Angst & Zeit
6. Juni 2022
Die Angst verläuft durch einen
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Es ist Mitte März und ich habe eine Lieblingsbank gefunden, auf dem Johannisfriedhof, unter einem Nadelbaum. Seine Äste so tief, dass ich mich bücken muss, um zu ihr hinzukommen. Wie unter einem Hut oder in einer Hütte sitzt man da. Was mir auch gefällt: Die Bank ist nicht auf den wirklich schönen Friedhof gerichtet, sondern angewinkelt, sodass man, da sie sich außerdem an der Friedhofsgrenze befindet, auf die gewundenen Auf- und Abfahrten des Ostwestfalendamms schaut, der hier entlang läuft. Man sieht auch den Damm selber, die ihn begleitenden Bahntrassen, dazu Industriehallen, von Dr. Oetker. Eine Friedhofsbank, um fahrende Auto zu schauen. Ich bin da und leg den Kopf in den Nacken, seh in das zunehmende Dunkel der Äste über mir, wie immer, wenn ich so ins Astwerk gucke, hoffe ich, dass mir keine Insekten ins Gesicht fallen. Die Autos zwischen den Büschen vor mir, wie Autos halt. Nochmal bin ich an der Bank, um eine Zeichnung vom Ausblick zu versuchen, es kommt ein Mann mit Helm vorbei, ich mach, auf sein Ausrufen hin, das Victory-Zeichen für ihn, nicht aber für seine Begleitung, die guckt nach vorn. An einem Feierabend mit viel Wind und Regen Anfang April bin ich erneut da und bemerke, dass ich auch jetzt noch, dank des Nadelbaums, nahezu vollkommen trocken auf ihr sitzen kann. Die Bank ist eine, die gibt und gibt. Trotzdem bin ich, nach diesen ersten drei Besuchen, nie wieder bei ihr gewesen.
Frage |
Wie kommen die Flecken auf die Kassennummerntafeln bei Netto? Sie sind aus Glas, mit aufgeklebten Ziffern und hängen mehr als zwei Meter hoch, direkt überm Kassenband, aber sie sind mit Flecken gesprenkelt, als wären sie Badezimmerspiegel.
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Für einen kurzen Zeitraum im April denke ich, dass es überall blühende Magnolienbäume geben müsste, hier in der Region, und die Referenzmenge für diese Annahme sind dann aber doch eher nur die Vorgärten aus betuchteren Straßenzügen, in Gütersloh und Bielefeld.
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Auch im Bielefelder Westen ein eiergelber Altbau mit himmelblauen Fenstern, alles wie vor Kurzem gestrichen. Lässt das Haus fast schweben. Beim Vorbeikommen möchte ich hinein beißen, oder so. Noch ein nahezu Hunger erweckendes Architekturdetail sind die leuchtend grünen Beifenster, die mir zum ersten Mal an einem Altbau in der Moltkestraße in Gütersloh auffallen. Etwas später realisiere ich, dass es nur ein paar Häuser weiter von meiner eigenen, zweiten Unterkunft, in der Ellerstraße, auch so ein Haus mit grünen Fenstern gibt, waldmeisterschimmernd, gleich daneben wohnt der nette Verkäufer aus dem Second Hand Computerladen, den ich, solange ich dort wohne, manchmal auf der Straße treff, er lädt mich ein, dazu zu kommen, sollte ich ihn mal auf dem Siggi sitzen sehen. Er hat, nach eigenen Angaben, fünf Bücher in seinem Leben gelesen, eins davon war ein Sciene-Fiction Roman über Kommunisten auf dem Mond, während eines Auslandjahres, er ließ das Buch da, vergaß den Titel, doch seine Tante, ein großer Sci-Fi Fan, konnte ihm, nach nur ein oder zwei beschreibenden Sätzen, gleich den richtigen Titel wieder nennen – es war wohl etwas von Ursula K. Le Guin gewesen.
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Auf der vierten Etage von einem der Apartmentgebäude auf der Danziger Straße ein riesiger Deko-Schmetterling, an einer Balkonwand angebracht, bestimmt einen halben Meter im Durchmesser, und er wirkt, zumindest von hier unten, im Mittagsblau, sehr naturgetreu, nahezu erschreckend naturgetreu.
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Ich glaube, im April war das, da besucht für zwei, drei Wochen jeden Abend ein ganz bestimmter Singvogel die Gärten nach hinten raus in der Ellerstraße, ich kann ihn selbst durch geschlossene Fenster hören, er taucht immer zwischen acht und neun auf, vielleicht für ein Viertelstündchen. Es muss dieser Vogel sein, der Umweltgeräusche aufnehmen kann, denn sein sehr Varianten-reicher Vortrag ist jedes Mal gespickt von Geräuschen, die eigentlich nur wie das gesungene Schließsignal von Autotüren klingen. Ich beginne, mich auf seine Gesänge zu freuen. Hier ist mal jemand, der es versteht, sehr direkt aus Wahrnehmung Kunst zu machen.
6a |
Mitte März passiert mir noch etwas, das mir so glaube ich noch nie bis dahin passiert ist, ich schreie einen Mitarbeiter in einer Hotline an. Es ist ein Kaltanruf meiner Sparkasse, Köln-Bonn, mit dem Mitarbeiter habe ich bis dahin noch nie gesprochen gehabt, und ich solle doch langsam mal den neuen AGBs zustimmen, ich sei einer der Allerletzten, die das noch nicht gemacht hätten, und grundsätzlich wünsche sich die Sparkasse von nun an nur noch Kunden, die sie, als Bank, auch zu schätzen wüssten – da vergess‘ ich mich ein wenig. Es hatte aber auch schon nicht so gut angefangen, der Mitarbeiter hatte mich, als ich seinen Anruf entgegennahm, erst für einen Anrufbeantworter gehalten.
6b |
Am selben Abend komme ich, über die Straße namens Morgenbreede, an der Rückseite des riesigen Uni-Hauptgebäudes an, es ist mein erstes Mal hier oben am Berg, der Himmel schon im dunkelsten Blau. Sichtbar sind fünf Gebäudeflügel, hoch, durch einen Haupttrakt in ihrer Mitte verbunden. Eine Wiese fällt von der Straße zum Gebäudekomplex hinunter. Auffällig auch ein Lichtband in Form einer fast über den gesamten Komplex hell erleuchteten Etage, wahrscheinlich die Bibliothek. Vereinzelte Menschen, aus den Flügeln kommend, Wege in der Wiese hochlaufend. Alles zusammen ist es ein ziemlich brutalistisches Feuerwerk, an einem Dienstagabend. Und dann ist da, bis hoch hin zur Straße hier, vor allem wieder eins zur hören: Vögel. Die Schwarmgeräusche kommen aus dem Innehof zwischen den ersten beiden Gebäudeflügeln, der Großteil der Fläche dort ist eingezäunt, Baustelle, ein Kran ragt in die Höhe. Ein matschiger Pfad führt um die Ecke und zwischen Gebäude und Bauzaun entlang, nach einem kurzen Stück erkenn ich den Baum, aus dem die Geräusche kommen müssen. Zwischen dem Astwerk die schwarze Ausformungen der Vögel, sitzend, am reden. Ich bin noch gut zwanzig Meter entfernt, da verstummen sie, ich bleibe stehen. Zurückdrehen – sonst ist niemand hier im Innenhof, oben vereinzelt Leute, auf der Morgenbreede. Dann eine Stimme, noch eine, noch eine und immer noch eine, aus dem Baum und auch den umstehenden Bäumen und von den Gebäudekanten und -vorsprüngen hinweg, über mir und überall nun die Stimmen der Vögel. Sie reden über mich. Ich setzte meinen Gang fort, auf den Baum zu, es wird noch lauter, nur noch ein paar Schritte, dann besser aber wieder Stehenbleiben, jetzt wirklich, ich sollte es nicht ausreizen, da steigen die ersten Vögel auf, fliegen in einem Kreis zwischen den Gebäuden entlang, ich versuche, sie gegen den Schein des Baustellenscheinwerfers zu erkennen. Sowas wie Raben vielleicht, aber eigentlich zu klein. Mit meinen Gedanken gebe ich dieser Spähergruppe zu verstehen, dass alles okay sei, dass ich nur gucken will. Sie kreisen zwei, drei Mal, gleich werden sie wieder landen – da macht es ein riesiges Geflatter und der Baum verliert, ein zweites Mal in diesem doch fast schon beendeten Winter, seine Blätter. Sie erheben sich aus ihm, in Kreisen, fliegen zuerst niedrig zwischen den Gebäudeflügeln umher, vielleicht wollen sie hoch aufs Dach!, stürzen dann aber doch weg, vom Gebäude und voneinander, und hoch über die Wiese sich verteilend zur Straße mit ihrer Allee, außerhalb meines Sichtfeldes. Stille. Auf der Hälfte des Weges direkt über die Wiese zurück, drehe ich mich nochmal um. Ich meine, einen Teil von ihnen ist bereits wieder im Baum sitzen zu hören. Auf dem Rückweg den Berg hinunter, das vereinzelte Licht der Fenster in den Häusern, die Straßen rauf und runter, wie Inseln in der Nacht.
Frage |
Warum kann ich nicht Nein sagen?
7a |
Gestern den ersten Abend in der neuesten, dritten, letzten Wohnung verbracht: Nach der Ausstrahlung von Go Trabi Go auf dem beeindruckend fetten Fernseher, das Licht im Zimmer ausgemacht, und von der Couch aus liegend in das riesige schwarze Loch geschaut, dass das Wohnungsfenster zum Hinterhof ist. Hat man das Licht an und steht im Zimmer, ist es wie ein Spiegel, in dem man nur sich selber sehen kann, ängstlich versuchend, etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Die Wohnung liegt im Erdgeschoss. Direkt an das Fenster heran ragt wild wachsendes Gras, Brombeeren, Insekten klickern tagsüber wie Steine dagegen. Ich liege im Dunkeln auf der Couch, meine Beine über eins ihrer Enden geworfen, sie wurde nicht zum Liegen gemacht. Die Dunkelheit im Zimmer und vor dem Fenster weicht langsam etwas Anderem, in dem das hohe Gras und die Äste der Kirsche im Hinterhof vor den Wolken wippend und wehend erscheinen, auch anderes taucht auf, in Silhouetten, der Nachbarszaun, die Bäume, die Industriehalle, die den Hof nach hinten hin begrenzt, der Nachthimmel dazu, als sowas wie ein Hintergrund. Natürlich läuft auch Musik, im Zimmer. Von circa sechszehn bis zwanzig habe ich, wie mir nun auffällt, schon relativ viel Zeit nachts draußen im Dunkeln verbracht, allein und mit Freunden, irgendwie hockten wir immer in irgendeinem Park oder an einem Ufer oder bei wem im Garten oder ich war wieder auf einem dieser irre langen Nachhausewege unterwegs. Jetzt lass ich die Dunkelheit durchs Zimmer kommen, die neue Wohnung einweihen, damit ich, in ein paar Tagen, nicht bei Einbruch der Dunkelheit gleich immer die Vorhänge zuziehen muss, sondern unbeeindruckt neben dem schwarzen Spiegel des Fensters bis weit über Mitternacht Fernsehen oder Laptop schauen kann.
7b |
Am nächsten Tag und die Tage darauf, fallen die Blüten des riesigen Kirschbaums als Schnee in das Dickicht des Hinterhofs, die Brombeeren und Brennnesseln und der Weizen und was auch immer sonst noch da wächst nehmen die weißen Flocken auf, wollen selber über den Rand meiner Fensterbank.
Wenn einen die Angst nicht umkreist, verläuft sie durch einen.
Nachtrag |
Wenn man das riesige Fenster weit kippt, hört man jetzt, im beginnenden Sommer, die Tauben und andere Vögel durchs Blattwerk tappen, und die Blätter von allem Rauschen und Rascheln im fortwährenden Wind, wie Gewässer selber, oder wie Treibgut im Ozean der Luft. Ab- wechselnd dazu die Kinderschreie von hinterm Nachbarszaun und gestern Abend sogar, ein paar Häuser weiter, eine ganze Feier mit Anlagenmusik, bei der aber auch vor allem nur Kinder bis in die Nacht mitsangen, während sich hinterm Nachbarszaun zwei Männer ab und zu etwas sagten. Ich hörte Musik.
Nur Zeit hast du genug
1 |
Die Stängel der schon kahlgeblasenen ehemaligen Löwenzähne im Gras.
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In der Lokalzeit bei WDR empfindet der Moderator mein Hiersein laut seiner Anmoderation als: seltsam und harmlos und nett, und, vor allem aber, und das sollte einen hellhörig machen, wenn es einem selber gilt: als von den Steuergeldern der Zuschauer bezahlt.
3 |
Für eine knappe Zigarette sitz der Koch von SuuTje neben mir draußen auf der Bank, Martin bezahlt da gerade drinnen. Wir waren vor Ladenöffnung dagewesen, hatten aber trotzdem für ein Getränk schon Platz bekommen. Der Koch erzählt, er ist seit 15 Jahren in der Gastro, und er verachte Küche aus dem Tiefkühler. Er möchte sein Gemüse sehen. Hier kommt alles vom Markt, und dabei deutet er auf den Siegfriedplatz. 70 bis 80 Gerichte an einem typischen Tag. Er ist alleine da unten, nur in Stoßzeiten kommt manchmal Emre (das ist glaub ich der Chef) dazu, hilft was mit. Das Wichtigste: Alles so zu machen, dass man Zeit, das heißt: Schritte spart. So hat man ihm das damals beigebracht. Außerdem immer die Dinge parallel abwickeln. Wenn 15 Zettel gleichzeitig unten hängen, will keiner von denen erst in 1 ½ h sein Essen bekommen. Schließlich: Mit jeder neuen Küche lernt man auch das Kochen ein bisschen wieder neu. Er ist lässig. Manchmal fällt ihm die Asche seiner Zigarette auf die Brust, er wischt sie dann weg. Kippenende. Es geht los.
Einschub |
Ich habe noch nie ein Gedicht darüber geschrieben, wie meine Freunde alle Tiere werden und wir zusammen Baden gehen.
4a |
Es gibt keine Kneipenkultur in Bielefeld, sagt Thea, und es wirkt so, als ob sie Recht hätte, wo ich mir versuche, Kneipen in Erinnerung zu rufen, von meinen bisherigen Wegen. In Köln gibt es gefühlt auf fast jeder Ecke eine. Ich frage Thea, wo die Leute dann trinken gehen, aber irgendwie bleibt die Frage unbeantwortet. Auf dem Kesselbrink, klar, und auf dieser einen Bank z.B. im Grünstreifen vor Stauteich #2. Auch in die Dünen am Hauptbahnhof-Park, da bei der Tüte, kann man wohl gehen. Und vielleicht auch auf die Treppen von der Rückseite vom Bahnhof, zum neuen Bahnhofsviertel rauf. Aber das alles, das reicht doch nicht.
4b |
Thea zeigt mir die Instagram- bzw. die Influener-Allee, eine lange, leicht gebogene Straße vom Ende der Innenstadt am Ostbahnhof bis hin zur Radrennbahn kurz vor Heepen, und eigentlich sähe sie, die Straße, fast trist aus, unauffällig gleichmäßiger Wohnungsbau entlang von ihr, mehr oder weniger, wie halt in allen Vorstädten, die ich so kenne, aber, und das ist halt der Clou, die ganze Straße entlang läuft eine Allee aus Kirschbäumen. Der Boden ist voll von deren rosa und pinken Blütenblättern, und vor noch ein paar Tagen muss es hier richtig heftig ausgesehen haben. Wir sind leicht zu spät, die Blüte hat ihren Zenith schon überschritten, und trotzdem wirkt es immer noch imposant. Am zweiten Tag in OWL, Anfang März, als ich zum ersten Essen mit dem Kulturbüro lief, kam ich schonmal hier entlang, aber da war alles noch märzlich und karg und mir fehlte die Aufmerksamkeit, zu realisieren, was das für Bäume waren. Die Anwohner beschweren sich anscheinend übrigens regelmäßig über all die Leute, die hier Fotos machen. Ich mach dann auch eins und merk sofort, dass uns jemand mit Schnäuzer beobachtet, aus der obersten Etage des Hauses vor uns. Ich grüße zaghaft.
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Die Fußpflege bei Swetlana findet in einem nahezu leeren und so noch größer wirkenden Raum statt, der früher mal als Büro gedient haben muss. Ich bin die ganze Behandlung lang mit der Nase fast unter den quadratischen Paneelen der damit abgehangenen Decke, diese Decke zusammen mit den Lamellenjalousien für mich schon immer das Inbild von Office gewesen. Ist ein gutes Gefühl. Dinge werden immer realer, wenn sie an einem Ort stattfinden, der mal für was anders bestimmt war.
6 |
Wir schauen den einen der zwei Bären im Tierpark an, und ich glaube, ein bisschen unwohl ist uns allen dabei, Edda, Niklas und mir. Er liegt auf einer Wiese weiter oben, ich versuche die meiste Zeit, im Fell seine Augen auszumachen, frage mich, ob er sie einfach immer zu lässt. Dann blinzeln aber doch zwei schwarze Knöpfe hervor. Er liegt so da. Als wir um das Gehege herum den Pfad weiter hoch sind, zu den Silberfüchsen, findet Niklas den zweiten Bären, eine Sie, sie bewegt sich nah an der Wand zum überdachten und tagsüber vielleicht verschlossenen Gehege entlang, außerhalb des Blickfeldes der Besucher, die von unten immer wieder zu ihnen oder zu sich selber rufen.
Einschub |
Ich habe noch nie ein Gedicht darüber geschrieben, wie Leute vor meinen frisch geputzten Fenstern fliegen. Ich habe noch nie meine Fenster geputzt.
7 |
Ich steh an einem der oberen Teiche des Johannisbaches, eine Ente mit schön schimmernden Gefieder schwimmt auf ihm herum. Es ist auch ein Reiher da, der tatsächlich bei meinem Kommen nicht Reißaus genommen hat, nur ein paar Meter von mir entfernt hebt er seine Beine weiter langsam durch den Morast. Es ist alles sehr schön.
8 |
Ich finde im Spiegel eines Abends, als ich eher gestresst bin (oder war es an einem Morgen?) auf meinem schütteren Kopfhaar eine graue Strähne, ganz vorne und mittig. Wie konnte sie mir bisher entgangen sein? Und in meinem Stress denke ich mir: Das habt ihr mit mir gemacht. Wer auch immer „ihr“ ist.
9 |
Vier oder fünf Dudes in einem Café im Stieghorst Carré und sie unterhalten sich angeregt und sich gegenseitig bestärkend über ihre Sorgerechts-Probleme bzw. eher über die damit verbundenen Unterhaltszahlungen. Einem wurde wohl von seiner Schwiegermutter ordentlich Feuer gemacht. Sie sehen cool aus.
Einschub |
Ich habe noch nie ein Gedicht über ausgedachte Autos geschrieben.
10 |
Im Netto eines Abends auch eine lässige Girltruppe. Ich hör sie zum ersten Mal in meinem Rücken, als ich vorm Weinregal steh, sie beraten, ob sie ein oder zwei Flaschen Vodka brauchen, und die Argumentation wird dann schnell von einer von ihnen übernommen, sie seien ja: „Eins, zwei, drei, vier, Sanny – Fünf“, und eine Flasche reiche da sicher nicht. An der Kasse stehen sie vor mir und haben einen tatsächlich legendär wirkenden Einkauf gemacht: Die zwei besprochenen Flaschen Vodka (und ich vergess leider, darauf zu achten, ob es Marken- oder Discountware ist), dazu Bitter Lemon und Cola von der Netto- Eigenmarke. Zwei von Ihnen bezahlen außerdem vorab noch eine Packung Toast und eine Packung Scheibenkäse. Es hat fast was Gemütliches, ich frag mich, ob sie sich nur irgendwo zuhause abschießen wollen oder ob sie auch noch ausgehen werden, ihr Look gibt da irgendwie keinen klaren Aufschluss drauf. Sie lachen viel und der ebenfalls noch junge Verkäufer müht sich dann noch ziemlich ausgiebig an den Sicherheitsverschlüssen der Vodkaflaschen ab, er muss beide etliche Male auf die Kante seines Kassentisches hauen, bis sie endlich nachgeben, aufgehen.
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Larissa erzählt von Spinnen im Netz, die ihre Fühler überall hin ausstrecken – also, damit sind jetzt kulturelle und öffentliche Akteure gemeint.
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Alexandra und ich stranden für eine Zeit in dem Bistro am Flugplatz in der Senne, weil gerade der Rand von dem Gewitter vorüberzieht, das wohl in anderen Teilen OWLs für ziemlich viel Aufregung sorgen wird. Zum Glück noch vor meiner Großbestellung Pizza merke ich, dass ich fast kein Bargeld dabei habe, Alexandra wohl auch nicht, schade für die Cipolla ist es allerdings. Wie in jedem Etablissement wünsch ich mir auf eine vielleicht unangenehme Art, von den Mitarbeitenden, hier der Wirtin, gemocht zu werden. Der Regen zieht vorüber, Alexandra zeigt mir ihren alten Grundschulweg, der zwischendurch aus Trampelpfaden durch die Waldstücke hinter den Siedlungen besteht. Auf dem Sennefriedhof vorher und auch in den Gärten der Siedlungshäuser der Rhododendron in vollster Blüte, die Sträucher selber riesige Kugeln, aus denen dann wieder hunderte rosa und lila Puscheln steigen. Auch auf dem Friedhof, der Abschnitt mit den schwarzen Grabsteinen, die alle fast fotorealistisch- wirkende Abbildungen der Verstorbenen trugen.
Einschub |
Ich habe noch nie ein Gedicht über Venedig, bei Tag oder bei Nacht, geschrieben.
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Ein interessantes Detail am Kulturhaus Ost, das mal früher eine FH oder Berufsschule o. Ä. gewesen sein muss, das Alexandra und ich entdecken, als wir nochmal durchlaufen, bevor das Haus sehr kurzfristig von der Stadt umfunktioniert werden wird: An einer Außenmauer zum Hof hin sind diverse Gussplatten an der Wand montiert. Teils landwirtschaftlich-romantische Motive, teils abstrakt gemustert. Es handelt sich laut einer Plakette um Bewitterungstest der jeweiligen Materialien, aus denen die Platten sind, diese werden auch angegeben, die Codes dafür sagen mir aber leider rein gar nichts. Laut der Plakette hängen die Platten seit Herbst 1977 hier. Und wie ist der Bewitterungsgrad ausgefallen? Das ist das Einzige, was man nicht mehr nachvollziehen kann, denn irgendwann wurden sie flächendeckend übersprayt. Alexandra sagt, dass sei ja auch eine Form der Witterung. Ich bin zu spät angekommen, um das Kulturhaus Ost noch wirklich mitzukriegen, aber in den kommenden Wochen und Monaten ist die Traurigkeit über dessen Schließung allen ehemals dort arbeitenden Künstlerinnen anzumerken, die ich hier und da treff, und vielleicht ist diese Traurigkeit auch ein guter Indikatior dafür, was dieser Ort für die, wie man sie so schön nennt, Kulturlandschaft hier bedeutet haben muss.
14 |
Im Stieghorst Carré steh ich in einer Bäckerei und versuch mich am Lustigsein: Während ich hinter der Theke warte, krieg ich mit, wie eine ältere Mitarbeiterin zu einer Jüngeren sagt: „Du kannst mich auch Jasmin nennen“, und als sich diese mir zuwendet, sage ich zu ihr: „Sie können mich auch Jasmin nennen“. Die Mitarbeiterin lächelt etwas irritiert, ich bestell einen Kaffeestreifen. Zwischen Wunsch und Wirklichkeit ein Tal, darin lauert der Cringe.
Nachtrag |
Ich hab noch nie ein Gedicht über eine Erweckungsgemeinde geschrieben.
Nachtrag |
Ich hab noch nie ein Gedicht über Raumfahrt geschrieben.
Nachtrag |
Ich hab noch nie ein Gedicht über Liebe geschrieben.
Nachtrag |
Ich hab noch nie ein Gedicht geschrieben, in dem ich um Verzeihung bitte.
Wenn ich nur wüsste, wie viel Zeit ich hab.