Believe or not
16. April 2022
Mit dem Kopf im Nacken stand ich nun vor Burg Rode. Ich war nach Herzogenrath gekommen, um die Umgebung von Aachen zu erkundigen, und mein Finger war auf dieser Kleinstadt an der niederländischen Grenze hängengeblieben. Ich verließ die Wohnung, bevor die Bauarbeiter ihre Arbeit aufnahmen oder der Opernsänger, der vor einer Woche die Nachbarwohnung bezogen hatte, seine Stimmübungen begann. Figaro zum Beat der Presslufthammer ergab einen interessanten Soundtrack dieser Tage.
An meinem ersten Tag in der Wohnung hatte ich die Hoffnung, dass die Bauarbeiten direkt vor der Tür in den folgenden Wochen abgeschlossen sein könnten. Nach einem Small Talk mit einer jungen Studentin, die fast jeden Morgen mit mir an der Haltestelle Blücherplatz wartete, wurden sie zerschlagen. Sie war schon im zweiten Semester und kannte diese Straße nur als Baustelle.
Der Verkehr nach Herzogenrath wurde umgeleitet. Vor wenigen Tagen war ein Bus auf der Fahrbahn komplett ausgebrannt und dabei den Straßenbelag beschädigt. Meine Fahrt verlief reibungslos. Ich nutzte die Zeit, um Dopplungen von Fotos zu löschen.
Als ich dann vor der Burg stand, duckduckgote ich einige basic Informationen. Burg Rode wurde erstmals 1104 urkundlich als Besitz des Grafen von Saffenberg erwähnt und wechselte in den folgenden Jahrhunderten etliche Male den Besitzer. Die Burg blieb, ihre Besitzer vergingen. Mal sahibi, mülk sahibi. Nerde bunun ilk sahibi?
Nach ein paar obligatorischen Selfies, die nicht ganz so sehr nach Selfies aussehen sollten, lief ich ziellos durch die schmalen Straßen. Als ich die Speisekarte eines indischen Restaurants studierte, wehte der Wind mir ein etwas geschundenes Poster vor die Füße. Bekehre uns, vergib die Sünde, schenke Herr uns dein Erbarmen, stand in schwarzen Lettern auf pink-violettem Grund. Die Farbwahl lenkte etwas vom Inhalt ab. Aus dem Text auf der Rückseite wurde klar, dass es von der St. Josef Gemeinde stammte; eine Erinnerung an den Aschermittwoch – Beginn der Fastenzeit. Ich lächelte. Zeitversetzt hatte auch für mich die Fastenzeit begonnen. Ich las den Text und lernte, dass der Begriff Aschermittwoch aus einer Tradition aus dem 11. Jahrhundert rührte, nach der den christlichen Gläubigen ein Kreuz aus der Asche von Palmzweigen auf die Stirn gemalt wurde. Asche als ein Zeichen von Vergänglichkeit. Im Text wurde mit bedauerndem Unterton erwähnt, dass viele nach den Gottesdiensten das Kreuz schnell wieder abwuschen und die Verfasser riefen dazu auf, dies nicht zu tun, sondern Stolz darauf zu sein, gut sichtbar mit Gott in Verbindung gebracht zu werden.
Gut sichtbar mit Gott in Verbindung gebracht zu werden, hatte einschneidende Konsequenzen, je nachdem welcher Religion man angehörte. Eine Kippa, ein Kopftuch war, je nachdem, wo man sich bewegte, eine Sicherheitsfrage, kam Berufsverboten nahe, stigmatisierte, trennte oder ging mit einem Opferstatus einher, wodurch sich viele nicht mehr die Mühe machten, den konkreten Menschen mit der Kippa oder dem Kopftuch kennenzulernen.
Als Jugendlicher hatte ich nicht-religiöse Menschen beneidet, weil ich annahm, dass sie sich bestimmten Sinnfragen nicht stellten: Wer sind wir? Woher kommen wir? Warum genau bin ich hier und in dieser Zeit auf der Welt? Diese Fragen referierten auf keine höhere Bestimmung, waren gegenstandslos, wenn man annahm, dass Materie sich eigenständig zu unserer Welt entwickelt hatte. Bei dieser Betrachtungsweise klangen Schöpfungsgeschichten wie Popanz und das Gegenteil von Intelligenz. Die dogmatische Verabsolutisierung der Vernunft hatte die Abwertung von Glauben zur Folge. Spirituelle Empfindungen fanden ein neues Zuhause irgendwo zwischen Bibel- und Astro-TV.
Nicht-religiöse Menschen mieden nicht selten Religion wie die Teufel*in das Weihwasser und/oder ließen religiöse Menschen in ihrer Umgebung spüren, dass sie Religion als eine überholte, unvernünftige Haltung empfanden. Andererseits sahen einige religiöse Menschen ihr nicht-religiöses Gegenüber stets als missionarisches Arbeitsfeld. Arroganz ist also keine Einbahnstraße. Manchmal waren die entgegengesetzten Haltungen aber auch ganz nützlich. Ich hatte schon mal unangenehme Dates damit beendet, in dem ich fragte: Möchtest du mit mir über Gott reden? Es hatte die gleiche Wirkung wie, lass uns heiraten.
Dabei fanden gerade in der heutigen krisengeschüttelten Zeit viele Menschen Halt, Trost und Sinn in ihrem Glauben. Viktor Frankl, der das Konzentrationslager Ausschwitz überlebte, hatte als Psychologe die Annahme geprägt, dass die Sinnsuche Motivationskraft und Energiequelle bedeutet.
Das Verhältnis zu Religion, Religiosität und Spiritualität war also seit jeher ein stark verbindendes und trennendes Element zugleich gewesen. Bei einem Wochenendausflug nach Monschau entdeckte ich eine Tafel mit der Info, dass dort die nicht-katholischen Christ*innen erst 1787 die Erlaubnis auf freie Religionsausübung erhielten. Immerhin haben heute die innerchristlichen Konfessionssticheleien über eine stärkere ökumenische Ausrichtung an Bedeutung verloren. Unser Grundgesetz sowie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz schufen einen Rahmen, in dem nicht-religiöse Menschen sowie Christ*innen, Jüd*innen, Muslim*innen und Angehörige anderer Religionsgemeinschaften zumindest in gesetzlich definierten Bereichen gleichgestellt und vor Diskriminierung geschützt werden. In der Komplexität unserer Gesellschaft konnte aber weder das Grundgesetz noch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz die gläsernen Wände in der Gesellschaft durchbrechen. Insbesondere Jüd*innen und Muslim*innen leiden unter einer religionsbasierten Diskriminierung. Ob die Gesellschaft sich in ein „die“ und „wir“ aufteilt oder als eine plurale, demokratische Gesellschaft zusammenwächst, hängt stark von der politischen Haltung in der Region ab. Bei den letzten Kommunalwahlen hat sich die Anzahl rechter Mandatsträger*innen vervielfacht. In Eschweiler geriet die AfD in die Schlagzeilen, weil sie in ihrem Programm die Abschaffung und Auflösung von „Mischehen“ gefordert hatte. Gerade bei Jüd*innen und Muslim*innen löst diese Entwicklung große Sorgen aus. „Nie wieder Faschismus“ braucht nicht nur Präventionsarbeit gegen Rechtsextremismus, sondern auch eine plurale Erzählung, in der Menschen aller Glaubensrichtungen selbstverständlich ein Teil des „wir“ sind.
Ich steckte das Poster ein und lief entlang der Wurm in wenigen Minuten über die Landesgrenze in die Niederlande. Als ich den schmalen Fluss und die Grünflächen herum betrachtete, fiel es schwer mir vorzustellen, dass bis vor wenigen Jahren die Wurm ein lebloses Gewässer war. In der Natur steckte die Kraft zur Heilung, wenn man sie nur in Ruhe ließ. Ich setzte mich im Schneidesitz ans Ufer, holte mein Handy raus und wollte ein Foto schießen. Aus einem Impuls heraus steckte ich das Handy wieder ein. Hiersein, aus welchen Gründen auch immer, war schön und brauchte nichts weiter.