My loneliness 1/ Kriemhild wartet

Das kann einer sehen von denen, die nach Soest kommen
die ungeheuerlichen Dinge, die da geschahen, den Garten,
der Niflungengarten genannt wird und den Schlangenturm
und den Weg
und manche andere merkwürdige Dinge, die da geschahen

 

Kriemhild wartet.

Auf das Ende, auf die Familie, aber erstmal vor allem auf schlechteres Wetter. Nicht nur wegen der Hitze, die sie gerade in allem lähmt, nein, sondern weil wenn die Familie anreist und das große letzte Fest stattfindet, dann muss nasses Wetter sein, so sagt es die Prophezeiung.

Kriemhild wartet. Sie vertraut auf das, was ihr die Geister nachts durch die Tapete über die künftigen Gemetzel zuflüstern. Ihr nächtliches Lauschen und die Fähigkeit, Träume deuten zu können, haben ihr doch immer nur Gutes gebracht, oder nicht? Der Falkentraum, natürlich, das war was anderes. Das hätte anders funktionieren müssen. Der Traum vom schönen, starken, wilden Falken, den sie tags von ihrem Balkon am Rhein aus in den Lüften betrachtete und der sich nachts an ihre Seite legte, in das geheime Nest zwischen Rücken und Federkissen, um im Morgen zu verschwinden ohne Spur. Das war eine ganz andere Traumnummer, ganz anders Kaliber. Aber dann hat er sich zerfleischen lassen, der junge Falke und ich habs ja noch gesagt, denkt sie und wenn er doch nur ein Mal zugehört hätte und aber aber aber und danach fiel sie erstmal in eine gewisse traumlose Dunkelheit, weil dann war erst mal richtig schlimm, so wie in richtig dunkel und so gut lief es im Großen und Ganzen die letzten 26 Jahre nicht und jetzt sitzt sie hier, eingezwängt zwischen Fachwerkhäusern, die sich an keine Distanzregeln halten, versteckt sich auf der Terrasse ihres Hauses, um von dort aus dem Sermon der ebenso einsamen Trinker zu lauschen, die sich wie jeden Abend in den Rest der Sonne setzen, um die Käppchen vom Underberg zu drehen, ein Fläschchen nach dem anderen. Echte westfälische Fleißarbeit.

Kriemhild wartet und zählt die Glockenschläge eins zwei drei vier fünf sechs sieben acht und fragt sich, warum ist es so viel leichter, eine unschuldige Leber zu bestrafen, als sich die eigenen Erinnerungen zu verzeihen. Die Bauarbeiter nebenan schauen nicht zu ihr herüber. Aber sie trinken auch noch einen, gegen den Durst, gegen die Verzweiflung, gegen die Stille und schalten das Radio an:

and I must confess I still believe/ still believe

Kriemhild gesteht gar nichts und glaubt an nichts und sie wartet und muss doch noch was tun, da ist immer diese Unruhe, die ihr das Warten so schwer macht, immer noch nach all den Jahren und deshalb harkt sie das Laub auf der Wiese zusammen und beschließt, ein Feuer zu machen, mit einem alten Kinderlied auf den Lippen in schlechter Übersetzung:

My dear, who lights the ash-tree should know
What to get involved in and not complain too much
You must be prepared to make a sacrifice
Your heart your tongue your heart
On the tongue and the sinews of your hand
(du musst bereit sein ein opfer zu bringen
dein herz deine zunge dein herz
auf der zunge und die sehnen deiner hand)

Kriemhild steht am Feuer und hält ihr eigenes Herz fest, sie hat es in ihrer Handfläche zusammen gepresst, eine schwitzige Faust aus Salbeiblüten, Erde und toten Spinnen, plus ein paar Tabakreste an dem nutzlosen Organ, von dem sie nicht weiß, wofür das noch zu gebrauchen ist. Das bisschen Fleisch, die paar Proteine. Was soll das alles. Ihr Herz spricht lange nicht mehr zu ihr, aber wenn man seinen Daumen hineinbohrt, dann erklingt ein langer hoher Ton, ein Pfeifen oder ein, was, ein ein ein asthmatisches Luftholen nach einem Treppenlauf oder doch ein letztes Lebenszeichen, nein nein nein, bitte nicht nein hör auf nein.

Kriemhild wartet und trifft eine Entscheidung und sie opfert ihr Herz dem vor sich hin sterbenden Holunder, der aller Hoffnungslosigkeit zum Trotz nicht gefällt werden darf. Ihre Zunge und ihre Hände braucht sie noch, später beim Familienfest werden sie bestimmt noch etwas Arbeit zu tun haben.

Kriemhild geht zurück ins Haus, kratzt den letzten Dreck unter den Fingernägeln hervor, wäscht sich die Hände und singt dabei zweimal HIT ME BABY ONE MORE TIME. Sie steht vor dem Spiegel, wundert sich über dieses Gesicht und fährt mit dem Zeigefinger über die frische Narbe an ihrer Brust.

Kriemhild übt ihr bestes falsches Lächeln, bis es so gut sitzt wie bei der Hure aus Worms, die sich früher beim gemütlichen glutenfreien Familienfrühstück immer über sie beugte, um den giftigen Atem aus Zweifel, Scham und Selbstkritik ihren Nacken entlang zu hauchen, die sie immer betrachtete im Schlaf, aus dem Vorhang, aus dem dichten schwarzen Bienenschwarm an Eifersucht heraus, einem Schwarm der sein Zuhause nicht mehr finden konnte oder es verloren hat vor langer Zeit und jetzt herum irrt zwischen A 1, A 2, A 44 und den Güterbahnhofsgleisen. Manchmal ist Kriemhild an Abenden wie diesen so verirrt wie die letzten lebensmüden Bienen, die auf der Suche nach dem rapsgoldenen Schuss des allerbesten Glyphosphatheroin auf den nächsten Feldbrand warten, oder wollen sie dort nur ein wenig rasten oder wollen sie sich dem allen endgültig entziehen oder warten sie auch auf irgendwas, auf Rache vielleicht oder warten sie auf ihren Imker, den mit den warmen harten Händen und den Armen lang genug, sie auch aus der Distanz heraus sicher zu halten.

Kriemhild würde auch mal gerne wieder gehalten werden, jetzt zum Beispiel oder generell auch, wenn sie im Regen auf den Stufen zu fallen droht, aber da ist keiner, hallo, hallo, ist da wer, wo ist dieser verdammte Hofstaat, wenn man ihn mal braucht, keiner da, nur wenn Geschenke verteilt werden oder Gebäck, dann drängeln sie sich vor, als gäbe es einen Friseurtermin umsonst oder einen Gutschein auf Schnitzel und für gegen Leibeigenschaft.

Kriemhild denkt: Es regnet ja gar nicht, ich falle ja gar nicht und vielleicht sterben die Bienen auch gar nicht und fallen um wie die Bäume im Wald, vielleicht haben die einfach bloß keinen Bock mehr und vielleicht ist das auch alles nur ein schlechter Traum, haha. Als ob.

Kriemhild leiht sich einen Rasenmäher bei den Nachbarn, um den Randstreifen des Hellweg frei zu machen von Unkraut. Wenn die Familie zu Fuß zu Besuch kommt, dann soll sie nicht stolpern vor ihrer Zeit.

Kriemhild mäht sich die Ausfallstraße entlang, darin ist sie sehr gründlich, eine gerade kilometerlange Schneise aus totem Gras, das hinter ihr aufgeregt summend am Asphaltrand zurück bleibt, sie sammelt sich und dann sammelt sie ein paar Blumen und sie schaut von der Brücke aus den Autos zu, wie die sich auch einen Scheiß darum kümmern, wie das mit der Welt weitergehen könnte. Das beruhigt sie eigentlich meistens.

Leer lassen, wenn das Bild nur als dekoratives Elemnt dient

Kriemhild zählt ein paar rote Autos und keine Reisebusse und ein paar SUVs, in denen aufgedrehte Kindergartenkinder den ganzen Tag über herum gefahren werden, weil ihre Mütter nicht mehr wissen wohin mit dem Balg.

Kriemhild kauft sich im Sonnenuntergang ein Eis an der Tankstelle, sie zahlt bargeldlos und auf dem Weg zurück in ihren Garten tropft ihr das Eis die Finger, Hände, Unterarme entlang auf den Boden. Sie hinterlässt eine Spur aus entrahmter Milch, Zucker, Pflanzenfett, Molkenerzeugnis, Sonnenblumenöl, Glukosesirup, Frucht- und Gemüsekonzentraten, Emulgatoren, Verdickungsmitteln, natürlichem Aroma und Invertzuckersirup auf dem Weg, das macht es den Vögeln und den Gästen später leichter ihr zu folgen.

Sie wartet.
Sie wartet.

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