Rettung & Güte
26. April 2022
Rettung
1 |
Was mich saved, immer und immer wieder, ist die Musik, und ich hab mich bisher noch nie genug oder eigentlich auch überhaupt dafür erkenntlich gezeigt, finanziell jetzt, bei den Schaffenden. Ich schlaf fast jeden Abend auf der Couch hier zu ihr ein, viel Piano und Streicher derzeit, ist Serienmusik, Bridgerton - Staffel zwei, hatte wieder eine Kostümdrama-Phase gehabt. Auch wichtig ist Kleidung. Vielleicht eigentlich eher der Körper, den sie bedeckt, aber nach ihm Ausschau zu halten, soweit bin ich meistens noch nicht (manchmal aber schon, immerhin). Und so mag ich gerade die Wärme und Weichheit meiner neu bestellten Jogginghose, sie ist aus einem fluffigen rosa Stoff, auf dem Bund steht wieder und wieder POWER geschrieben, sie war 100 % für Damen bestimmt. Ist mir egal oder vielleicht sogar Recht und die größte verfügbare Größe passt gerade so. Ich seh in ihr ein wenig so aus, als hätte ich schon Teile meines Kostüms für Karneval an.
2 |
Mit Kurt und Ami bin ich wieder an der Damisch Pommesbude, sie sind für einen Nachmittag hier aus Köln, und dieses Mal ist nicht die nette Verkäuferin da, sondern ein älterer, großer Herr, der auch die Bude ausfüllt und sich anscheinend eigentlich immer irgendwo abstützen muss. Er hat auf eine selbstverständliche Art und Weise bei der Ausgabe seinen Daumen in meinen Pommes und das fühlt sich dann fast wie eine Form von Respekt an. Ami ermahnt er zur Ruhe, als sie ihn voreilig um die gewünschte Mayo bittet und er hätte es eh schon gemacht, alles zu seiner Zeit. In der nahezu kitschigen Frühlingsanfangssonne kommen wir beim Snacken auf Dating zu sprechen und die beiden meinen, dass ich bestimmt gut im Flirten sei, was mich vielleicht mehr freut, als es sollte. Für sich selber verneinen sie jeweils diese Eigenschaft, aber unter uns, sie sind beide ziemlich charismatische Typen, machen wir uns da mal nichts vor. Vielleicht ist mein Flirt-Game ja auch wirklich okay, aber mein Self-Assessment ist weiterhin, dass ich sehr stark anfange, um dann noch stärker nachzulassen. Fast drei Wochen vor diesem Besuch stand ich eines frühen Abends im Wohnzimmer in der Ellerstraße und ging so extra langsam unter der Luftballongirlande vor und zurück, damit mich einer der Ballons immer ganz knapp am Kopf streichelte, an der Stelle, wo ich schon fast eine Glatze hab. Ich wohn derzeit bei einer Familie, die selber auch beruflich irgendwo anders ist, anscheinend wurde kurz zuvor noch ein Geburtstag gefeiert, ich werd die Girlande auf jeden Fall bis zu meinem Auszug hängen lassen, es ist fast so, als wäre sie für mich eine Art Willkommensgruß gewesen.
3 |
Gerade erklingen wieder die Glocken der katholischen Kirche, wie immer um 18 Uhr, von denen mir Judith vor ein paar Tagen schrieb, dass sie die so mag. Sie schrieb mir auch von den Rettungshubschraubern, die man, von Ihrem Balkon aus, mit großer Wahrscheinlichkeit bei einem gemeinsamen Kaffee einfliegen sehen könnte, auf das Dach des benachbarten Franziskus-Hospitals, aber als wir dann tatsächlich bei ihr Kaffee und Kuchen machen, kommt keiner und sie entschuldigt sich dafür, was natürlich ein bisschen lustig ist. In derselben Nacht oder vielleicht ein, zwei Nächte später, steh ich in der Küche am Kühlschrank für Snacks, als ich schließlich einen einfliegen hör‘, er ist schon weg, bis ich zurück auf der Couch bin. Von dort sehe ich eigentlich immer nur die Weite der schwarzen Nacht, weil das Wohnzimmer seine Fensterseite zum abfallenden Hügel hin hat, auf dem wir alle hier im Bielefelder Westen stehen, und so scheint es meistens, als schwebe man im All, sieht man von den rot leuchtenden Lampen der Baukräne am Franziskus ab. Wenn ich auf der Couch schließlich, zur erwähnten Piano- und Streicher-Musik einschlafe, wach ich meistens eine gute halbe Stunde später wieder auf, mit so einem Gefühl, das mich was an der Kehle hat oder auch, dass da vielleicht etwas an den Fenstern ist. Manchmal putz ich mir dann noch die Zähne, bevor ich im richtigen Bett liege, auf dem Kissen, dessen Geruch ich auch nach Wochen noch nicht identifizieren kann. Nachtrag: Doch, einmal hab ich, vor einigen Jahren, für Musik was bezahlt, für elf Euro hab ich alle damaligen Alben von Terror Pigeon! auf Bandcamp gekauft und dazu noch irgendein Lob beim Kauf hinterlassen. Nachtrag 2: Ich glaube, der Geruch ist sowas wie Kirschkernkissen. Nachtrag 3: Judith hat das Gedicht gelesen und tatsächlich hat sie niemals versprochen gehabt, dass die Hubschrauber aufs Franziskus einfliegen würden, das können sie nämlich gar nicht, da ist kein Landeplatz. Man kann sie allerdings, ab und zu und weiter weg, das Gilead hinter der Sparrenburg ansteuern sehen.
Güte
1 |
Am Fernmeldeturm hört man vor allem mal den Wind, und ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass das die Geräusche von Wind gegen Turm sind. Es klingt, als würde er, der Wind, nie wirklich von ihm ablassen, und kurz wird mir kalt für ihn, den Turm. Vor allem aber ist da dieses Gefühl, dass die Zukunft anscheinend schon angefangen hat. Ein paar Meter den unbefestigten Kammweg wieder zurück stehen zwei ausgewachsene Laster im Matsch, verlegen sowas wie Rohre, auf dem Rückweg komm ich gerade so an ihnen vorbei. Ein beschäftigter Bauarbeiter steht da hinter irgendeinem Aufbau. Vorher step ich, entlang eines abschüssigen Trampelpfads, einmal um den Turm, genauer eigentlich: um seinen Zaun, herum, die Bäume knarzen im Wind, über mir, es nieselt on-off. Vielleicht muss man auch einfach mit Antworten rechnen, wenn man auf der Spitze eines Berges steht. Die letzte Strecke hoch zur Kammspitze war der Boden plötzlich voll von grünem Blattwerk gewesen, und ich stellte eine Verbindung zwischen dem anscheinend schon längst im Gang befindlichen Frühling und dem älteren Mann mit der noch jungen Stimme her. Dieser war den Hang herunter und mir entgegengekommen, mit einer gewissen Skepsis drehte er sich auf meine Ansprache hin zu mir um - wo es zum Fernmeldeturm gehe? Da wurde er ganz nett und erklärte mir ziemlich gekonnt den Weg, gab schnellverständliche Längenangaben und sogar alternative Routen an, und seine Stimme war halt die eines jungen Mannes gewesen, während sein Gesicht sein Gesicht war. In dem saß auch ein Schnäuzer und eine Art-Director Brille, er wirkte tatsächlich, auf eine ruhige Weise, ziemlich bonzig. Zum Abschluss wünschte er mir „viel Erfolg“, ich fand dann alles auch genau so vor, wie er es mir beschrieben hatte, und fragte mich, welche sexuellen Präferenzen er wohl hatte. Später, auf dem Rückweg, den Kamm herunter, kam ich am Tierpark Olderdissen vorbei, der wieder regulär geöffnet hatte. In ihm kein einziger Mensch, also grüßte ich ein paar der größeren Vögel mit dem Victory-Zeichen.
2 |
Die New Balance immer noch matschig von diesem Ausflug zum Turm am Tag zuvor, versuche ich sie nun, möglichst ohne Dreck zu hinterlassen, nach der Behandlung wieder anzuziehen, bei Swetlana, in der medizinischen Fußpflegepraxis Oldentrup. Sie bemerkt mein waghalsiges Spiel allerdings, die bereits verstreuten Krümel, sagt, es sei eh zu spät, und sie müsse den Raum ja sowieso reinigen und ich bin ein bisschen beschämt darüber und beschließe, den Schmutz zu minimieren, indem ich in möglichst langen Schritten wieder nach vorn bis zum Tresen geh und da muss sie dann doch wieder lachen, mein Glück, und gewährt mir sogar noch einen Rabatt. Während der Behandlung hatte ich mitbekommen, wie ein Zehennagelstück beim Clippen an ihre Stirn geschossen war, sie hatte sich davon nicht stören lassen, mich allerdings schon dafür gescholten, dass ich jedem Hautarzt bisher die Befunde des Vorherigen mitgeteilt hatte, so mache man das nicht, die müssten schon selbst erst einmal zu ihren Schlüssen kommen und jetzt leuchtet mir das natürlich alles ein. An meine derzeitige Hautarztpraxis: Bitte vergessen Sie alles, was sie bisher angenommen haben! Auf der Oldentruper Straße, hin und zurück, hebt der Wind übrigens fast die Ampeln an, während ich an ihnen warte, und den ganzen Weg lang, die Wolken am ausladenden Himmel, ändern alle paar Minuten ihr Gesicht. Als ich zurück wieder kurz vorm Dickicht der Waldschneise bei Oldentrup bin, und versuche, mich mit meinem Regenschirm gegen den einsetzenden Hagel zu schützen, sehe ich, weiter hinten, übers letzte Feld, kurz noch den Regio Richtung Hauptbahnhof entschwinden, meine Richtung, fünf Minuten vorher am Gleis war nichts von ihm zu lesen gewesen. Auf dem Hinweg, im einsetzenden Feierabendverkehr, an der Kreuzung Otto-Brenner-Straße, ließ ein Mann seinen kleinen schwarzen Seat im Wind aufheulen, bis er sich vom Ersten in den Zweiten verschaltete, und die Freiheit der Tage schien da kurz greifbar und nah.
3 |
Einen weiteren Tag später probiere ich mich selber mal an sowas wie Diagnose oder auch Ursachenforschung: im Radio kommt, dass Ferrero in Belgien wegen Salmonellen eine Fabrik schließen muss. Nun musste Dunja nur ein paar Tage zuvor ausgerechnet wegen Salmonellen ihren Trip hier her wieder absagen, und ich sims ihr mal meine ermittelten Hinweise. Da bin ich gerade in Gütersloh bei Birkholz, nahe dem ZOB, und versuch außerdem noch, eine Rumkugel (offiziell heißt die Trüffel, weil kein Rum drin ist) mit möglichst kleinen Bissen zu essen, wartend, dass die Nachmittagsvorstellung von Batman beginnt. Das Café der Bäckerei wurde anscheinend mal vor nicht allzu langer Zeit ziemlich dunkel renoviert, mattschwarz die Deckenverkleidungen, die Säulen, dazu wenig Licht. Eigentlich ganz angenehm. Eine Frau in rosa Pantoffeln läuft am Fenster vorbei, die Verkäuferin geht eine Rauchen und berät danach über Produktneuheiten, eine mehrgenerationale Frauengruppe kommt herein, sie scheinen sich auf den Nachmittag hier zu freuen, gegenüber ist ein C&A, die, meines Erachtens, das absolute Endgame im deutschen Bekleidungs-Geschäft darstellen. Aus ihrer SMS ergibt sich, dass Dunja, wie ich, und was ich noch nicht wusste, mehrere Brüder hat und wohl auch excited für den neuen Batman ist, aber das mit den Salmonellen war schon noch eher und weiter das alte Sushi gewesen, und ich war glaub ich auch nicht der Einzige, der mit der Ferrero-These um die Ecke kam. Der Film selber ist dann auch gut, wenn man mal von seiner Weltanschauung absieht. Und ich merke mein eigenes Erwachsen-geworden-Sein daran, dass ich a.) die kurz vor Beginn noch dazugekommenen Kids, in den Sitzen hinter mir, mit ihrem kontinuierlichen Geflüster, eher sweet als nervig finde, b.) das Treten in meinen Sitz ignoriere und c.) dann doch, als es auch noch zu Handy-Geleuchte auf die Leinwand kommt, mal kurz eine Ansage machen muss. Mein Glück ist, dass die beiden gerade noch so jung sind, um auf mich zu hören, auch wenn ich die Zweifel daran dem Lautstärkeren schon anmerke. Zum Schluss bleiben wir alle aber irgendwie trotzdem bis zum Abspannende sitzen und sagen uns sogar noch Tschüss, ich glaube, die zwei hatten gehofft, dass noch irgendwas Lustiges nach den Credits kommt, ich wollte wissen, was das eigentlich für geile Geballer-Lieder in den Clubszenen waren, für die Playlist zum Spülen, Bügeln, Wäschesortieren, vielleicht. Wieder draußen, geh ich in der mittlerweile angebrochenen Abenddämmerung ein bisschen stadtauswärts und zurück, die Zeit bis zum nächsten Zug vertreibend, in diesem Nach-dem-Kino-Gefühl, das sehr gut ist, wenn man alleine sein darf, und treffe wieder auf die ehemals vor sich hin schreiende Frau vom Berliner Platz am Nachmittag*, die mittlerweile aber, im Vorbeigehen zumindest, ziemlich glücklich, vielleicht sogar glücksselig, wirkt. Am Bahnsteig fallen die Züge dann erstmal alle aus, bis eine leise Durchsage kommt: Zugdurchfahrt, und dann fährt auch schon ein ICE mit circa 3.500 Stundenkilometern direkt am Gleis vorbei. Hat was vitalisierendes.
* Nachtrag:
Die schreiende Frau war mir am frühen Nachmittag am Rand vom Berliner Platz aufgefallen, sie hatte, an einer Bank Halt machend, sich immer wieder geräuspert, auf eine Art, die eigentlich schon wie Schreien klang. Eingeschlossen in ihr Räuspern manchmal der Ausruf: „Guck nich‘ so blöd!“ Sie hatte auch rosa leuchtende Wollsocken an. Parallel ereignete sich auf dem Platz Folgendes: Ein Junge wurde, auch schreiend, aber eher freudig, von einem Hund an der Leine über den Platz gezerrt, der Hund war muskulös, mit schwarz-glänzendem Fell, er hatte es auf diverse Taubenschwärme abgesehen. Die Mutter des Jungen hielt sich einen Snack vors Gesicht und blieb an ihrem Fleck etwas abseits stehen, ab und zu den Blick in die Richtung wendend, in die der Junge gerade gerissen wurde, ihn ermahnend, den Hund auch ja nur gut genug fest zu halten. Auch auf dem Platz stand noch ein weiterer Junge, mit Schulranzen, er bemerkte, was da hinter ihm so vor sich ging, fing an, sich mit besorgter Miene davon zu machen, als er von einem erneuten Ausruf der schreiräuspernden Frau wieder gestoppt wird. Er verharrt, sein Blick zum Ausruf am Platz weiter oben gerichtet, das Gekreische des Jungen mit Hund im Rücken. Die schreiende Frau lässt sich nochmal auf einer Bank etwas weiter die Königsstraße hoch nieder, auf der Seite gegenüber von ihr ist da ein Friseursalon. Vor dem Sitzen zwei junge Frauen und schauen halb in ihre Phones und halb lachen sie irritiert die beginnenden Geräusche der Frau von sich weg. Ich versink für ein paar Momente in Gedanken darüber, ob und wie sehr ich eigentlich immer wieder gerne von Leuten, die regelmäßig Beauty an sich machen, gemocht werden möchte, bis ich bemerke, dass ich schon einige Ecke weiter bin, und über die Schrägdächer und Ziegel der Gütersloher Innenstadt hinweg ertönt nun ein richtig Lautes „guck nich‘ so blöd“, dann, ebenso laut, das Gelächter der Friseursalonfrauen.