unzivilisiert

Ich laufe seit einer Woche ohne genaues Ziel durch die Straßen Aachens, entdecke uralte Bäume, Brunnen, Monumente, Häuser, liebevolle Details an diesen Häusern, kunstvolle Türen und Türgriffe. Ich hänge meinen Gedanken nach und doch werde ich immer wieder durch Gesprächsfetzen der Passant*innen in das Hier und Jetzt geholt.

„Der Russe hat seinen Stolz“, ruft einer in sein Handy und schüttelt sich eine Zigarette aus der Schachtel. Ich bleibe stehen und möchte ungehörigerweise auch den nächsten Satz hören. „Wir Deutschen machen diesen Krieg zu unserem!“, ruft er. Ich gehe weiter. Den dritten Satz möchte ich nicht hören.

Zum Glück spricht er nicht im Namen aller Aachener*innen, ich sehe überall die ukrainische Flagge in den Fenstern von Privatwohnungen und Institutionen. Solidarität ist das Gebot der Stunde. Aber dieser Krieg ist anders. Es geht um mehr als Solidarität mit einem Land, das ohne UN-Mandat von einer Supermacht überfallen wird, dessen Bewohner*innen sich mit Regenwasser Suppe kochen müssen, wie in dem völlig zerstörten und von Strom und Wasserversorgung gekapptem Mariupol.

Die Stimmung ist heute anders als bei Afghanistan, ein Land, das bereits in den 70er-Jahren zum Spielball zwischen der damaligen Sowjetunion und der USA wurde. Damals im Kalten Krieg und dann wieder, als 9/11 zum Anlass genommen wurde, erneut Krieg und Elend über ein ohnehin geschundenes Volk zu bringen, und das obwohl keine einzige Person, die an dem Anschlag beteiligt war, ein Afghane war.

Meine Stimmung ist gedämpft, ich gehe nach Hause. Nach Hause heißt in diesem Fall ein Hotelzimmer, in dem ich seit einigen Tagen wohne, bis meine Künstlerwohnung frei wird. Nur wenige Tage in dem Zimmer und doch ist es erstmal ein kleines Zuhause, wo ich mich zurückziehen, ausziehen, ausruhen, mit neuem Mut wappnen und in die Welt hinaustreten kann.

Im Bad überlege ich, ob ich meinen Bart stutzen soll. Während ich dastehe und mein Spiegelbild stumm anschaue, bricht vielleicht jemandem in Nebenzimmer das Herz, ein Zimmer weiter kommt der langersehnte Heiratsantrag oder der Moment, an dem man seinen Job nicht länger aushält und alles hinschmeißt. Es kommt mir so profan und falsch vor, mich jetzt um meinen Bart zu kümmern und genauso falsch fühlt es sich an, es nicht zu tun.

Ich erinnere mich, wie zum ersten Mal wieder in Europa Krieg geführt wurde, nicht erst seit zwei Wochen, sondern schon in den 90er-Jahren. Damals rüttelte ein feministisches Fernsehmagazin, ML Mona Lisa, zum ersten Mal die deutsche Öffentlichkeit richtig auf und wies auf das ungeheure Leid der Bosniak*innen in den serbischen Konzentrationslagern hin. So nah dran, aber irgendwie auch fern genug, dass bis dahin niemand auf den seit 1945 ersten Krieg im Herzen Europas hinschauen wollte. Ich erinnere mich an die Zeit, die ich vor einigen Jahren in Sarajevo verbracht hatte. Die Einschlusslöcher in den Häusern erweckten den Eindruck, als wären eben erst Soldat*innen durch die Straßen gestürmt. Ich erinnere mich auch an die Geschichte einer Theatergruppe, die in der zweijährigen Belagerungszeit der Stadt, die langsam ausgehungert wurde, ein Theaterstück aufführte, Warten auf Godot. Und die Leute gingen hin und erfreuten sich an dem Stück, vergaßen für wenige Stunden, dass sie jeder Zeit von den Mörsergranaten der vielen Schützen getroffen werden konnten. Warten auf Godot hieß auch: Warten auf Hilfe. Und nicht die Art von Hilfe, wie sie die internationale Luftbrücke unter der Führung der USA über der Stadt abwarf, Konservendosen mit vergammelten Restbeständen aus dem Koreakrieg, Schweinefleisch für die vorwiegend muslimischen Bewohner*innen der Stadt. Jene Hilfe, die sich die Menschen, in einem Krieg im Herzen von Europa gewünscht hatten, kam nicht.

Mein Herz ist mit den Menschen in Ukraine, die auf der Flucht sind. Und ich bin froh, dass scheinbar die EU aus den Verbrechen an den Bosnier*innen gelernt hat. Jetzt schnell und solidarisch reagiert. Das Leben der Ukrainer*innen stand innerhalb weniger Tage auf dem Kopf und sie fanden sich auf den Bildschirmen der Welt wieder. Es ist selten etwas Gutes, wenn weltweit über eine Sache berichtet wird.

Mein Herz ist auch mit jenen, denen das Recht auf Flucht, das Recht unversehrt zu leben, verwehrt wird, an der ukrainisch-polnischen Grenze, jene Menschen, die scheinbar die falsche Hautfarbe haben oder die falsche Religion. Europäische Werte, die in den letzten Wochen so häufig heraufbeschworen wurden, werden zur Parodie, wenn universelle Menschenrechte an die Hautfarbe weiß oder an die Religionszugehörigkeit christlich gekoppelt werden. Prominente Politiker*innen aus etlichen europäischen Ländern betonten in den letzten Tagen: sie sehen aus wie wir, das sind Christen, sie sind zivilisiert, es sind blonde Kinder, die weinen. Es sind blonde Kinder, die weinen. Das darf nicht geschehen. Und das Weinen und das Sterben von braunen oder schwarzen Kindern?

Mein Herz ist bei allen, die in Polen, Tschechien, Ungarn ihre Arme und Herzen weit öffnen und die ukrainischen Geflüchteten aufnehmen, ihnen Sicherheit bieten und vielleicht, vorübergehend oder für länger ein neues Zuhause anbieten. Dennoch dürfen wir nicht vergessen, dass es eben diese Länder sind, die eine europäische, solidarische Asylpolitik seit Jahren verhindern.

Ich musste diese Tage oft an das Wort haymatlos denken. Einer der deutschen Wörter, die Eingang in das Türkische gefunden haben. Die von Nazi-Deutschland ausgebürgerten Jüd*innen oder politisch ungewollte Menschen erhielten einen Stempel in ihrem Pass mit dem Aufdruck „heimatlos“. Mit so einem Pass wurde die Flucht, die an sich alle Kräfte zehrt, zu einem besonderen Spießrutenlauf.

Der damalige König von Marokko, Sultan Mohammed Yusuf, nahm trotz der Drohungen des französischen Vichy-Regimes tausende von diesen haymatlos gemachten Jüd*innen auf.  Er widersetzte sich auch dem Druck der spanischen Faschisten und hielt sein Land weiterhin offen für Geflüchtete. Der türkische Generalkonsul auf Rhodos verhalf mehreren hunderten Jüd*innen zur Flucht in die damals relativ neu gegründete Türkei. Der türkische Generalkonsul in Marseille, stellte fast 19.000 verfolgten Jud*innen einen türkischen Pass aus. Diese Menschen wurden für ihre Verdienste von Israel mit dem Titel Gerechter unter den Völkern geehrt.

Vor der Türkei war auch das Osmanische Reich ein Migrationsziel für Verfolgte, insbesondere von Jud*innen, die etwa vor den Zwangspredigten der katholischen Kirche in Italien, der Reconquista in Spanien oder den Pogromen in Osteuropa auf osmanisches Gebiet flohen. Die jüdischen Gemeinden in Sarajevo errichteten ihre Tempel, die sonst in Richtung Jerusalem ausgerichtet werden, in Richtung Mekka, um ihre Anerkennung gegenüber den Osmanen auszudrücken. Warum jetzt diese langweilige Geschichtsstunde? Weil in etlichen Unterrichtsstunden zum Zweiten Weltkrieg nie die Solidarität und die Unterstützung des Globalen Südens für die Vertriebenen dieses Krieges erwähnt wird.

Ganz abgesehen vom Thema Flucht tauchte das komplette Osmanische Reich in meinen Geschichtsbüchern nicht auf, ebenso wie das Kontinent Afrika, mal abgesehen von einer Randnotiz zum alten Ägypten. Nord- und Südamerika, Indien, China, sie wurden nur dann interessant, wenn sie im Zusammenhang mit den europäischen Kolonialbestrebungen standen. Als hätten diese Weltregionen zuvor nicht existiert. Für einige ist das sicher eine Kleinigkeit, aber aus solchen kleinen Bauklötzen entsteht unser Urteil über unsere Mitwelt. In der Schule wird nicht nur Wissen vermittelt, sondern auch ein rassistisches Muster angelegt, welche Fakten es wert sind, gelernt zu werden. So entstehen ein gläserner, faktenreicher Westen und ein dunkler Osten und Süden. Hier sind dann in Folge die Zivilisierten und dort die Unzivilisierten.

Gerade jetzt erfrieren weiterhin Menschen an den EU-Außengrenzen, werden auf Booten ins offene Meer getrieben. Das Mittelmeer ist der größte Friedhof der EU. Aber diese Menschen sehen nicht so aus wie wir, sind nicht zivilisiert, ihre Kinder, die weinen, sind vielleicht nicht blond. Haben wir wirklich ein universelles Verständnis von Menschenrechten und dem Recht auf Flucht oder folgt unsere Empathie letztendlich nur einem rassistischen Muster?

Und ich, hätte ich gerade in der Ukraine studiert oder gearbeitet: Ich hätte zu jenen gehört, die aus Bussen und Zügen rausgezerrt, von Grenzbeamten abgewiesen worden wären. Ein brauner Mann, ein queerer Mann. Nicht wie wir, unzivilisiert.

Friedensaufruf „Niemand will Krieg“ auf dem Schaufenster eines Einzelhandels in der Aachener Innenstadt

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