Sorge

Titel: Die Frage nach der Sorge und Pflege taucht auf, taucht immer wieder auf, in den Ecken und auf den Oberflächen der Dinge und Körper

1. Ziemlich langer Prolog, mit der Überschrift: Sich zu helfen wissen

1.1 |

Am ersten Aprilmontag steht der klingelnde Tür-zu-Tür Eintreiber vom 
Arbeiter-Samariter-Bund gleich schon vor der Wohnungstür (Alexandra 
und ich sitzen da noch an den Postern für die Schreibwerkstatt) und sagt 
mir, dass die Wohnungstüre gerade aufgestanden hätte, ich denke mir, nicht 
schon wieder. Ich hab die fünf Minuten, nach denen er fragt, und er betont in 
ihnen mehrmals, dass fünf Euro im Monat eine Entscheidung des Willens seien, 
keine des Portmonees, es ist also auf jeden Fall irgendwie meine Schuld. Als er 
realisiert, dass ich, obwohl ich freundlich bin, kein Geld geben werde, kriegt sein 
Gesicht so einen Ausdruck, nicht unähnlich dem der jungen Männer auf der 
Bahnhofsstraße, die mich für Tierschutz und Ähnliches anquatschen wollen, wenn 
ich ihnen, im Weitergehen (nie stehen bleiben) beteuer, heute keine Zeit zu haben, 
heute nicht, heute wirklich nicht, manchmal mach ich da auch das Victory Zeichen. 
Was dagegen funktioniert ist, mich, nachdem ich bereits Geld gegeben habe, noch 
nach zwei, drei weiteren Euros für den vollständigen Döner zu fragen, das haben 
schon einige Typen erfolgreich gemacht, und wer bin ich denn auch, mich 
zwischen einen Mann und seinen Döner zu stellen? 

1.2 |

Als ich vom Netto kommend auf die Ellerstraße einbieg, merk ich, wie mir 
Flüssigkeit aus dem Rucksack in die Hose läuft, der Übeltäter ist eine offene 
Packung Mozzarella, da hock ich schon am Beginn der Eller mit meinen durchnässten 
Einkäufen über den Boden des Bürgersteigs verteilt und beginn laut zu fluchen, auf 
diese Scheißstadt, auf alles. Gegenüber auf der Straßenecke das Fan-Projekt Arminia 
Bielefeld, was glaube ich so was Gemeinnütziges ist oder so. 

1.3 |

Dinge, die beim Spülen aus den Händen gleiten, erst übersehene, dann er- 
schreckende Flecken, eine überraschend niedrige Kellerdecke, das Störgeräusch, das 
die Boxen machen, wenn man sie angeschaltet am ausgeschalteten Laptop lässt, 
plötzlich aufgerissene Hände, und vielleicht bin ich auch einfach jemand, um den 
immer extra viel Staub entsteht. Ich geh zum Supermarkt und vergesse genau die 
eine Sache, für die ich eigentlich hergekommen war. 

1.4 |

Alexandra kennt einen Schneider, und wir beide bringen unsere längst 
fürs Flicken überfälligen Hosen dort hin, er macht die Arbeit gut. 

1.5 |

Zwei ältere Frauen kollidieren fast auf einer Gütersloher Kreuzung mit ihren 
Rädern, sie haben beide rote Brillen an. Etwas später wird ein älterer Herr auf 
einer Seitenstraße des porta-Geländes fast von einem herannahenden 
Geländewagen angefahren. Als ich draußen beim City Grill versuche, meine vegetarische 
Pita zu essen, ohne dass der ganze Salat auf dem Tisch oder in meinem Schoß 
landet, – ich hab irgendwie kein Besteck bekommen – sehe ich jemand mit 
hochgezogener Kapuze auf seinem Rad voll in die Fußgängerzone schießen, und 
fast erwischt er eine weitere Radfahrerin, genau zwischen den beiden muss 
ein älterer Herr etwas irritiert guckend inne halten. 

1.6 |

Was nicht funktioniert hat bisher, war nochmal Kontakt zu der freundlichen 
Straßenanwerberin für die neu eröffnete Parfümerie unten im Jahnplatz-Forum 
zu suchen, ich glaube, sie würde Prozente bekommen, wenn ich bei ihr was hole. 
Sie drückte mir am Beginn der Bahnhofstraße einen Flyer in die Hand und es war 
schon zu spät, um wieder umzudrehen, als ich bemerke, dass wir für die angebotene 
Parfümprobe tatsächlich bis runter unter den Platz in den Laden rennen müssen. Der 
Shop bietet Parfümzwillinge an, allerdings, wie die Anwerberin betont, haben die Parfüms 
hier die zweifache Menge an Duftstoff drin. Ich gehe wieder mit der Probe, aber nehme 
mir irgendwie fest vor, nochmal wiederzukommen, wenn sie da ist, und was zu holen, 
warum nicht mal zumindest ein bisschen (oder halt doppelt so viel) wie Hermès riechen. 
Sie war irgendwie nett gewesen, hatte eine Brille an und wirkte sanfter, als ihre Kollegen, 
sie hatte auch ziemlich lange künstliche Nägel gehabt, mit denen sie die Flakons immer 
so speziell umgriff. Sonst waren im Laden noch zwei Frauen in Schwarz mit Basecaps 
und gemachten Lippen gewesen und ein Verkäufer, dessen Haut etwas glänzte. 

1.7.1 |

Die Tür in der Ellerstraße stand übrigens vor dem ASB Typen schon einmal 
auf, und zwar gleich die erste Nacht dort. Frau Duisendieker und ihr Freund 
klingelten am Nachmittag des folgenden Tages, wir trafen uns an der immer noch 
offenen Tür, sie hatten es am Vorabend schon gesehen, aber da noch nichts sagen 
wollen. Man müsse diese alten Türen hier im Haus mit Gefühl behandeln, und sie 
raten mir, einfach den Schlüssel von Innen drauf zu lassen und abzuschließen, und 
so mach ich es von da an auch. Ansonsten will Frau Duisendieker noch wissen, ob 
ich geimpft bin und gibt mir Auskunft über den von Martin schonmal angedeuteten 
Flurdienst, also das Saugen des Teppichs im Treppenhaus. Ich höre sie und ihren 
Freund ab und an über mir in Ihrer Wohnung herumgehen, Möbel rücken. Ob mich 
Frau Kemperkötter unter mir wohl auch so hört? Es gibt hier in den Wohnzimmerdielen 
eine Pfütze des Knarzens, wenn man in die tritt, wird’s kurz immer ganz laut und 
gefühlt führt jeder Gang durch genau diese Stelle hindurch. 

1.7.2 |

Sonst riecht es die ersten ein, zwei Wochen bei Frau Kemperkötter im Haus ganz 
ähnlich wie früher im Haus meiner Großmutter in Witten, und der Geruch hängt 
klar auch mit der spürbaren Kühle des Flures zusammen und vielleicht auch mit 
den Dekorationen vorm Eingang zu Frau Kemperkötters eigener Wohnung im 
Erdgeschoss. Mit der einsetzenden Wärme des Frühlings verschwindet der Geruch 
langsam wieder. 

1.8 |

Bevor die Blüte des Frühlings allerdings einsetzt fällt mir noch auf, dass 
echt viel Moos an den Bäumen hier in Bielefeld ist. Es scheint ihnen also gut zu 
gehen – das hatte ich mal von irgendwo mitgenommen, dass viel Moos ein Zeichen für 
Baumgesundheit sei, aber ist natürlich und wie üblich keine gesicherte Information. 

1.9.1 |

Auch noch vor Frühlingsbeginn, auf der schmalen Straße runter von der 
Sparrenburg, an der Musikschule vorbei, kommt mir eine Gruppe Männer 
entgegen, sie sind verstreut hintereinander in ihrem Aufstieg. Ich verstehe 
sie erst nicht, bis der erste, als ich gerade schon an ihm vorbei bin, sich 
umdreht und beginnt zum letzten der Gruppe weiter unten zu rufen: „Opa 
komm. Opa kaputt. Opa hat Nase kaputt!“ In meinen fallenden Schritten muss 
ich dabei lachen, er sagt das irgendwie keck, und ich lach den gemeinten 
Nachzügler im Entgegenkommen an, er ist älter und lächelt verlegen, eher 
sogar verwirrt, und ich verstehe, dass er den Witz seines Bekannten von 
der Spitze wahrscheinlich gar nicht versteht und so wirkt es, als ob ich oder wir 
uns über ihn lustig machen. Damn. (Ham wir das nicht aber auch?) 

1.9.2 |

Vor diesem Rückweg, noch oben an der Burg, kann ich von einem 
Festungsvorsprung aus auf die rollenden Grünflächen unterhalb schauen, die 
Spaziergänger dort, die ein bisschen wie in Computerspielen von 
Früher aussehen, ¾ von oben, verjüngt. Eine Mutter (vermute ich) entscheidet 
sich, mit ihren beiden Kindern den Hügel ein Stück gemeinsam herunter 
zu rollen, die Kids hatten das schon ein paar Mal zuvor für sich gemacht. Die 
drei rollen los, ein Mann mit Hund taucht parallel von rechts auf, dieser, der 
Hund, beginnt, sich an den zurückgebliebenen Familiensachen zu schaffen 
zu machen. Außerhalb des Bildes schließlich ein Schrei: „He! Hundi!“ 

1.10 |

Meine Ausgaben für Kosmetik- und Gesundheitsprodukte sowie Services in 
diesem Bereich (Fußpflege, Frisör) sind dieses Jahr, bisher noch, vielleicht 
wider Erwarten, unterm letztjährigen Jahresdurchschnitt geblieben. 

1.11 |

Ich hab eine Hämorrhoide vom ganzen Sitzen auf zu harten Holzstühlen 
hier bekommen (mittlerweile sind genug Kissen am Start). Warum hab ich 
allerdings und eigentlich keinen, auch in Köln nicht, wirklichen Hausarzt? 

1.12 |

Der Staubsauger in der Schmiedestraße funktioniert ganz gut und Thea meint, es 
sei ein Zeichen einer gesunden Wohnung, wenn sie Spinnen in den Ecken hätte, 
eine schöne Sichtweise, und übrigens, natürlich sauge ich keine Spinnen ein. 
Die Frage nach der Sorge, der Pflege, taucht auf, taucht immer wieder auf, hinter den 
Objekten und in den Ecken und an den Oberflächen der Dinge und Körper und, 
unausgesprochen, auf den Mündern der Menschen und Tiere. 

2. Der Hauptteil: Etwas von Bethels Geschichte, dazu auch das generelle Thema der Pflege

2.1 |

Ich hole mir den ersten Sonnenbrand des Jahres, als ich, einen 
Maitag lang, von Wolfgang Bethel gezeigt bekomm, beziehungsweise 
seine ältere und jüngere Geschichte. Er gibt mir ganz privat eine Führung durch 
den Ort, der für ihn als Historiker für mehr als ein Vierteljahrhundert seine 
Arbeitsstätte gewesen ist. Der Wind im nun schon üppig grünen Laub, überall, 
der Sonnenschein, sie wechseln sich ab mit Gängen durch Verwaltungsgebäude, die 
Wolfgang immer einfach so betreten kann, kurzes Hallo-Sagen beim Ältesten von 
Nazareth, hat Anzug, vorher schon beim Bürgermeister von Bethel gewesen, Gregor, er 
ist Kölner, und wenn man das weiß, dann sieht man das auch gleich. Sein Rad steht 
neben seinem Schreibtisch und ich tippe, er telefoniert viel an einem Tag. Menschen 
in Anzügen, Hemden, Blusen, die sich Bruder und Schwester nennen, ab und zu 
unterbrochen von solchen, die etwas mehr so aussehen, als ob sie Jugendfreizeiten 
betreuten, und ich habe lange nicht mehr an einem Tag so viele mit ruhiger 
Stimme sprechende Männer gehört. Draußen im Sonnenschein viele kleine weitere 
Gruppen, meist jung-wirkende Menschen, ruhig redend, anscheinend die Sonne am Genießen. 

2.2 |

Später, beim Verlassen des nahegelegenen Marktkaufs Gadderbaum, mit 
Sonnenmilch im Jutebeutel (die kann auch nachträglich noch helfen, kleiner 
Tipp), treff ich denselben Mann, der mich schon einmal vormittags, auf dem 
Hinweg, vor Edeka am Ostwestfalendamm, angequatscht hatte, er fragt erneut 
nach Geld, dann erkennt er mich wieder und spricht eines der schönsten 
Komplimente aus, das ich in meiner Zeit hier bekommen werde: „Du kommst 
ja auch ganz gut rum.“ Er lebt anscheinend nicht weit von hier, die Rechnung 
ist ungefähr so: 800 € kostet sein Wohnheimzimmer, dafür sind da aber auch 
schon ein Sozialarbeiter und Verpflegungssachen mit drin, so ein Mal die 
Woche, ich glaub, es wird Kaffee als Beispiel genannt. 150 € zwacken die dann 
noch irgendwie zusätzlich ab, von seinem Hartz IV, und ich geb noch Mal zwei 
Euro zum Tschüss. 

Wo wir schon irgendwie bei Geld sind – die größten Einzelspender in der 
Geschichte von Bethel sind a.) Michiko, die emeritierte japanische Kaiserin, mit 
sieben Millionen €, die, vor vielen Jahren, bei einem Deutschlandbesuch, über 
Umwege (genauer: über eine junge, in Bethel arbeitende Ärztin aus Japan) von 
Bethel erfuhr, spontan vorbeischaute und von dem, was sie sah, wohl beeindruckt 
war. Ihr zu Ehren der japanische Garten, der eher weiter raus ist, schon richtig 
im Grünen von Gadderbaum steht. Auch da ganz draußen: die Pferdetherapie und 
die psychiatrischen Kliniken, Gilead IV, wie Wolfgang bemerkt, vielleicht extra so 
geplant, weiter weg von den Augen der Stadt. Hier noch ein Einschub über 
Geographie: Wolfgang bemerkt auch, dass man wohl heutzutage nicht mehr 
eine Diakonie für Menschen mit Beeinträchtigungen auf einen Berg bauen 
würde. b.) Der Schlagersänger Heino mit drei Millionen €, auf dessen Anlass 
die Regel zurückzuführen ist, dass man als Bewohner von Bethel Karten für 
Konzerte in der Neuen Schmiede immer für 2 € bekommt. Diese Fakten dropt 
Wolfgang vor der großen Kirche relativ weit oben, wir stehen vor ihrem Haupteingang 
und können zur anderen Seite durch die Büsche und Bäume den Hubschrauberlandeplatz 
auf dem Dach von Gilead I sehen, sieht aus wie ein riesiges Trampolin. Es war 
dieser Landeplatz, den Judith meinte, als sie davon sprach, dass man von ihrem 
Ellerstraßen-Balkon aus, die einfliegenden Rettungshubschrauber beobachten 
könne. Judith ist Wolfgangs Freundin, unser Kontakt kam durch sie. Eigentlich 
wollen Wolfgang und ich auch noch in die Kirche rein, sie muss, für eine 
protestantische Kirche, eine Häufung an Engels-Darstellungen aufweisen, die 
Idee war wohl, Glaubensgrundsätze visuell zu vermitteln, aber sie ist, überraschend, 
verschlossen. Ein alt wirkendes Paar taucht aus einem Taxi auf, mit sorgsamen 
Schritten, sie bemühen sich genauso an den verschlossenen Türen, Wolfgang informiert 
sie darüber, dass wohl zu ist, sie gehen wieder davon, zum Taxi zurück, in einer Stille, die 
auf etwas verweist, dass sich mir, in seiner Gänze, noch entzieht. Beide haben, in der 
heutigen Sonne, lange Sachen an und tragen gepolsterte Sandalen mit hellen Socken, ein 
Style, also zumindest das mit den Sandalen, den auch mein eigener Vater lange gefahren 
ist, je nachdem auch immer noch fahren würde, wäre da nicht vor elf Jahren ein irreversibler 
Hirnschaden nach wahrscheinlich Delirium tremens gewesen (aber auch hier: keine ge- 
sicherten Informationen), jetzt kommt an den Fuß, was meine Mutter gerade griffbereit hat. 

2.3 |

Abseits der beschuhten oder unbeschuhten Füße meines Vaters, die sich zumeist 
in Bochum befinden, machen in Bethel Wolfgang und ich uns von der Kirche aus 
auf zum letzten und höchsten Punkt unserer Tour, dem alten Friedhof. Ich nutz 
den Weg, um nochmal nachzufragen, ob er nicht Verbindungen zwischen der 
Tätigkeit beim Militär und der in einer diakonischen Gemeinschaft sieht, und 
er sieht sie durchaus, aber ich habe meine Frage nicht präzise genug 
gestellt, ich wollte ihn eigentlich fragen, ob das für ihn persönlich eine 
willkommene Parallele war, denn bevor Wolfgang mit Anfang Dreißig noch 
ein Studium der Philosophie und Geschichte anfing, das ihn als Historiker 
schließlich nach Nazareth, mit Sarepta einer der diakonischen Gemeinschaften 
in Bethel, bringen sollte, war er, in seinen Zwanzigern, bei der Bundeswehr 
gewesen, ich meine (wahrscheinlich beschreib ich das jetzt falsch) bei sowas, wie 
der Logistik der Fallschirmjäger, er war auf jeden Fall Offiziersanwärter. Am 
Eingang zum Friedhof angekommen, verweist er mich auf das dahinter gelegene 
Haus, ein ehemaliges Altenheim, hier hat Judith bis vor Kurzem gearbeitet, bevor 
sie nun, weiter unten am Berg, einen Neubau bezogen haben. Ich frag, ob es nicht 
komisch sei, ein Altenheim mit Blick auf einen Friedhof zu bauen und übersehe in 
der Frage, dass es sich bei den Alten zu einem nicht unermesslichen Anteil um 
die Diakonissen der Sarepta Schwesternschaft gehandelt hat und auch immer noch 
handelt, und dass für diese die Nähe zu ihren, auf dem Friedhof beerdigten, den 
Himmel schon bewohnenden Schwestern etwas sehr Beruhigendes hätte, ein 
natürlicher Kreislauf sei. Tatsächlich sehe ich die Friedhofswege entlang, mit 
Wolfgang auf eine Bank, hier auch die ersten und einzigen Diakonissen in 
Tracht an diesem Tag, es ist die Sommertracht, weiß und grau und von 
Weitem scheint sie in der Sonne zu leuchten. Wir sitzen da gerade nicht 
unweit der durchgehend gleich gehaltenen Gräber dieser Diakonissen des alten 
Weges, die deswegen wohl auch schon häufiger von Besuchern für Soldatengräber 
gehalten wurden. Noch so ein Friedhofsfakt: In Bethel bekommt jeder eine 
vollständige Beerdigung, der dort verstirbt. Nun ein Zitat: „Lobet den Herrn mit 
Posaunen“ (Psalm 150, Vers 3) – das steht auf dem Grabstein von einem der alten 
Vorsteher von Nazareth, er muss wohl gerne die Posaune geblasen haben, und 
Wolfgang hat Bilder in Archiven gesehen, wie er besagte Posaune als Darbietung 
für und vor Adolf Hitler spielt. Einer der älteren Brüder, der sich an den Posaunen- 
vorsteher noch selber erinnern konnte, meinte einmal zu Wolfgang, nachdem 
dieser diese Verbindung zu Hitler in einem Vortrag erwähnte, dass besagter 
Vorsteher ihn als Kind mal bei sich auf dem Schoss habe sitzen und ebenfalls die 
Posaune vorspielen lassen, und die Erinnerung an diesen Mann würde er sich durch 
nichts und niemanden mehr nehmen lassen. Auch ein Bethelfakt: In der Zeit des 
Nationalsozialismus, also vor gut 80+ Jahren, wurden hier über 1600 Menschen 
zwangssterilisiert. Seit circa 20 Jahren gibt es ein Mahnmal dafür. Über 100 Menschen 
verloren ihr Leben, weil zugelassen wurde, dass man sie aus Bethel deportierte. 

2.4 |

Als ich mich einige Wochen zuvor bei Judith, nach dem Kaffee, schon fast 
verabschiedet hatte, kamen wir im Flur stehend nochmal aufs Altwerden zu 
sprechen, wie man es gestalten könnte, möchte: Judith sagt, sie hat keine 
Angst davor, mal in ein Altenheim zu gehen. Sie arbeitet selber in einem und 
sieht darin eine gute Alternative, für den Fall, dass man mal Pflege braucht. Ihre 
Erfahrung aus ihrer Arbeit ist, dass es für die gut läuft, die einen gewissen 
Kontrollverlust akzeptieren, die sich an den Rhythmus des Altenheims 
gewöhnen können. Wenn das möglich ist, dann kann es dort schön sein und 
man entgeht dem Alleinsein im Alter, findet neuen Raum für Gemeinschaft (und, 
unter der Hand, das sage ich jetzt, den ich hab es so rausgehört: es gibt auch 
durchaus noch einige Romanzen dort). Aber: alle haben was, denn, unter 
Pflegestufe 3 kommt niemand mehr ins Heim, wie auch immer diese dann 
zustande gekommen sein mag, und so hat auch in ihrem Gesprächskreis, den 
sie einmal die Woche macht und über den wir uns zuvor am Tisch länger 
unterhalten haben (ich wollte Tipps für die Schreibwerkstatt abholen), jeder 
etwas: Sehen nicht, hören nicht, erinnern sich nicht. Da muss man gerade bei den 
Demenz-Patienten manchmal gucken, dass man das auffängt, wenn sie sich 
anfangen, häufiger zu wiederholen. Ab einem gewissen Zeitpunkt fällt es auch 
in dieser Gruppenkonstellation auf. Wichtig sei dann, darauf zu achten, eingehend 
auslenkend zu reagieren, nicht einfach zu verneinen oder zu beschämen. Zwischen 
meinem Kaffee bei Judith und dem Treffen mit Wolfgang bin ich an einem 
Sonntag noch in Bochum, bei meinen Eltern und mit meiner Mutter unterwegs, 
sie kommt gerade zum Auto zurück, sie hat noch schnell ein Brot gekauft (wenn 
es etwas gibt, das meine Mutter immer noch einmal schnell braucht, dann ist es 
ein Brot, immer ein Biobrot) und ich frage, ob wir nicht noch ein Stück 
Kirschkuchen für meinen Vater holen sollten, er hatte, bevor wir auf- 
brachen, danach gefragt, und sie lacht ein bisschen, fast jeden Tag frage mein 
Vater nach Kirschkuchen, und jeden Tag könne sie diesen nicht kaufen, alleine 
schon wegen dem Blutzucker. Aber ihm den Wunsch ausschlagen, warum denn, also 
sagt sie jedes Mal ja, und manchmal, wenn es sich anbietet, dann macht sie es 
auch. Vergessen hat er es, bis sie zurück ist, so oder so. Am Küchentisch fällt 
mir erneut auf, wie wahnsinnig dünn die übereinandergeschlagenen Beine 
meines Vaters aussehen. Als wir zwischendurch mal nur zu zweit in der Küche 
sind, fragt er mich ganz unvermittelt, wie ich den heißen würde, erschrickt über 
meiner Antwort. Das ist glaub ich das erste Mal, das mir das mit ihm passiert 
ist, manche meiner Brüder kennen das aber schon seit Jahren von ihm. Wenn mir 
denn was einfällt, versuche ich ihm meistens Fragen über sein Früher zu stellen, da 
gibt es eigentlich häufiger noch ganz gute Erinnerungsstücke in ihm. Er fragt mich, 
über den Nachmittag verteilt, immer mal wieder, wie es denn im Studium läuft, und 
es freut mich, dass er das fragt, er hat selbst mal Kunst studiert. 

2.5 |

Der GQ Award für den Tag in Bethel geht, natürlich abseits von Wolfgang und 
mir, ziemlich klar an Sebastian, einen Pastor, jung und braungebrannt und 
charismatisch, der auf einem Fahrrad angefahren kommt, in Anzughose und weißem 
Hemd, aber mit Flip-Flops und baren Füßen. Er kann einen direkt und nett ansehen und 
hat auch etwas die Unruhe von jemandem, der eigentlich schon weiter muss, gepaart 
aber halt mit der verantwortungsvollen Ausstrahlung eines Pastors. Wolfgang und er 
kennen sich, wir sitzen vorm Groß-Bethel Gebäude bei den Fahrradständern und 
hatten ein paar Minuten zuvor tatsächlich vor Sebastians noch leerem Büro gestanden. 
Wolfgang wird etwas auf einer Tagung vortragen, die Sebastian organisiert im September, 
zum Thema Stasi und Diakonie. Und dann ist Sebastian auch schon wieder von 
dannen, aber manchmal will man ja gerade die kurzen Erscheinungen erwähnen. 
 
Später, als wir in der Neuen Schmiede, zum Ausklang, im Garten für ein 
Getränk sitzen, meine ich, dass mir vielleicht von einem der anderen Tische 
interessierte Blicke zugeworfen werden, aber auch das bleibt keine gesicherte Information. 
 
Habe ich eigentlich schon irgendwas über den Gründer Bodenschwingh 
erzählt? Und wie alles seinen Anfang nahm, mit vier Diakonissen, und wofür 
das Sarepta im Namen der Schwesternschaft steht, und wo früher sich in Bethel 
deren „Garten Eden auf Erden“ befunden hat? Wie sich die Gemeinschaften seit 
den 70er Jahren reformiert haben? Über die Löcher im Berg und die früher halt 
noch üblichen Brautkurse? Gerade dieses Ding der Brautkurse? Nein? Fragen Sie 
doch mal Wolfgang. Der ist im Stillen, natürlich, auch die interessante Figur, an diesem 
Nachmittag: Er hat eigentlich mal Industriekaufmann gelernt, dann kam der Bund 
für acht Jahre, das Abi dort nachgemacht, ich meine auch, im Kosovo gewesen. Er 
kommt aus adeligen Hintergründen, seine Mutter hat jedoch bürgerlich 
geheiratet. Mit 30 beschließt er, sich nochmal mit etwas zu beschäftigen, dass 
ihm wirklich am Herzen liegt, und so geht er an die Uni Bielefeld, Philosophie und 
so studieren, landet, wie schon gesagt, im Archiv in Bethel, bleibt dort über 25 
Jahre, fängt an, Aufklärungsarbeit zu leisten, das scheint so auch ein bisschen sein 
Ding zu sein, bald wird er sein finales Werk zum Thema Diakonie und 
Nationalsozialismus veröffentlichen, doch die nächste Forschungsroute, in seiner 
Rente, ist schon benannt und eingeschlagen, nun dann Diakonie und Stasi. Von einem 
seiner Vorfahren hat er ein eisernes Kreuz vererbt bekommen, ein von den Männern 
vor ihm verehrter Familienschatz, nun ist er mittlerweile der letzte Mann seiner Linie 
und von ihm aus kriegt das Ding dann nach ihm gern die Bethelsche Brockensammlung, 
sagt er lachend, als wir noch oben bei den Gräbern der alten Diakonissen sitzen, später 
wollen er und Judith Pizza essen. 

3. Ein kleinerer Epilog, Überschrift dieses Mal: Hummeln

3.1 |

…vor Kurzem hab ich Judith nochmal auf einen Kaffee getroffen, irgendwie 
haben wir lange gemacht, ich hoffe nicht zu lange, es war schon kurz nach 
11, als ich ging. Sie erzählte mir mehr von ihrer Arbeit und wie der Alltag in 
ihrem Heim so aussieht, auch, was es eigentlich heißt, heute eine Diakonin zu 
sein – ah stimmt, Judith ist Diakonin, fyi (das ist allerdings nicht dasselbe wie 
Diakonissin, egal ob alter oder neuer Weg). Ich erzählte ihr von den Schreib- 
werkstätten und welche Wehwechen ich so bei der Stipendiumsarbeit hab. Sie 
erzähle mir auch privatere Dinge, die alles, was sie bis dahin erzählt hatte, in 
einem anderem Licht erscheinen ließen. Sie hatte wirklich gute Kalamata-Oliven für 
das spontane Abendbrot am Start, in das das Kaffee-Trinken überging, auch einen 
fast schon fromm schmeckenden Tee, das ist keine Anspielung auf Judith, nur auf 
den Tee, der war angeblich das Rezept irgendeiner Heiligen, die schon als Kind an 
irgendeinem Hof durch ihre Frömmigkeit auffiel, laut Klappentext der 
Teeverpackung. Es sah sehr edel aus wie die losen Blüten im Teesieb in der Tasse 
schwammen. Die Tage danach aß ich die übergebliebenen und mitgegebenen 
Teilchenstücke in der Schmiedestraße, während ich schrieb oder Eurosport schaute. 

3.2 |

Ich bin jetzt auch nochmal kurz bei der Zionskirche und dem alten Friedhof ge- 
wesen, letzte Fakten in Erinnerung rufen, die Grabinschrift von dem Posaunen 
blasenden Vorsteher zum Beispiel, der hieß übrigens Johannes Kuhlo. Ich hab mir 
auch nochmal die Namen der beiden Anfang der 1890er Jahre aus Ost-Afrika 
nach Bethel geholten (es wird erzählt: dort aus der Sklaverei von einem im Urlaub 
befindlichen Missionar befreiten) und dort dann verstorbenen Kinder aufgeschrieben: 
Elisabeth Fatuma und Johannis Kali-All. Beide starben in Bethel an der Schwindsucht 
nach ein paar Jahren. Die ganze Zeit die Hügel von Bethel rauf und runter lag Regen 
in der Luft. Auf dem alten Friedhof lief ich nochmal die Diakonissengräber ab und 
bemerkte an einer Stelle, dass die Luft dort schwirrte, fast wie durch Hitze, es waren 
dutzende Hummeln, die eine blau blühende Strauchgruppe abernteten. Ein jüngerer 
Mann lief barfuß vorbei. Auf dem Rückweg wurde ich von einem Mann und einer 
Teenagerin gefragt, wo Haus Ebenezer sei, ich meinte, es gesehen zu haben bei 
meinem Aufstieg und gab so hoffentlich die richtige Richtung an. Rettungshubschrauber 
flogen hin und wieder auf Gilead I ein (ah, regionale oder sogar landesweite 
Schwerpunkte von Gilead sind übrigens: schwere und schwerste Kopftrauma und 
die Kinderklink). Hoch zum Friedhof war ich an der Zionskirche vorbeigekommen, 
die dieses Mal auf hatte, so viele Engel konnte ich in ihrem Innern auf die Schnelle 
nicht ausmachen, aber vielleicht sind für eine protestantische Kirche ein paar ja 
auch schon eine Menge, mir fiel dafür das Holzdach der Kirche auf, und ich weiß 
nicht, ob man das darf, aber für einen Moment stellte ich mich hinter das Predigtpult, 
blickte in die leere Kongregation. Als Kind hatte ich Prediger werden wollen. 

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