Heepen

1 |

Über die Flecken der Ausziehcouch zieh ich die 
bereitgestellte Bettwäsche. Sie hat auch Flecken, ein 
Loch. Ein paar Tage später blute ich selber hinein, unbemerkt 
von mir war die Haut meiner Ellenbogen wieder aufgerissen. 

Am Ankunftstag, unterm freien Himmel, beim ersten
Herumlaufen, das Gefühl gehabt, dass alle Lust mir möglich 
wäre und kurz da auch war. 

Es schreit jemand auf dem Flur, klingt aber nicht wie ein Hilferuf. 

In einer Schublade finde ich deckellose Tupperdosen, in 
der obersten gelagert eine Handvoll Deko-Gürkchen und ein 
wenig Staub. Ich packe die Gürkchen nicht aus. Zum Einzug hatten 
bereits drei Plastik-Papayas als Dekoration auf einem Glasteller 
gelegen, sie liegen nun, wegen Platz, auf dem Kleiderschrank.
 
Eine Frau steht mit einer älteren Frau auf einer Brücke bei einem 
Teich und bläst Seifenblasen aufs Wasser, die ältere Frau schaut 
den Blasen hinterher. Während ich näher komm, guckt mich die 
Seifenbläserin länger an, grüßt, als ich vorüber geh, ich grüß zurück. 

Ich grüß auch weiter, bis zum Auszug eine Woche später, alle im
Apartmentkomplex hier, aber ich werd dabei von Tag zu Tag 
verhaltener. Mein bisschen zittriger Enthusiasmus ist zu wenig 
für dieses Gelände, er reicht gerade so für das russisch und 
polnische Salzgurkensortiment ein paar hundert Meter weiter 
bei Getränke Hoffmann und vielleicht auch noch für Combi, 
den Verbrauchermarkt.

Auch am Ankunftstag, gegen siebzehn Uhr, finde ich mich 
unter einer kleinen Fußgängerbrücke wieder, sie führt über 
einen mir noch unbekannten Bach (es wird die Lutter sein), ich 
stehe mit halb geducktem Kopf da und pinkel in ein Rohr 
hinein, das wiederum in den Bach, also die Lutter, fließt. Die 
Lutter selber geht zwischen den Gärten der Häuser hier
entlang. Eigentlich wollte ich direkt an der Böschung urinieren, 
aber als ich schon dastand, tauchte weiter vorn am Bachweg ein 
älterer Herr in einem motorisierten Rollstuhl auf, und ich versteckte
mich vor ihm. Er fuhr über mich hinweg, als ich gerade Wasser 
ließ, einen kleinen Hund dabei. Danach ging ich wieder Richtung 
Zentrum. Das Zentrum von Heepen wird übrigens von gut 
gekleideten Damen bestimmt und Frau Becker kommt bei Halfter 
zwei Tage die Woche rein zur Fußpflege, am besten rufen sie Montag 
nochmal an, die Nummer ist sechsmal die Drei. 

2 |

Erster Abend, Einräumen, ich lass den Fernseher dabei
laufen, für die Stimmen. Auf SWR3 eine Sexbegleiterin mit 
einer lustigen blauen Brille, sie hat einmal einen Mann mit Demenz 
dazu bringen können, seine Farben wieder hervorzuholen, um sie Akt zu 
malen, davor hatte er eigentlich schon das Sprechen drangegeben. Das
rührt mich. Auf dem Küchenschrank eine alte Silberfischfalle. Überraschend 
auch, dass der Interviewer einen guten Job zu machen scheint. Anschließend 
ZDFInfo, bis ich irgendwann einschlaf und dann auch wieder, als ich morgens 
um vier aufwach, da läuft etwas über Ägyptens Nildelta, einen Mann, der 
Taubenhäuser hat und Sorge darum, dass seine Tauben sich eines Tages 
in den Häusern seiner Konkurrenten niederlassen könnten. Zwischen 
Gardinen und Fenster kommt langsam das Morgenlicht. 

Ein Tag, an dem ich unter Anderem kurz zu Aldi gehe, vergeht, ich 
werde auch vom sehr netten Kulturbüro zu Nudeln eingeladen.

Es wird Abend, das Licht geht aus und die Lichter gehen an, die Linie 22 
kommt zum Stehen. Durch mein Fenster sehe ich auf der gegenüberliegenden 
Straßenseite einen Pflastersteinweg, der schnell in völliger Dunkelheit 
verschwindet. In dieser Dunkelheit stehen, während wir stehen, die 
blutorangene Haltestangen des Busses reflektiert, wie eine erste Idee 
für etwas. Ich folge meinem Bauchgefühl, steige nur eine Station zu früh aus. 

Am ersten Abend in Heepen gingen Familien übrigens zu Fuß zusammen 
nach Hause und an Folgetagen auf dem Weg in die Stadt ist das Sonnenlicht 
auf dem Wasser der Stauteiche in Fülle vorhanden, so wie der von 
Reifenprofilen aufgeformte Matsch am Rand der Wege und Einmündungen, 
schokoladenbraun und weich im Schatten schönen Wetters. Mein Gesicht 
drückt ein wenig in der Sonne. Das Rot dieser nicht essbaren Beeren im 
Geäst entlang der Teiche knallt fast. Weiter vorne im Braun und Grün erhebt
sich ein ebenfalls knallroter Wintermantel von einer Bank, und in Bielefeld ist 
überall Vogelgezwitscher, selbst kurz vor Feierabend bei Karstadt, nahe dem
Jahnplatz. Einzig den Vögeln ebenbürtig scheint der brüchige Stolz der 
Jugendlichen, ihre Begeisterung, die sie noch nicht verbergen können. In 
Gruppen, im Bus, vor Cinemaxx und kleine Faxen im Loom um in Kontakt 
zu kommen, und die beiden Mädchen kommen tatsächlich nochmal 
zurück, auf den Zuruf von dem Jungen, der bei Ihnen gerade einen 
Rolltreppentrick probiert hatte, seine Homies können es gar nicht 
fassen, sie stehen ein paar Meter weiter, schauen zu. 

3 |

Es gibt keinen Aufsatz für den Staubsauger, darüber hinaus springt 
er auf, wenn man ihn hochhebt. Ich kniee mich hin und sauge direkt 
mit dem Düsenstummel das Laminat in Wohnung 312 ab, jeden 
Morgen. Mir gefällt das Land hier, die Gewässer, die Gebäude. Auf 
Bänken pausierende Pensionierte, die sich anscheinend dem 
Trekking-Rad-Fahren verschrieben haben. Das gleichmäßige Rascheln 
der Funktionskleidung aneinander. Sonntags sehe ich durchs Unterholz der 
Heeper Felder auf einer Weide so etwas wie einen Büffel stehen. Artemis 
Grill (33 15 66) brachte übrigens eine große Portion noch am ersten Abend, 
Shoutout dafür. Ich schreibe in mein Notizbuch: Ich hoffe, ich kann die 
Üsseligkeit der Wohnung noch überwinden. Jetzt kann ich sagen: Ich konnte 
es nicht (Aber: Natürlich ist das subjektiv und eigentlich hätte ich natürlich
alles gekonnt). An einem der ersten Nachmittage, gegen 16 Uhr, eine Stimme 
auf dem Flur, es wird an ein Nachbarapartment geklopft, die Frage „Bist 
du schon wach?“ bleibt unbeantwortet. Wenn man neu und fremd ist, schaut 
man die Leute immer etwas blöd und zu lange an und ich wurde vielleicht 
deswegen schon aus Verlegenheit das ein oder andere Mal gegrüßt (dagegen
spricht allerdings: in Köln passierte mir das mit dem Gegrüßt-Werden 
manchmal auch). Ansonsten ist es nach dem Kino am Freitagabend 
beeindruckt, wie beklommen wir alle von der Vorführung sind, es wurde 
Wenn der Wind weht gezeigt, so ein Zeichentrickfilm über einen Nuklearangriff 
und, Spoiler: Sie überleben es alle nicht. Das Filmprogramm war schon 
entschieden, bevor der Krieg in der Ukraine los ging, aber es trifft natürlich 
dann jetzt irgendwie anders an dem Abend. Und so sitzen wir danach 
noch im Saal herum und vielleicht ist es am besten einfach kurz zu 
berichten, dass Susanne, die ich da kennen lerne, erzählt, dass 
sie auf dem Weg zum Kino hin in der Bahn versucht hatte einen Streit 
zwischen Jugendlichen zu schlichten, auf eine sehr umsichtige Art, wie mir 
aus ihrer Erzählung scheint, und fast damit Erfolg hatte. 

4 |

Auf dem Nachhauseweg vom Kino stehen wir irgendwann vor Bartsch 
(oder wie das Gasthaus auch immer hieß). Hier könnt es auch theoretisch 
noch ein alternatives Zimmer geben, ab April oder Mai. Das Haupthaus 
ist ganz schön, sieht alt aus. Durch die Straßenfenster im Erdgeschoß sehen 
wir Leute tanzen, paarweise, in einem kleinen Saal, Jim und Alexandra
erkennen Leute, treten an die Fenster heran. Dann sind wir ums Haus herum 
und sehen den Anbau, Monteurwohnungen steht dran. Mir wird ein bisschen 
schlecht. Jim erzählt, dass sie in den Neunzigern viele auch internationale
Punk-Größen dort unterbrachten. 

Was habe ich eigentlich in Graz damals in dem Wohnheim die ganze Zeit 
gemacht? Auf dem Stuhl vorm Laptop gesessen, mit dem angeschlossenen 
Zeichentablett, und über meine Abschlussarbeit verzweifelt. Ansonsten 
viele Stunden am Fenster verbracht, hinausgeraucht in den Frühling. Der 
Blick nun durchs Fenster von Apartment 312, über die Hecke und die
kleine Straße hinweg in die offene Garage gegenüber und die Stücke 
von Häuser und Hecken dahinter, mitsamt eingestreuter Baumkronen, 
dieser Blick also, der ist ganz gut. Was mich auch tröstet ist, wie ernsthaft 
und schief ich den Jahreskalender (ein Poster aus dem Kulturbüro, hatte 
danach gefragt) an der Wand angebracht hab und dass ich nun das nötige
Kleingeld besitz, für Imbissessen ab und zu. 

Die Verkäuferin bei Damisch auf dem Jahnplatz füllt die runde Pommesbude 
mit einer ganz lässigen Selbstverständlichkeit aus und überrascht mich damit, wie 
nett sie bei Bestellbeginn zu mir ist. Gleich nach mir kommen eine Mutter und 
eine Tochter, die Mutter fragt die Tochter: „Willst du auch was?“ Sie essen direkt 
beim Ausgabefenster. Ich dagegen geh den umlaufenden Tresen ein Stück 
herum, bevor ich beginn, Schüchternheit oder Corona-Regel Verunsicherung. Die 
Pommes haben Wellenschnitt, das ist selten. Einschub: Der Kleiderschrank in 
Heepen hat je einen Spiegel auf seinen Schiebetüren angebracht und ich bin 
zwischendurch ganz gut damit beschäftigt, mich immer mal wieder darin 
anzuschauen. Ich seh mein Gesicht allerdings nur, wenn ich ein gutes Stück 
in die Knie gehe.

Im Bus, ganz plötzlich und zum ersten Mal seit Jahren, erinnere ich mich 
an das Rauchsalz, das mein Vater früher beim Essen verwandt hat, aber 
als ich ein paar Tage später im Gewürzregal bei Combi danach schau, finde 
ich es nicht. Auch nicht finden tun wir die Brille, die der ältere Mann im 
Einkaufswagenverschlag von Combi sucht, er hatte sie wohl in einem der 
Wagen vergessen gehabt und für mich klingt alles, was er sagt, wie pures 
Norddeutsch, denn ich hab noch nie so weit oben gewohnt wie jetzt.

5 |

„Kennst du die?“ - halb eins morgens in einem Kiosk auf der 
Heeper, Kids hinterm Tresen, sie machen bisschen Partey, es 
läuft Deutschrap. Ich kenn die Rapperin allerdings nicht. Bin 
auch der Einzige mit Maske gerade, also verzögerte Gewitztheit. Coole 
Kids allerdings, muss nice sein, in seiner Jugend jemanden zu kennen, der 
in einem Kiosk schafft. Wieder draußen, höre ich von der Straßenseite 
gegenüber eine weiblich-klingende Stimmte: „Das Ding ist, ich hab 
sechzehn Jahre Fußball gespielt.“ Aus der gleichen Gruppe heißt es 
noch: „Sie war drei Jahre jünger.“ 

Am Wochenende finde ich schließlich einen Weg zwischen den Häusern 
hindurch und raus auf die Felder hinter Heepen. Gelbe, verdorrte Ähren, das 
Braun von Boden und Bäumen und ein verlassenes Gehöft ein bisschen 
weiter weg. Viele von den Bäumen auch wieder diese mit den dicken 
hängenden Ästen, von denen andere Äste wiederrum ganz aufrecht 
wegsprießen. Hat was von Macbeth oder so. Flaches theatralisches Land. 
Ansonsten wird viel gebaut am Siedlungsrand.

Einen Sonntag zuvor, kurz vorm Auszug aus Köln, als Bella rüberkam 
und mir half, die Wohnung zu putzen (Side Note: Und ausversehen 
Laminatreiniger trank! Ging aber zum Glück glimpflich aus, war noch
verdünnt gewesen. Ich sollte den nur nicht mehr in Wasserflaschen 
abfüllen...), lief auf ihrer Playlist Shake It Up von Divine. Auf dem 
eingeblendeten Cover eine Illustration von Divine, mit schneeweißem 
Haar und pinkem Top und Lippenstift und halt Divine. Nachdem ich 
Heepen verlassen haben werde, werde ich dieses Lied im Wohnzimmer 
der neuen Wohnung in der Ellerstraße immer wieder hören, ein bisschen
excited werden, wenn „Your loving drives me crazy“ und „I wanna give 
you what I know you need“ einsetzt. Irgendwo muss man ja hin, mit 
all dem, was man so hat.

Vor diesen kleinen Wohnzimmeraufregungen überquer ich aber noch
am ersten und einzigen Sonntag in Heepen plötzlich mitsamt dem 
Ostring die sich schlängelnde Lutter und das Sonnenlicht springt von der 
Bachoberfläche in alle Richtungen, die Bäume, mir ins Gesicht. Eine 
Gruppe Menschen beim Spaziergang am Bach verlässt in diesem
Moment den Weg und geht Richtung Ufer, ich sehe sie aus meiner 
überhöhten Position der Überführung aus und traue mich nicht 
sie bei ihrem Gang durchs Böschungsgras zu fotografieren. Sie 
wären ein passendes Abschlussbild geworden.

Ah, und noch was ganz anderes: Die Sternzeichen an den 
Sternzeichenhäusern leuchten bei Nacht.
Verpixelte Detailaufnahme eines Industrieschornsteins

Mehr von Tobias Schulenburg