Nach dem Regen/ Unterwegs
6. Mai 2020
Seit der angeblich launische Monat April vorbei ist, gibt es endlich wieder Regen.
Eingesperrt im Paradiesgarten nordöstlich von Corona wurden jeden Tag zweimal die Bäume und Büsche gegossen, damit die Dürre nicht schon im Frühling überhand nahm. Der trockenste Monat seit Menschengedenken. Der wärmste April aller Zeiten. Wenn der Weltuntergang mit ausbleibendem Regen zu tun hat, mit Zombies, Elefanten und Gespenstern und nicht nur mit Bürokratie, dann werde ich mich wohl damit arrangieren lernen.
Ich erinnerte mich in diesen Wochen immer wieder daran, genügend Wasser zu trinken und weniger mein Gesicht zu berühren. Ich dröselte meine unnötig warmen Pullover aus, um daraus Rankhilfen zu bauen und bei Bedarf zwei, drei Erzählfäden zur Hand zu haben. Ich bekam Sonnenbrand und Panik, meistens abwechselnd. Die Vögel, diese lärmenden Frühaufsteher unter den Todesboten, wurden auch nicht vergessen. Wer Bäume gießt, der füllt auch Schalen mit Wasser vor seinem Fenster, damit der Schlaf im Sonnenaufgang nicht gestört wird und auch der Elefant was zu trinken hat.
Die Grenzen meiner gesetzlichen Zuordnung verwandelten sich ganz schnell in die Grenzen meiner Wahrnehmung. An den Rändern: Grün und grau, Polizeiautos und Frauen mit neongelben Amtswesten. Wenn ich meinen Reisepass und Mietvertrag vergessen hatte, dann warf ich das Fahrrad in die Weißdornhecke und versuchte meinen Weg zum nächsten Supermarkt über die verwachsenen Schleichwege zwischen den Büschen zu finden. Meine schlammverkrusteten Schuhe das Überbleibsel meiner neu erwachten Paranoia.
Ostersonntag rannte ich sogar vor einem Polizeibus davon und versteckte mich im Schilf neben dem gelangweilt vor sich hin treibenden Grenzfluss. In der Nacht träumte ich von unbekannten Verwandten, die durch Flüsse schwimmend vor der Roten Armee zu fliehen versuchen. Ich erzähle das später dem russischen Sascha aus München, der lachte nur und sagte: Wie süß. Ihr Deutschen immer .
Die Schichten meiner sicheren An- und Zugehörigkeit lösten sich immer weiter ab. Bin ich hier richtig? Habe ich Papiere? Sehe ich noch aus wie auf meinem Ausweisfoto? Kann ich überhaupt in einer Schlange stehen?
Keine meiner Spuren, Heimaten, meiner Arbeitsverbindungen und Beziehungen kann auf dem Papier Bestand haben. Alles hinterlässt, wenn überhaupt, eine Spur auf mir und vielleicht jemand anderem. Meinen Gedanken, meiner Erinnerung.
„Ich wandte meine Schritte und mit einem Herzen voll unendlicher Liebe für die, welche sie verschmähten, wanderte ich in ferne Gegend“, so träumte Franz Schubert vor 198 Jahren, als er seinen Garten verließ, sich eine Mund-und-Nase-Bedeckung aus verschmiertem Notenpapier bastelte und vorschriftsgemäß erst 50 Meter hinter dem Bahnhofsbistro auf eine Bank setzte, um seinen Filterkaffee zu trinken. Denn: Das vorübergehende Verweilen auf öffentlichen Bänken ist ab dem 20. April wieder gestattet.
Na dann.
Vielleicht waren Bahnhöfe schon immer die sichtbaren Zeichen der längst vergangenen Postapokalypse und wir haben sie nur nicht erkannt. Weil da zu viele Leute herum liefen und mit ihren Brötchen krümelten. Nur weil da Stromkabel an einem Pfahl hängen, heißt das noch lange nicht, dass die auch irgendwo hinführen. Das können auch nur Horizontlinien sein, die vorübergehend und um die Perspektive besser anzudeuten, beim einer ersten Skizze noch nicht ausradiert wurden.
„Derzeit sind verstärkt Trickbetrüger unterwegs. Passen Sie auf ihre Wertsachen auf“, sagt die Lautsprecherdurchsage in Bochum und ich bin wachsam inmitten schaffnerlosen Einsamkeit.
In der Privatbahn nach Soest wird dafür mit einer Besessenheit kontrolliert, als gelte es, alle potentiellen Schwarzfahrer bundesweit wieder aufzurechnen. Ich gerate naturgemäß in Schwitzen und versuche nicht nach oben zu schauen, wo sich der Elefant unauffällig im Gepäcknetz versteckt hat. Nach jedem zweiten Halt steht wieder winkend ein Angestellter vor mir und will meine Fahrtkarte begutachten. Schon wieder? Ich übe meinen bösen Blick und scheitere. Normalerweise klappt der. Nur mit Augen über Maske scheint er nicht zu funktionieren. Er lässt sich nicht abwimmeln. Ich denke, er verwechselt mich und das Notizbuch mit der Spiegel-Reporterin, die über Helden der Gegenwart recherchiert und rührende Portraits von Bäckereifachverkäuferinnen, Supermarktangestellten,und Kontrolleuren macht und deshalb jetzt incognito zwischen Hamm und Soest, Balksen und Berwicke, Welver und Dinker, Anröchte und Erwitte pendelt.
Als ob.
Als ob ich hier irgendwas protokollierte.
Als ob Helden jemals Kontrolleure wären.
Als ob Helden die wären, die im Angesicht von irgendeiner gefährdeten Gegenwart einfach weiter zur Arbeit gingen wie bisher. Schichtbeginn, Zack, Held steht bereit.
Als ob Helden nicht eben genau davor flüchten, aus der Wiederholung und der Wiederholung und der Sicherheit der Wiederholung, um kopflos aus genau dieser heraus zu rennen, weil sie was gehört haben, den Ruf heraus aus dem, was der Alltag ist, plus Selbstüberschätzung, plus das Herz voll unendlicher Liebe für die, die es verschmähten, plus feste Schuhe und die bescheuerte Idiotie dahin zu wollen, wo man vorher nicht war. Nur um sich zu verirren und dem Bösen hinter die Maske blicken zu können. Um die echte versteckte Welt und nicht nur die eigene Reflexion darin zu sehen. Naja, und vielleicht auch, um am Wegesrand ein paar Königstöchter zu vergewaltigen, die Väter zu entehren und sich damit ein paar neue Immobilienanlagen in unsicheren Zeiten zu sichern.
Na dann.
Als ich mein Haus erreiche, wuchern die Kräuter aus den Ritzen. Der Elefant bezieht das Erdgeschoss und überlässt mir das obere Zimmer. Die Knoblauchranken zwischen den Terrassenplatten sind so hochgeschossen, dass sie bis zu meinem Fenster heranreichen. Sollte der Ruf zur Heldinnenreise noch heute Nacht erfolgen, kann ich ganz leise an ihnen herunter klettern und sehen, wohin der Weg mich führt.
Alles wird gut.
Na dann.