Sechs: Schattenwurf

Als ich aus dem Haus trete, schaltet Frederik die Scheinwerfer ein. Ich gehe hinüber, öffne die Beifahrertür, sage hallo, aber wir verzichten auf den Handschlag, inzwischen ist das besser. Und?, frage ich. Was ist der Plan? Och, macht er, einen Plan gibt’s eigentlich nicht, ich dachte wir fahren durch die Gegend. Okay, sage ich. Klingt gut.

Ein Stück Landstraße, dann biegen wir in die Feldwege, vor uns ein Windpark. Was meinst du, wie hoch die Dinger sind?, fragt Frederik, zeigt auf eine der Anlagen, er bremst, lässt den Wagen ausrollen, über uns die Rotorblätter. Keine Ahnung, sage ich, lege dabei den Kopf schräg, um bis zur Nabe sehen zu können. Also, der Kölner Dom hat 157 Meter, sagt er. Hm, mache ich. Vielleicht achtzig oder neunzig? Frederik schüttelt den Kopf. Die Nabe liegt bei hundertfünfzig, mit dem Rotorblatt bist du bei über zweihundert. Etwas Kies spritzt auf, als der Wagen beschleunigt, ich stelle mir vor, ein Windrad auf dem Roncalliplatz, wenn man vom Hauptbahnhof käme, sähe man die Rotorblätter hinter dem Dom aufsteigen, absinken, aufsteigen und absinken, gleichgültig, träge.

Hört man die Dinger eigentlich? Frederik nickt, ja, schon, sagt er. Aber mich stört es nicht. Andere schon. Wie hört sich das an?, will ich wissen. Naja, es ist so ein Flappflapp-Geräusch. Aha, mache ich. Flappflapp. Die Straße steigt an, ein LKW kommt uns entgegen. Der Schattenwurf, sagt Frederik, der ist schwieriger. Ich gucke fragend. Also, setzt er an, stell dir vor, das Windrad steht leicht erhöht und die Sonne tief, dann kann es sein, dass es in dein Wohnzimmer blinkt. Licht. Schatten. Licht. Schatten. Oh, mache ich. Mhm, macht er. Aber das ist alles reglementiert, die Betreiber müssen eine Schattenwurfprognose erstellen, und bei dreißig Minuten pro Tag ist Schluss, dann muss das Ding abgestellt werden. Ich schaue in den Rückspiegel, der Windpark verschwindet hinter Bäumen.

Breite Schneisen im Wald. Es wird schon viel geschlagen, nicht? Ja, sagt Frederik, das ist alles tot, die letzten Sommer waren zu heiß, die Fichten geschwächt, und dann kam der Borkenkäfer. Guck mal dort, er zeigt auf eine Hügelkuppe vor uns, bräunlich bewaldet. Die ist bald kahl. Und dort drüben ist auch nichts mehr zu retten. Ich sehe Baumstümpfe, geborstene Stämme, die im Dickicht liegen, drum herum Gestrüpp. Klimawandel, sagt Frederik, dazu die Sturmschäden.

Im Schloss Corvey halten wir im ersten Hof, in den zweiten will Frederik nicht fahren, dort wohnt der Herzog. Der Herzog?, frage ich. Ja, sagt Frederik. Und da, er zeigt auf eine doppeltürmige Kirche, besäulte Aussparungen im Verbindungsgang, da liegt Hoffmann von Fallersleben begraben.

Immer wieder Herrenhäuser, manchmal mitten im Wald, manchmal am Rand eines Dorfes, gepflegt, meist brennt Licht in einem der Fenster.

Hier, sagt Frederik, und hier, er zeigt auf leerstehende Ladenflächen, während wir durch Nieheim rollen. Und hier auch. Die Schaufenster verhangen mit Plastikfolie. Einmal ein Geschäft mit schmutzigen Scheiben, in dem aufgerissene Kartons stehen, dazwischen Kleiderständer und gefaltete Pullover, über der Ladenzeile steht noch: Schulbedarf Meyer. Wir biegen in Straßenzüge, die frisch gepflastert sind, Fachwerk oder rot gemauerte Häuser, es ist hübsch. Dort, sagt Frederik, und dort auch, ich verstehe nicht ganz, erst auf den zweiten Blick erkenne ich heruntergelassene Jalousien, Lampenkabel, die einsam aus der Decke lugen, manchmal auch Putz, der von den Wänden blättert, ein wenig nur.

Es dämmert, wir schweigen. Irgendwann frage ich: Aber Bellersen geht es besser, nicht? Ja, sagt Frederik. Schon. Gibt es denn Leerstand dort? Kaum, sagt Frederik, kaum bisher. Dann frage ich, ob ihnen die Zeit nicht in die Karten spielt, die Mietpreise in den Städten, der Verkehr in den Straßen, der Feinstaub, die Digitalisierung. Klar, sagt Frederik. Klar. Aber bis es soweit ist, müssen wir hier weitermachen. Ja, richtig, sage ich. Stimmt.

Der Wagen schmiegt sich in die Kurven, wird vom Wald verschluckt, als er uns wieder ausspuckt, ist es dunkel. Überall blinkt es, rhythmisch und rot, es könnte eine Raffinerie sein, aber es ist nur ein Windpark. Spielst du Fußball?, fragt Frederik irgendwann. Nein, sage ich, eigentlich nicht. Du? Frederick nickt. Aber nur noch Alte Herren. Wir biegen ins Dorf. Bei der Stadtmeisterschaft vor einigen Jahren, erzählt er, gab es noch eine Mannschaft aus Brakel und acht Mannschaften aus den umliegenden Dörfern. Der TuS Bellersen hatte so viele Aktive, er hätte zwei Mannschaften ganz allein stellen können. Heute gibt es noch fünf. Fünf?, frage ich. Ja. Fünf. Sie haben sich mit Nethetal und Bökendorf zusammentun müssen. Oh, mache ich.

Ich steige aus, Frederik startet den Motor, rollt auf die Straße. Als ich ins Haus trete, ist es still. Die Nachtspeicheröfen knacken, das Wlan-Gerät blinkt. Ich öffne ein Fenster, draußen wieder die Kühe von der Weide. Klagend fast. Ich klappe den Rechner auf, entsperre den Bildschirm, ein leeres Dokument schaut mich an, fragend blinkt der Cursor, fragend und ratlos, irgendwie.

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