Rettung & Güte

Rettung

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Was mich saved, immer und immer wieder, ist die Musik, und ich 
hab mich bisher noch nie genug oder eigentlich auch überhaupt dafür 
erkenntlich gezeigt, finanziell jetzt, bei den Schaffenden. Ich schlaf fast 
jeden Abend auf der Couch hier zu ihr ein, viel Piano und Streicher derzeit, ist 
Serienmusik, Bridgerton - Staffel zwei, hatte wieder eine Kostümdrama-Phase 
gehabt. Auch wichtig ist Kleidung. Vielleicht eigentlich eher der Körper, den sie 
bedeckt, aber nach ihm Ausschau zu halten, soweit bin ich meistens noch 
nicht (manchmal aber schon, immerhin). Und so mag ich gerade die Wärme 
und Weichheit meiner neu bestellten Jogginghose, sie ist aus einem fluffigen 
rosa Stoff, auf dem Bund steht wieder und wieder POWER geschrieben, sie war 
100 % für Damen bestimmt. Ist mir egal oder vielleicht sogar Recht und die größte 
verfügbare Größe passt gerade so. Ich seh in ihr ein wenig so aus, als hätte ich schon 
Teile meines Kostüms für Karneval an.

2 |

Mit Kurt und Ami bin ich wieder an der Damisch Pommesbude, sie 
sind für einen Nachmittag hier aus Köln, und dieses Mal ist nicht die 
nette Verkäuferin da, sondern ein älterer, großer Herr, der auch die Bude 
ausfüllt und sich anscheinend eigentlich immer irgendwo abstützen muss. Er 
hat auf eine selbstverständliche Art und Weise bei der Ausgabe seinen Daumen 
in meinen Pommes und das fühlt sich dann fast wie eine Form von Respekt an. Ami 
ermahnt er zur Ruhe, als sie ihn voreilig um die gewünschte Mayo bittet und er 
hätte es eh schon gemacht, alles zu seiner Zeit. In der nahezu kitschigen 
Frühlingsanfangssonne kommen wir beim Snacken auf Dating zu sprechen und 
die beiden meinen, dass ich bestimmt gut im Flirten sei, was mich vielleicht mehr 
freut, als es sollte. Für sich selber verneinen sie jeweils diese Eigenschaft, aber 
unter uns, sie sind beide ziemlich charismatische Typen, machen wir uns da 
mal nichts vor. Vielleicht ist mein Flirt-Game ja auch wirklich okay, aber 
mein Self-Assessment ist weiterhin, dass ich sehr stark anfange, um dann 
noch stärker nachzulassen. 
 
Fast drei Wochen vor diesem Besuch stand ich eines frühen Abends im 
Wohnzimmer in der Ellerstraße und ging so extra langsam unter der 
Luftballongirlande vor und zurück, damit mich einer der Ballons immer ganz 
knapp am Kopf streichelte, an der Stelle, wo ich schon fast eine Glatze hab. Ich 
wohn derzeit bei einer Familie, die selber auch beruflich irgendwo anders ist, 
anscheinend wurde kurz zuvor noch ein Geburtstag gefeiert, ich werd die 
Girlande auf jeden Fall bis zu meinem Auszug hängen lassen, es ist fast 
so, als wäre sie für mich eine Art Willkommensgruß gewesen. 

3 |

Gerade erklingen wieder die Glocken der katholischen Kirche, wie immer 
um 18 Uhr, von denen mir Judith vor ein paar Tagen schrieb, dass sie die 
so mag. Sie schrieb mir auch von den Rettungshubschraubern, die man, von 
Ihrem Balkon aus, mit großer Wahrscheinlichkeit bei einem gemeinsamen Kaffee 
einfliegen sehen könnte, auf das Dach des benachbarten Franziskus-Hospitals, aber 
als wir dann tatsächlich bei ihr Kaffee und Kuchen machen, kommt keiner und sie 
entschuldigt sich dafür, was natürlich ein bisschen lustig ist. In derselben Nacht oder 
vielleicht ein, zwei Nächte später, steh ich in der Küche am Kühlschrank für Snacks, als 
ich schließlich einen einfliegen hör‘, er ist schon weg, bis ich zurück auf der Couch bin. Von 
dort sehe ich eigentlich immer nur die Weite der schwarzen Nacht, weil das Wohnzimmer 
seine Fensterseite zum abfallenden Hügel hin hat, auf dem wir alle hier im Bielefelder 
Westen stehen, und so scheint es meistens, als schwebe man im All, sieht man von 
den rot leuchtenden Lampen der Baukräne am Franziskus ab. Wenn ich auf der Couch 
schließlich, zur erwähnten Piano- und Streicher-Musik einschlafe, wach ich meistens 
eine gute halbe Stunde später wieder auf, mit so einem Gefühl, das mich was 
an der Kehle hat oder auch, dass da vielleicht etwas an den Fenstern ist. Manchmal 
putz ich mir dann noch die Zähne, bevor ich im richtigen Bett liege, auf dem 
Kissen, dessen Geruch ich auch nach Wochen noch nicht identifizieren kann.


Nachtrag: Doch, einmal hab ich, vor einigen Jahren, für Musik was bezahlt, für elf Euro hab ich alle damaligen Alben von Terror Pigeon! auf Bandcamp gekauft und dazu noch irgendein Lob beim Kauf hinterlassen. 
Nachtrag 2: Ich glaube, der Geruch ist sowas wie Kirschkernkissen.
Nachtrag 3: Judith hat das Gedicht gelesen und tatsächlich hat sie niemals versprochen gehabt, dass die Hubschrauber aufs Franziskus einfliegen würden, das können sie nämlich gar nicht, da ist kein Landeplatz. Man kann sie allerdings, ab und zu und weiter weg, das Gilead hinter der Sparrenburg ansteuern sehen.

Güte

1 |

Am Fernmeldeturm hört man vor allem mal den Wind, und ich brauche 
einen Moment, um zu begreifen, dass das die Geräusche von Wind 
gegen Turm sind. Es klingt, als würde er, der Wind, nie wirklich von ihm 
ablassen, und kurz wird mir kalt für ihn, den Turm. Vor allem aber ist da 
dieses Gefühl, dass die Zukunft anscheinend schon angefangen hat. Ein paar 
Meter den unbefestigten Kammweg wieder zurück stehen zwei ausgewachsene 
Laster im Matsch, verlegen sowas wie Rohre, auf dem Rückweg komm ich 
gerade so an ihnen vorbei. Ein beschäftigter Bauarbeiter steht da hinter 
irgendeinem Aufbau. Vorher step ich, entlang eines abschüssigen 
Trampelpfads, einmal um den Turm, genauer eigentlich: um seinen Zaun, 
herum, die Bäume knarzen im Wind, über mir, es nieselt on-off. 
Vielleicht muss man auch einfach mit Antworten rechnen, wenn man 
auf der Spitze eines Berges steht. 

Die letzte Strecke hoch zur Kammspitze war der Boden plötzlich voll 
von grünem Blattwerk gewesen, und ich stellte eine Verbindung zwischen dem 
anscheinend schon längst im Gang befindlichen Frühling und dem älteren 
Mann mit der noch jungen Stimme her. Dieser war den Hang herunter und mir 
entgegengekommen, mit einer gewissen Skepsis drehte er sich auf meine Ansprache 
hin zu mir um - wo es zum Fernmeldeturm gehe? Da wurde er ganz nett und erklärte 
mir ziemlich gekonnt den Weg, gab schnellverständliche Längenangaben und sogar 
alternative Routen an, und seine Stimme war halt die eines jungen Mannes gewesen, 
während sein Gesicht sein Gesicht war. In dem saß auch ein Schnäuzer und eine 
Art-Director Brille, er wirkte tatsächlich, auf eine ruhige Weise, ziemlich bonzig. Zum 
Abschluss wünschte er mir „viel Erfolg“, ich fand dann alles auch genau so vor, wie 
er es mir beschrieben hatte, und fragte mich, welche sexuellen Präferenzen er wohl hatte. 

Später, auf dem Rückweg, den Kamm herunter, kam ich am Tierpark Olderdissen 
vorbei, der wieder regulär geöffnet hatte. In ihm kein einziger Mensch, also 
grüßte ich ein paar der größeren Vögel mit dem Victory-Zeichen. 

2 |

Die New Balance immer noch matschig von diesem Ausflug zum Turm am 
Tag zuvor, versuche ich sie nun, möglichst ohne Dreck zu hinterlassen, nach 
der Behandlung wieder anzuziehen, bei Swetlana, in der medizinischen 
Fußpflegepraxis Oldentrup. Sie bemerkt mein waghalsiges Spiel allerdings, die 
bereits verstreuten Krümel, sagt, es sei eh zu spät, und sie müsse den Raum ja 
sowieso reinigen und ich bin ein bisschen beschämt darüber und beschließe, den 
Schmutz zu minimieren, indem ich in möglichst langen Schritten wieder nach 
vorn bis zum Tresen geh und da muss sie dann doch wieder lachen, mein Glück, und 
gewährt mir sogar noch einen Rabatt. Während der Behandlung hatte ich 
mitbekommen, wie ein Zehennagelstück beim Clippen an ihre Stirn geschossen 
war, sie hatte sich davon nicht stören lassen, mich allerdings schon 
dafür gescholten, dass ich jedem Hautarzt bisher die Befunde des Vorherigen 
mitgeteilt hatte, so mache man das nicht, die müssten schon selbst erst einmal 
zu ihren Schlüssen kommen und jetzt leuchtet mir das natürlich alles ein. An meine 
derzeitige Hautarztpraxis: Bitte vergessen Sie alles, was sie bisher angenommen haben! 
 
Auf der Oldentruper Straße, hin und zurück, hebt der Wind übrigens fast 
die Ampeln an, während ich an ihnen warte, und den ganzen Weg lang, die Wolken 
am ausladenden Himmel, ändern alle paar Minuten ihr Gesicht. Als ich zurück 
wieder kurz vorm Dickicht der Waldschneise bei Oldentrup bin, und versuche, mich 
mit meinem Regenschirm gegen den einsetzenden Hagel zu schützen, sehe ich, weiter 
hinten, übers letzte Feld, kurz noch den Regio Richtung Hauptbahnhof entschwinden, meine 
Richtung, fünf Minuten vorher am Gleis war nichts von ihm zu lesen gewesen. Auf dem 
Hinweg, im einsetzenden Feierabendverkehr, an der Kreuzung Otto-Brenner-Straße, ließ ein 
Mann seinen kleinen schwarzen Seat im Wind aufheulen, bis er sich vom Ersten in den 
Zweiten verschaltete, und die Freiheit der Tage schien da kurz greifbar und nah. 

3 |

Einen weiteren Tag später probiere ich mich selber mal an sowas
wie Diagnose oder auch Ursachenforschung: im Radio kommt, dass 
Ferrero in Belgien wegen Salmonellen eine Fabrik schließen muss. Nun 
musste Dunja nur ein paar Tage zuvor ausgerechnet wegen Salmonellen 
ihren Trip hier her wieder absagen, und ich sims ihr mal meine ermittelten 
Hinweise. Da bin ich gerade in Gütersloh bei Birkholz, nahe dem ZOB, und 
versuch außerdem noch, eine Rumkugel (offiziell heißt die Trüffel, weil kein 
Rum drin ist) mit möglichst kleinen Bissen zu essen, wartend, dass die 
Nachmittagsvorstellung von Batman beginnt. Das Café der Bäckerei 
wurde anscheinend mal vor nicht allzu langer Zeit ziemlich dunkel renoviert, 
mattschwarz die Deckenverkleidungen, die Säulen, dazu wenig Licht. Eigentlich 
ganz angenehm. Eine Frau in rosa Pantoffeln läuft am Fenster vorbei, die 
Verkäuferin geht eine Rauchen und berät danach über Produktneuheiten, eine 
mehrgenerationale Frauengruppe kommt herein, sie scheinen sich auf den
Nachmittag hier zu freuen, gegenüber ist ein C&A, die, meines Erachtens, 
das absolute Endgame im deutschen Bekleidungs-Geschäft darstellen. Aus 
ihrer SMS ergibt sich, dass Dunja, wie ich, und was ich noch nicht wusste, mehrere 
Brüder hat und wohl auch excited für den neuen Batman ist, aber das mit den 
Salmonellen war schon noch eher und weiter das alte Sushi gewesen, und ich 
war glaub ich auch nicht der Einzige, der mit der Ferrero-These um die Ecke kam. 

Der Film selber ist dann auch gut, wenn man mal von seiner Weltanschauung 
absieht. Und ich merke mein eigenes Erwachsen-geworden-Sein daran, dass 
ich a.) die kurz vor Beginn noch dazugekommenen Kids, in den Sitzen hinter 
mir, mit ihrem kontinuierlichen Geflüster, eher sweet als nervig finde, b.) das Treten 
in meinen Sitz ignoriere und c.) dann doch, als es auch noch zu Handy-Geleuchte auf 
die Leinwand kommt, mal kurz eine Ansage machen muss. Mein Glück ist, dass die 
beiden gerade noch so jung sind, um auf mich zu hören, auch wenn ich die Zweifel daran 
dem Lautstärkeren schon anmerke. Zum Schluss bleiben wir alle aber irgendwie trotzdem 
bis zum Abspannende sitzen und sagen uns sogar noch Tschüss, ich glaube, die zwei 
hatten gehofft, dass noch irgendwas Lustiges nach den Credits kommt, ich wollte 
wissen, was das eigentlich für geile Geballer-Lieder in den Clubszenen waren, für 
die Playlist zum Spülen, Bügeln, Wäschesortieren, vielleicht. 

Wieder draußen, geh ich in der mittlerweile angebrochenen Abenddämmerung ein 
bisschen stadtauswärts und zurück, die Zeit bis zum nächsten Zug vertreibend, in 
diesem Nach-dem-Kino-Gefühl, das sehr gut ist, wenn man alleine sein darf, und treffe 
wieder auf die ehemals vor sich hin schreiende Frau vom Berliner Platz am Nachmittag*, die 
mittlerweile aber, im Vorbeigehen zumindest, ziemlich glücklich, vielleicht sogar 
glücksselig, wirkt. Am Bahnsteig fallen die Züge dann erstmal alle aus, bis eine leise 
Durchsage kommt: Zugdurchfahrt, und dann fährt auch schon ein ICE mit 
circa 3.500 Stundenkilometern direkt am Gleis vorbei. Hat was vitalisierendes. 

* Nachtrag:

Die schreiende Frau war mir am frühen Nachmittag am Rand vom Berliner Platz 
aufgefallen, sie hatte, an einer Bank Halt machend, sich immer wieder geräuspert, auf 
eine Art, die eigentlich schon wie Schreien klang. Eingeschlossen in ihr Räuspern 
manchmal der Ausruf: „Guck nich‘ so blöd!“ Sie hatte auch rosa leuchtende 
Wollsocken an. Parallel ereignete sich auf dem Platz Folgendes: Ein Junge wurde, auch 
schreiend, aber eher freudig, von einem Hund an der Leine über den Platz gezerrt, der 
Hund war muskulös, mit schwarz-glänzendem Fell, er hatte es auf diverse 
Taubenschwärme abgesehen. Die Mutter des Jungen hielt sich einen Snack vors Gesicht 
und blieb an ihrem Fleck etwas abseits stehen, ab und zu den Blick in die Richtung 
wendend, in die der Junge gerade gerissen wurde, ihn ermahnend, den Hund auch ja 
nur gut genug fest zu halten. Auch auf dem Platz stand noch ein weiterer Junge, mit 
Schulranzen, er bemerkte, was da hinter ihm so vor sich ging, fing an, sich mit 
besorgter Miene davon zu machen, als er von einem erneuten Ausruf der 
schreiräuspernden Frau wieder gestoppt wird. Er verharrt, sein Blick zum Ausruf am 
Platz weiter oben gerichtet, das Gekreische des Jungen mit Hund im Rücken. 
 
Die schreiende Frau lässt sich nochmal auf einer Bank etwas weiter 
die Königsstraße hoch nieder, auf der Seite gegenüber von ihr ist da ein 
Friseursalon. Vor dem Sitzen zwei junge Frauen und schauen halb in ihre 
Phones und halb lachen sie irritiert die beginnenden Geräusche der Frau von 
sich weg. Ich versink für ein paar Momente in Gedanken darüber, ob und wie
sehr ich eigentlich immer wieder gerne von Leuten, die regelmäßig Beauty 
an sich machen, gemocht werden möchte, bis ich bemerke, dass ich schon einige 
Ecke weiter bin, und über die Schrägdächer und Ziegel der Gütersloher Innenstadt 
hinweg ertönt nun ein richtig Lautes „guck nich‘ so blöd“, dann, ebenso laut, das 
Gelächter der Friseursalonfrauen.

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