kam ich zurück, immer wieder. Wie zum Badboy, der dich enttäuschen wird und du weißt es auch, aber irgendwie ist es auch Liebe und so fährst du wieder hin, vielleicht ist diesmal ja alles anders. 

Ich habe über Karl Osthaus nachgedacht und bin ganz unakademisch über dieses tollen Satz auf Wikipedia gestolpert: „Nach einem Nervenzusammenbruch erlaubte ihm sein Vater aber bereits nach kurzer Zeit den Abbruch der Lehre.“

Ein wenig später folgt ein Abschnitt über Osthaus’ Kontakt zu nationalistischen Gruppen, aber ich war in Hagen auf der Suche nach Schönheit und überlas das schnell. 

Die Hagener, die ich auf Osthaus anspreche, haben vom „Hagener Impuls“, seiner Bewegung aus dem frühen 20. Jahrhundert, die „die Schönheit wieder zur herrschenden Macht im Leben“ der Bürger Hagens machen sollte, noch nie gehört.

Auch die Hagener CDU hat’s nicht ganz verstanden, wie sie in ihrem Programm 2017 „Der neue Hagener Impuls“ beweist. Zitat: 

„Hagen ist eine Stadt mit einer langen Tradition als pulsierender Wirtschaftsstandort. Der Puls ist in den letzten Jahren leider langsamer geworden. Die Auswirkungen dieser Entwicklung sind auf dem Arbeitsmarkt spürbar…“  Hier gibt’s Impulse anscheinend vor allem zum Fachkräftegewinn.

Beim Schlendern durch Hagen ist der erste Eindruck: Osthaus ist gescheitert. Hagen ist auf den ersten und auch den zweiten Blick keine Stadt, die von Schönheit beherrscht ist. Die Hagener wirken nicht, als würden sie Schönheit als treibende Kraft im Alltag wahrnehmen. 

Was würde Karl Osthaus denken, wenn er heute durch seine Geburtsstadt laufen würde? 

Die CDU hat recht: Wir brauchen einen neuen Impuls. Aber einen echten. Einen, bei dem es um Schönheit und Miteinander und Anpacken geht – einen ganz ohne seelenlose Wörter wie Wirtschaftsstandort oder Standortfaktor oder Fachkräftemangel. Einen Siegener Impuls. Einen Essener Impuls. Einen Altenaer Impuls. Einen Hagener Impuls.

Hagen ©lka

Ich treffe mich mit einer waschechten Lüdenscheiderin auf einen Kaffee. Innerhalb der ersten halben Stunde sprechen zwei Bekannte sie an. Man kennt sich. Das kann sehr schön sein. Die Leute wissen Bescheid, niemand wird hier von Katzen angefressen drei Wochen tot in seiner Wohnung liegen.

Das kann anscheinend auch schaurig sein. Die Leute wissen Bescheid, man kennt sich, jeder hat zu allem eine Meinung, jeder weiß, wer man vor zehn Jahren war. 

Hier kann man keine Ichs hinter sich lassen, die Jugendsünden verschweigen, denn überall sind Leute, die sich an deine Gothic-Phase erinnern, die beim Stechen des Arschgeweihs dabei waren, die die schlimmsten Geschichten über dich – wahr oder erfunden – von deinem Ex-Freund kennen. 

Schaurig-schön, das Kleinstadtleben. 

Man geht hier nicht verloren. Auch nicht, wenn man will. 

Lüdenscheid ©lka

Südwestfalen ist eine gute Region für Introvertierte, habe ich festgestellt. Als eingefleischter Eigenbrötler fühle ich mich wohl unter Menschen, die vor sich hinarbeiten, ihr Ding machen, wenig Bedürfnis haben, ihr Image zu pflegen, über Marketing nachzudenken oder sich zu präsentieren. Man muddelt vor sich hin in Südwestfalen – noch ein schönes neues Wort. 

 

 

königlich ©lka

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