Sommer

Baum, Kuh, mehr Bäume, mehr Kühe. Freibad in der Nachbargemeinde. Die ganze Kindheit und Jugend im Freibad. Immer mit Kalle, dem Bademeister, der seit Finns Seepferdchen zum Inventar des Freibads gehört, dem vielleicht das ganze Freibad gehört. Ohne Kalle kein Freibad. Lang lebe Kalle. Kalle sitzt den ganzen Tag in einer viel zu kurzen Badehose, halb von der Plauze verdeckt, auf einem weißen Plastikstuhl. Ertrinken im Freibad ist keine gute Idee. Kalle ist nicht motiviert genug, um sich hochzurappeln und irgendwen zu retten.

An einem drückend heißen Junitag: Unbekannte Augenpaare mustern Finn, schauen zuerst scheinbar zufällig, dann direkt, Blicke, die brennen, Finn weiß augenblicklich, er erlebt etwas Unglaubliches, etwas, das ihn sprachlos macht, sein Herz berührt, zum Rasen bringt, spürt im Inneren, dass diese Momente etwas in seinem ganzen Leben verändern könnten. Ihre Blicke verfolgen einander, legen Anstandspausen ein, finden sich wieder, verschmelzen für einen kurzen Herzschlag lang zu einer in sich ruhenden, stillen Einheit von zwei sich völlig fremden Jugendlichen. An der Eisdiele steht er neben Finn. Finn kann seine Haut riechen. Der ganze Sommer wird für ihn nach diesem Jungen riechen. Beiläufig berühren die Schultern, die Arme des unbekannten Jugendlichen Finns Arme, Finns Schulter. Brücken entstehen, die im nächsten Moment zerrissen werden. Zwei Jugendliche, die nicht wissen, was sie tun, die nicht wissen, wie sie es tun sollen, sie wissen nur, dass sie auf irgendeine magische Weise zueinander finden wollen und sich fragen, wie viel Risiko ihre jungen Körper tragen können? Wie viel Scham sie überwinden müssen? Wie sie es schaffen, zu zeigen, was bisher in diesem Freibad, in diesem Dorf, im nächsten Dorf, im übernächsten Dorf unsichtbar ist.

Finns Kopf dreht sich. Schaut jemand sie an, fallen sie auf? Denkt sich jemand etwas? Kennt jemand ihn? Dumme Frage, alle kennen sich. Kalle ist mit seinem Vater im Tischtennis-Verein. Aber dieser Junge ist neu, den kennt niemand. Vielleicht ist er deshalb mutig, schaut deshalb herausfordernd, als gäbe es nichts zu verlieren. Finn möchte ihm sagen, wie schön seine blauen Augen sind, wie Saphire möchte er noch sagen. Sind Saphire blau, fragt er sich, egal. Wollen wir was machen, möchte Finn fragen. Was genau, weiß er nicht, vielleicht einfach zusammen abhängen. Er würde gern mit ihm zu Fuß die sechs Kilometer zu seinem Elternhaus gehen, ihm sein Zimmer zeigen, mit ihm abends den Sonnenuntergang anschauen, im Blau seines Zimmers bis zum ersten Sonnenschein Geschichten aus seinem Leben erzählen. Aber schon ist die Gelegenheit vorbei. Das Eis ist bestellt, der Junge entfernt sich, dreht sich noch einmal um, schaut Finn an. Finn aber geht zu seinen Sachen, packt sie ein und verlässt das Freibad, ignoriert Kalles Gruß an den Papa, läuft den Feldweg entlang, beginnt zu rennen, bis er atemlos und mit Seitenstichen stehen bleibt. Er möchte aufschreien, fühlt sich wie ein Feigling, wünscht sich zurück zu gehen, wünscht sich, der Junge wäre noch da, wünscht sich, er wäre nicht mehr da, wünscht sich, er wäre ihm nie begegnet, wünscht sich, er würde ihn gleich im nächsten Augenblick wiedersehen. Vielleicht hat er gesehen, wie Finn hastig aufbrach, vielleicht ist er ihm hinterher gegangen, vielleicht, wenn er wartet, würde der Junge ihn einholen. Finn wartet tatsächlich eine Weile, bis er dann seinen Weg fortsetzt.

Diesen Nachmittag werde ich niemals vergessen, schreibt er in sein Tagebuch, traut sich keine Einzelheiten, auch wenn es sein Tagebuch ist. Die Mama ist schon sehr respektvoll, aber auch schon sehr neugierig. An diesem Nachmittag erblüht etwas in Finn, etwas Fligranes, das leicht kaputt gehen kann. Finn möchte alle Einzelheiten in Sekunden aufgeteilt in seinem Herzen aufzeichnen, damit er es wieder und wieder abspielen kann. Denn da draußen gab es keine Spuren. Das Freibad schrieb ihre Geschichte mit unsichtbarer Tinte.

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