Heepen
29. März 2022



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Über die Flecken der Ausziehcouch zieh ich die bereitgestellte Bettwäsche. Sie hat auch Flecken, ein Loch. Ein paar Tage später blute ich selber hinein, unbemerkt von mir war die Haut meiner Ellenbogen wieder aufgerissen. Am Ankunftstag, unterm freien Himmel, beim ersten Herumlaufen, das Gefühl gehabt, dass alle Lust mir möglich wäre und kurz da auch war. Es schreit jemand auf dem Flur, klingt aber nicht wie ein Hilferuf. In einer Schublade finde ich deckellose Tupperdosen, in der obersten gelagert eine Handvoll Deko-Gürkchen und ein wenig Staub. Ich packe die Gürkchen nicht aus. Zum Einzug hatten bereits drei Plastik-Papayas als Dekoration auf einem Glasteller gelegen, sie liegen nun, wegen Platz, auf dem Kleiderschrank. Eine Frau steht mit einer älteren Frau auf einer Brücke bei einem Teich und bläst Seifenblasen aufs Wasser, die ältere Frau schaut den Blasen hinterher. Während ich näher komm, guckt mich die Seifenbläserin länger an, grüßt, als ich vorüber geh, ich grüß zurück. Ich grüß auch weiter, bis zum Auszug eine Woche später, alle im Apartmentkomplex hier, aber ich werd dabei von Tag zu Tag verhaltener. Mein bisschen zittriger Enthusiasmus ist zu wenig für dieses Gelände, er reicht gerade so für das russisch und polnische Salzgurkensortiment ein paar hundert Meter weiter bei Getränke Hoffmann und vielleicht auch noch für Combi, den Verbrauchermarkt. Auch am Ankunftstag, gegen siebzehn Uhr, finde ich mich unter einer kleinen Fußgängerbrücke wieder, sie führt über einen mir noch unbekannten Bach (es wird die Lutter sein), ich stehe mit halb geducktem Kopf da und pinkel in ein Rohr hinein, das wiederum in den Bach, also die Lutter, fließt. Die Lutter selber geht zwischen den Gärten der Häuser hier entlang. Eigentlich wollte ich direkt an der Böschung urinieren, aber als ich schon dastand, tauchte weiter vorn am Bachweg ein älterer Herr in einem motorisierten Rollstuhl auf, und ich versteckte mich vor ihm. Er fuhr über mich hinweg, als ich gerade Wasser ließ, einen kleinen Hund dabei. Danach ging ich wieder Richtung Zentrum. Das Zentrum von Heepen wird übrigens von gut gekleideten Damen bestimmt und Frau Becker kommt bei Halfter zwei Tage die Woche rein zur Fußpflege, am besten rufen sie Montag nochmal an, die Nummer ist sechsmal die Drei.



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Erster Abend, Einräumen, ich lass den Fernseher dabei laufen, für die Stimmen. Auf SWR3 eine Sexbegleiterin mit einer lustigen blauen Brille, sie hat einmal einen Mann mit Demenz dazu bringen können, seine Farben wieder hervorzuholen, um sie Akt zu malen, davor hatte er eigentlich schon das Sprechen drangegeben. Das rührt mich. Auf dem Küchenschrank eine alte Silberfischfalle. Überraschend auch, dass der Interviewer einen guten Job zu machen scheint. Anschließend ZDFInfo, bis ich irgendwann einschlaf und dann auch wieder, als ich morgens um vier aufwach, da läuft etwas über Ägyptens Nildelta, einen Mann, der Taubenhäuser hat und Sorge darum, dass seine Tauben sich eines Tages in den Häusern seiner Konkurrenten niederlassen könnten. Zwischen Gardinen und Fenster kommt langsam das Morgenlicht. Ein Tag, an dem ich unter Anderem kurz zu Aldi gehe, vergeht, ich werde auch vom sehr netten Kulturbüro zu Nudeln eingeladen. Es wird Abend, das Licht geht aus und die Lichter gehen an, die Linie 22 kommt zum Stehen. Durch mein Fenster sehe ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Pflastersteinweg, der schnell in völliger Dunkelheit verschwindet. In dieser Dunkelheit stehen, während wir stehen, die blutorangene Haltestangen des Busses reflektiert, wie eine erste Idee für etwas. Ich folge meinem Bauchgefühl, steige nur eine Station zu früh aus. Am ersten Abend in Heepen gingen Familien übrigens zu Fuß zusammen nach Hause und an Folgetagen auf dem Weg in die Stadt ist das Sonnenlicht auf dem Wasser der Stauteiche in Fülle vorhanden, so wie der von Reifenprofilen aufgeformte Matsch am Rand der Wege und Einmündungen, schokoladenbraun und weich im Schatten schönen Wetters. Mein Gesicht drückt ein wenig in der Sonne. Das Rot dieser nicht essbaren Beeren im Geäst entlang der Teiche knallt fast. Weiter vorne im Braun und Grün erhebt sich ein ebenfalls knallroter Wintermantel von einer Bank, und in Bielefeld ist überall Vogelgezwitscher, selbst kurz vor Feierabend bei Karstadt, nahe dem Jahnplatz. Einzig den Vögeln ebenbürtig scheint der brüchige Stolz der Jugendlichen, ihre Begeisterung, die sie noch nicht verbergen können. In Gruppen, im Bus, vor Cinemaxx und kleine Faxen im Loom um in Kontakt zu kommen, und die beiden Mädchen kommen tatsächlich nochmal zurück, auf den Zuruf von dem Jungen, der bei Ihnen gerade einen Rolltreppentrick probiert hatte, seine Homies können es gar nicht fassen, sie stehen ein paar Meter weiter, schauen zu.


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Es gibt keinen Aufsatz für den Staubsauger, darüber hinaus springt er auf, wenn man ihn hochhebt. Ich kniee mich hin und sauge direkt mit dem Düsenstummel das Laminat in Wohnung 312 ab, jeden Morgen. Mir gefällt das Land hier, die Gewässer, die Gebäude. Auf Bänken pausierende Pensionierte, die sich anscheinend dem Trekking-Rad-Fahren verschrieben haben. Das gleichmäßige Rascheln der Funktionskleidung aneinander. Sonntags sehe ich durchs Unterholz der Heeper Felder auf einer Weide so etwas wie einen Büffel stehen. Artemis Grill (33 15 66) brachte übrigens eine große Portion noch am ersten Abend, Shoutout dafür. Ich schreibe in mein Notizbuch: Ich hoffe, ich kann die Üsseligkeit der Wohnung noch überwinden. Jetzt kann ich sagen: Ich konnte es nicht (Aber: Natürlich ist das subjektiv und eigentlich hätte ich natürlich alles gekonnt). An einem der ersten Nachmittage, gegen 16 Uhr, eine Stimme auf dem Flur, es wird an ein Nachbarapartment geklopft, die Frage „Bist du schon wach?“ bleibt unbeantwortet. Wenn man neu und fremd ist, schaut man die Leute immer etwas blöd und zu lange an und ich wurde vielleicht deswegen schon aus Verlegenheit das ein oder andere Mal gegrüßt (dagegen spricht allerdings: in Köln passierte mir das mit dem Gegrüßt-Werden manchmal auch). Ansonsten ist es nach dem Kino am Freitagabend beeindruckt, wie beklommen wir alle von der Vorführung sind, es wurde Wenn der Wind weht gezeigt, so ein Zeichentrickfilm über einen Nuklearangriff und, Spoiler: Sie überleben es alle nicht. Das Filmprogramm war schon entschieden, bevor der Krieg in der Ukraine los ging, aber es trifft natürlich dann jetzt irgendwie anders an dem Abend. Und so sitzen wir danach noch im Saal herum und vielleicht ist es am besten einfach kurz zu berichten, dass Susanne, die ich da kennen lerne, erzählt, dass sie auf dem Weg zum Kino hin in der Bahn versucht hatte einen Streit zwischen Jugendlichen zu schlichten, auf eine sehr umsichtige Art, wie mir aus ihrer Erzählung scheint, und fast damit Erfolg hatte.

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Auf dem Nachhauseweg vom Kino stehen wir irgendwann vor Bartsch (oder wie das Gasthaus auch immer hieß). Hier könnt es auch theoretisch noch ein alternatives Zimmer geben, ab April oder Mai. Das Haupthaus ist ganz schön, sieht alt aus. Durch die Straßenfenster im Erdgeschoß sehen wir Leute tanzen, paarweise, in einem kleinen Saal, Jim und Alexandra erkennen Leute, treten an die Fenster heran. Dann sind wir ums Haus herum und sehen den Anbau, Monteurwohnungen steht dran. Mir wird ein bisschen schlecht. Jim erzählt, dass sie in den Neunzigern viele auch internationale Punk-Größen dort unterbrachten. Was habe ich eigentlich in Graz damals in dem Wohnheim die ganze Zeit gemacht? Auf dem Stuhl vorm Laptop gesessen, mit dem angeschlossenen Zeichentablett, und über meine Abschlussarbeit verzweifelt. Ansonsten viele Stunden am Fenster verbracht, hinausgeraucht in den Frühling. Der Blick nun durchs Fenster von Apartment 312, über die Hecke und die kleine Straße hinweg in die offene Garage gegenüber und die Stücke von Häuser und Hecken dahinter, mitsamt eingestreuter Baumkronen, dieser Blick also, der ist ganz gut. Was mich auch tröstet ist, wie ernsthaft und schief ich den Jahreskalender (ein Poster aus dem Kulturbüro, hatte danach gefragt) an der Wand angebracht hab und dass ich nun das nötige Kleingeld besitz, für Imbissessen ab und zu. Die Verkäuferin bei Damisch auf dem Jahnplatz füllt die runde Pommesbude mit einer ganz lässigen Selbstverständlichkeit aus und überrascht mich damit, wie nett sie bei Bestellbeginn zu mir ist. Gleich nach mir kommen eine Mutter und eine Tochter, die Mutter fragt die Tochter: „Willst du auch was?“ Sie essen direkt beim Ausgabefenster. Ich dagegen geh den umlaufenden Tresen ein Stück herum, bevor ich beginn, Schüchternheit oder Corona-Regel Verunsicherung. Die Pommes haben Wellenschnitt, das ist selten. Einschub: Der Kleiderschrank in Heepen hat je einen Spiegel auf seinen Schiebetüren angebracht und ich bin zwischendurch ganz gut damit beschäftigt, mich immer mal wieder darin anzuschauen. Ich seh mein Gesicht allerdings nur, wenn ich ein gutes Stück in die Knie gehe. Im Bus, ganz plötzlich und zum ersten Mal seit Jahren, erinnere ich mich an das Rauchsalz, das mein Vater früher beim Essen verwandt hat, aber als ich ein paar Tage später im Gewürzregal bei Combi danach schau, finde ich es nicht. Auch nicht finden tun wir die Brille, die der ältere Mann im Einkaufswagenverschlag von Combi sucht, er hatte sie wohl in einem der Wagen vergessen gehabt und für mich klingt alles, was er sagt, wie pures Norddeutsch, denn ich hab noch nie so weit oben gewohnt wie jetzt.

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„Kennst du die?“ - halb eins morgens in einem Kiosk auf der Heeper, Kids hinterm Tresen, sie machen bisschen Partey, es läuft Deutschrap. Ich kenn die Rapperin allerdings nicht. Bin auch der Einzige mit Maske gerade, also verzögerte Gewitztheit. Coole Kids allerdings, muss nice sein, in seiner Jugend jemanden zu kennen, der in einem Kiosk schafft. Wieder draußen, höre ich von der Straßenseite gegenüber eine weiblich-klingende Stimmte: „Das Ding ist, ich hab sechzehn Jahre Fußball gespielt.“ Aus der gleichen Gruppe heißt es noch: „Sie war drei Jahre jünger.“ Am Wochenende finde ich schließlich einen Weg zwischen den Häusern hindurch und raus auf die Felder hinter Heepen. Gelbe, verdorrte Ähren, das Braun von Boden und Bäumen und ein verlassenes Gehöft ein bisschen weiter weg. Viele von den Bäumen auch wieder diese mit den dicken hängenden Ästen, von denen andere Äste wiederrum ganz aufrecht wegsprießen. Hat was von Macbeth oder so. Flaches theatralisches Land. Ansonsten wird viel gebaut am Siedlungsrand. Einen Sonntag zuvor, kurz vorm Auszug aus Köln, als Bella rüberkam und mir half, die Wohnung zu putzen (Side Note: Und ausversehen Laminatreiniger trank! Ging aber zum Glück glimpflich aus, war noch verdünnt gewesen. Ich sollte den nur nicht mehr in Wasserflaschen abfüllen...), lief auf ihrer Playlist Shake It Up von Divine. Auf dem eingeblendeten Cover eine Illustration von Divine, mit schneeweißem Haar und pinkem Top und Lippenstift und halt Divine. Nachdem ich Heepen verlassen haben werde, werde ich dieses Lied im Wohnzimmer der neuen Wohnung in der Ellerstraße immer wieder hören, ein bisschen excited werden, wenn „Your loving drives me crazy“ und „I wanna give you what I know you need“ einsetzt. Irgendwo muss man ja hin, mit all dem, was man so hat. Vor diesen kleinen Wohnzimmeraufregungen überquer ich aber noch am ersten und einzigen Sonntag in Heepen plötzlich mitsamt dem Ostring die sich schlängelnde Lutter und das Sonnenlicht springt von der Bachoberfläche in alle Richtungen, die Bäume, mir ins Gesicht. Eine Gruppe Menschen beim Spaziergang am Bach verlässt in diesem Moment den Weg und geht Richtung Ufer, ich sehe sie aus meiner überhöhten Position der Überführung aus und traue mich nicht sie bei ihrem Gang durchs Böschungsgras zu fotografieren. Sie wären ein passendes Abschlussbild geworden. Ah, und noch was ganz anderes: Die Sternzeichen an den Sternzeichenhäusern leuchten bei Nacht.
